Zuletzt aktualisiert am 30. April 2018 von Ulrich Würdemann
September 1990. Auf dem Rückweg aus dem Urlaub an Frankreichs Stränden verbringen wir wieder einige Tage bei Jean-Philippe und Syriac. Heute ist unser letzter Tag in Paris, morgen geht es zurück nach Köln. Spazieren gehen in der Stadt, dann mit Frank in die Sauna, in die ‚Conti‘, die ‚Continental Opéra‘. Noch ein wenig Spaß, bevor bald wieder die Arbeit losgeht.
Nachmittags rufe ich Jean-Philippe aus der Sauna an. Schon nach einigen Sätzen gibt er an Syriac weiter. Zu müde, er will noch schlafen. Ich solle mit Syriac absprechen, wann und wo wir uns heute Abend treffen.
Der ist gut gelaunt und aufgeweckt wie fast immer. Er habe da eine Idee, eine schöne Brasserie, leckeres Essen. Ob uns das recht sei? Frank nickt, als ich ihm kurz erzähle. Brasserie, ja, das klingt gut. Brasserien haben meist gutes Essen, sind dabei aber einfacher eingerichtet und preisgünstig. Ich notiere mir den Namen, Adresse und Wegbeschreibung. Direkt gegenüber der Börse, es sei kaum zu verfehlen. Um 8 Uhr könnten wir uns ja dort vor dem Eingang treffen.
Zwei oder drei Stunden später. Von der ‚Conti‘ ist es nicht all zu weit bis zur Börse, wir haben noch Zeit, gehen zu Fuß. Dennoch werden wir wohl zu früh da sein, und überhaupt, pünktlich werden Jean-Philippe und Syriac vermutlich eh‘ nicht sein.
Gut gelaunt verlassen wir die Sauna, stromern langsam durch die Straßen, grob Richtung Börse. Statt leidlich bürgerlich zu bleiben wie um die Sauna herum, zeigen die Nebenstraßen, Autos, die wenigen Fußgänger immer mehr distinguierte Vornehmheit, je näher wir der Börse kommen. ‚Kannst du dir vorstellen, dass hier eine günstige Brasserie sein soll?‘, fragt Frank unterwegs ein wenig irritiert. Nein, eigentlich nicht, dazu sieht es in diesem Viertel doch zu chic aus.
Etwas zu früh kommen wir dort an, wo die Brasserie sein müsste. Die Szenerie mutet uns ein wenig bizarr an. Immerhin, wir haben doch Spätsommer, was machen all die wohlgekleideten Damen im Pelz hier? Und dazu dicke Limousinen, aus denen gern Herren im zurückhaltend modernen Anzug steigen. Man zeigt sich, grüßt und wird begrüßt. Nein, irgendwie müssen wir uns verlaufen haben, das hier kann nicht die Brasserie sein, und das hier ist definitiv nicht unsere Welt.
Nur seltsam, dass dieses große luxuriöse Restaurant doch den gleichen Titel trägt, ‚Le Vaudeville‘. Vorne am Eingang, die Tür wird von einem Ober geöffnet, dahinter wird den Gästen die Garderobe abgenommen. Irgendwas läuft hier seltsam. Sollten wir hier doch richtig sein? Aber dann hätte Syriac doch sicher vorher etwas gesagt. Schließlich, Frank in seiner zerrissenen Jeans, wir beide nur mit T-Shirt und Jacke, alles nach dem Urlaub nicht gerade frisch und sauber – hier sind wir deplaziert, hier kommen wir nicht einmal am Entrée vorbei.
Schon steuert grinsend Syriac auf uns zu, „ach wie schön, ihr seid ja pünktlich da! Jean-Philippe kommt gleich, ist so schwierig hier einen Parkplatz zu finden.“
Erstaunt sehen Frank und ich erst einander, dann Syriac an. Wir sind hier doch richtig? Wie soll das gehen, in den Klamotten, und, nebenbei, mit der Geldbörse? Das hier dürfte schließlich nicht unsere Preisklasse sein. Doch Syriac ignoriert unseren irritierten Blick, steuert zielsicher auf den Eingang zu, „wir gehen schon mal rein“, sagt er mehr als dass er fragt, ist schon am Entree.
Wie belämmert folgen Frank und ich. Was mag nun geschehen, zwei Jeans-Boys aus Deutschland neben all den aufgehübschten edlen Pelzträgerinnen?
„Sie haben reserviert? Ah ja, ich sehe, Ja Monsieur E., 5 Personen. Leider, ich bitte das vielmals zu entschuldigen, Ihr Tisch ist noch nicht frei. Vielleicht möchten Sie und Ihre Gäste schon einmal Ihre Garderobe ablegen? Und wegen der Unannehmlichkeit des Wartens, darf ich Sie auf Kosten des Hauses auf ein Glas Champagner einladen?“
So kann ein Restaurant-Besuch auch beginnen, nun sind wir erst recht irritiert. Unsere arg unpassende Kleidung völlig ignorierend, werden wir wie selbstverständlich mit einer versnobt-gelassenenen Aufmerksamkeit und Höflichkeit behandelt, die mir in Deutschland kaum bisher begegnet ist.
Endlich, als gerade die Champagnergläser zum ChinChin klirren, kommt auch Jean-Philippe. Ein wenig mürrisch dreinschauend, „ich musste dreimal um den Block fahren, c’est un bordel, kein Parkplatz zu finden hier!“. Schließlich doch ein Lächeln, er nimmt mich in den Arm, küsst mich, schaut mir in die Augen wie lange nicht mehr. „Tisch noch nicht frei?“
Ein wenig Plauderei, bald ist unser Tisch frei, wir werden platziert. Frank hat unterdessen schon die Speisekarte studiert, kommt mit einem „oh, ich weiß schon was ich essen werde“ freudig strahlend zurück. Ich kenne diesen Blick, dieses „ich weiss schon“, das bedeutet „Schatz, ich möchte die Austern“. Verstohlen fragt er mich „Schatz, du hast doch deine Kreditkarte mit?“ Ich nicke unauffällig und denke sorgenvoll an unseren Kontostand.
Wir haben längst gewählt, nein, besser, wir haben weitgehend Syriac für uns entscheiden lasse, bis auf Frank, der unbedingt ‚überbackene Austern an Spinat mit Champagner‘ probieren möchte.
Jean-Philippe kann sich nicht entscheiden, ist nörgelig, „was soll ich denn nehmen, groß ist die Auswahl hier ja nicht …“. Dies schmeckt ihm nicht, jenes bekommt ihm nicht. Spannung liegt in der Luft, aus flüchtigen Bemerkungen zwischen den beiden schließe ich, dass es auf der Fahrt hierher wieder einmal Streit gegeben haben muss.
Syriac ist wie fast immer ein guter Gastgeber, wir haben einen amüsanten Abend, einzig beeinträchtigt von einem zunehmend zickiger werdenden Jean-Philippe. Bald haben wir unser anfängliches Gefühl von Irritation, Deplaziertheit angesichts Ort und Publikum völlig vergessen, fühlen uns wohl und fast ein wenig zu hause, so locker und ungezwungen ist die Atmosphäre. Das da drüben, zwei Tische weiter, sei der bekannte Rennfahrer, streut Syriac nebenbei in die Unterhaltung ein. Der sei auch nur hier, weil die Austern so gut seien. Was wir, überbacken oder roh, nun nicht bestreiten können.
Jean-Philippe beteiligt sich nur wenig an der Unterhaltung. Ich bemerke, wie er sich immer weiter in sich zurück zieht. Zu gern möchte ich neben ihm sitzen, ihn in den Arm nehmen. Allein, in dieser Konstellation, an diesem Ort, unmöglich. Ich versuche ihm mit Blicken Wärme zu geben.
Die Stimmung zwischen ihm und Syriac kocht unterdessen langsam aber stetig hoch, zunehmend verzickt und abweisend reagiert Jean-Philippe auf jeglichen noch so liebenswerten Versuch Syriacs, die Situation, nein seine Laune ins Bessere zu wenden.
Als die Situation zu eskalieren droht, herrscht Syriac in leise aber deutlich an. „Nun reiß dich bitte zusammen, es ist doch der letzte Tag“, er blickt Jean-Philippe in selten gesehener Strenge an. Ja, schade dass der letzte Abend unseres Urlaubs, der Besuch in diesem für uns außerordentlichen Restaurant etwas anstrengend verläuft, Jean-Philippe so gar nicht entspannt ist. Nun denn, ich kenne ihn ja, so ist er halt manchmal,.
Unvermittelt steht Jean-Philippe auf, ruhig und beherrscht, aber sichtlich erschöpft und genervt. „Ich fahr schon mal nach hause. Nehmt ihr euch nachher ein Taxi?“
Syriac nickt, ein flüchtiger Kuss, ein „ciao Jungs, wir sehen uns morgen früh noch?“, schon ist Jean-Philippe verschwunden.
Der Abend geht locker und deutlich entspannter weiter, Syriac bleibt gut aufgelegt als wäre nichts geschehen. Irgendwann weit nach dem Dessert kommt dezent auf seine Frage ein Tellerchen mit der Rechnung, die er fast unbemerkt mit der Karte begleicht. Kein Protest hilft, nicht einmal die Summe mag er verraten, nein, wir seien eingeladen, dies sei doch der letzte Urlaubstag, das müsse man feiern. Immerhin, auf ein Glas im ‚Piano Zinc‚, einer unserer gemeinsamen Lieblingsbars dürfen wir ihn hinterher noch einladen.
Spät nachts kommen wir heim; Jean-Philippe schläft längst. Was für ein schöner, überraschender Abend. Ein Abend, an den wir wohl noch lange denken werden. Müde und mit dem Gefühl ’schade dass wir morgen fahren müssen‘ schlafen Frank und ich ein.
Am nächsten Morgen, nicht zu spät aufstehen, schließlich wollen wir am Nachmittag zurück in Köln sein. Gegen 10 Uhr, die Taschen sind schon gepackt, frühstücken wir gemeinsam. Jean-Philippe sieht eingefallen und müde aus. Ich frage nicht nach, auch nicht nach dem Streit gestern Abend. Syriac ist munter und gut gelaunt wie fast immer, Jean-Philippe zwar noch ein wenig knurrend aber doch besserer Stimmung als am Vorabend. Außer einem ‚habt ihr gut geschlafen‘ erwähnt auch er den Abend und sein frühzeitiges Verschwinden mit keinem Wort.
Kurz vor 12 verabschieden wir uns. Ein herzliches in den Arm Nehmen, ein von einem Zwinkern begleitetes ‚Danke für den schönen Abend‘, ein Kuss zum Abschied.
„Ich bin sehr erschöpft, seid mir bitte nicht böse, wenn ich nicht mit hinunter kommen. Ich bin sehr müde, möchte mich noch etwas hinlegen.“
Wir nehmen uns noch einmal in die Arme, „bis bald, mein Lieber“ – „Pass auf dich auf“ – „Ruft an, wenn ihr in Köln angekommen seid, ja?“.
Immer wieder berührt es mich, ihn sagen zu hören ‚Pass auf dich auf‘. Ein letzter Kuss, wir müssen los, müssen beide morgen schon wieder arbeiten.
Syriac begleitet uns im Lift in die Tiefgarage, hilft uns beim Einladen. Öffnet das Tor, ein letzter Kuss auf die Wangen.
Oben an der Ausfahrt, im Hintergrund ist schon das große PCF-Gebäude an der ‚Place Colonel Fabien‘ zu sehen. Wir blicken noch einmal zurück, sehen Jean-Philippe winkend auf dem Balkon stehen. Winken zurück, ich sehe wie er ‚danke‘ gestikuliert, werfe ihm einen Kuss zu. Dann mal los, Richtung Autobahn.
~
Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?
10 Antworten auf „Einige Tage mit dir – 6. Le Vaudeville“
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[…] Die ‘Brasserie Le Vaudeville’. “Gehen wir heute Abend noch was zusammen essen“, fragte Syriac am Telefon. Ja, gerne doch. Brasserie is ja was Einfacheres als ein Restaurant, denken wir in unserer Naivität. In alter Jeans und T-Shirt stehen Frank und Ulli vor dieser ‘Brasserie’ nahe der Börse. Vor der dicke Limousinen parken, die Damen im Sommer Pelz tragen, und wir als erstes ein Glas Champagner bekommen, weil der Tisch noch nicht frei ist. Leckeres Essen, entspannte Atmosphäre außer einem Jean-Philippe, der ziemlich zickig und schlecht gelaunt ist. Jacky Ickx am Nachbartisch. Ein schöner Abend. Unser letzter gemeinsamer Abend. Der Abschied am nächsten Morgen, der Blick in deine Augen, ein letztes Lächeln aus erschöpften liebevollen Augen. Der letzte Blick. […]
[…] Ein Viertel Jahrhundert. 25 Jahre, seit ich dich zuletzt gesehen habe. Damals, der Abend im ‚Vaudeville‚, der Aufbruch am Morgen […]
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