Zuletzt aktualisiert am 21. März 2024 von Ulrich Würdemann
Prof. Julian Nida-Rümelin hielt am 19. Juni 2008 den Eröffnungsvortrag der „Ethik-Konferenz – HIV/Aids: Ethische Perspektiven“ unter dem Titel „Die Freiheit des Einzelnen und das Interesse der Gesellschaft“.
Nida-Rümelin, Ordinarius für Politische Theorie und Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München, beschäftigte sich auf allgemeiner Ebene mit der Frage, welche moralischen Pflichten und Rechte durch HIV und Aids tangiert sind, und wie Freiheit des Einzelnen und Interessen der Gesellschaft aus dem erwachsenden Spannungsverhältnis heraus in Einklang zu bringen seien.
Nida-Rümelin konstatierte zu Eingang seines Beitrags, „die moderne Gesellschaft und die Demokratie als die ihr angemessene Staatsform beruhen auf einem Ethos, das individuelle Freiheit mit gleicher Anerkennung (gleicher Würde) verbindet.“ Wir leben in einer demokratisch liberal verfassten Gesellschaft – aber wie sind ihre einzelnen Elemente immer wieder neu stimmig zu machen?
Die moderne Gesellschaft beginne in dem Augenblick, da alle Legitimation auf das Individuum zurückgeführt wird. Allerdings – was ist dieses ‚individuelle Wohl‘, und was das ‚Gemeinwohl‘?
Neben der hedonistischen Sichtweise auf individueller Ebene (‚der Mensch sucht Lust, meidet Leid‘) sei hier auf gesellschaftlicher Ebene heute vor allem die utilitaristische Sichtweise von Bedeutung: das Wohl der Gemeinschaft ergebe sich als die Summe dieser einzelnen Wohlergehen, Ziel müsse es also sein, die Nutzensumme zu optimieren.
Diese utilitaristische Sichtweise erscheine zwar vorderhin schnell als modern in dem Sinn, dass sie alle Legitimation aus dem Wohlergehen des Einzelnen ableite. Sie berge aber die Gefahr, letztlich doch in Widerspruch mit der Freiheit des Individuums zu geraten. [vgl. auch Freiheits-Begriff bei Hannah Arendt]
Diese Gefährdung individueller Freiheit durch die utilitaristische Sichtweise versuchte Nida-Rümelin über drei Gedankengänge zu skizzieren und begründen:
1. „Unser Verständnis von individueller Freiheit umfasst Grundrechte (Menschen-, Bürgerrechte), die um anderer Zwecke willen nicht zur Verfügung stehen.“ Eine Optimierung der Nutzen-Summe aller müssen mit diesen individuellen Grundrechten letztlich immer in Konflikt geraten.
Nida-Rümelin wies hierzu auf das Theorem des ‚Liberalen Paradoxon‚ hin: es gibt keine Möglichkeit, individuelle Wünsche zu kollektivieren, die simultan beide Bedingungen erfüllt: eine Pareto-Effizienz und Freiheit.
Diesen tiefliegenden logischen Konflikt habe unser ‚Alltags-Ethos‘ vorweg genommen, indem es vieles der kollektiven Entscheidung entziehe (z.B. mit der ‚Privatsphäre‘).
Mit diesem Spannungsverhältnis zwischen Effizienz und Freiheit umgehen zu lernen sei eine der Herausforderungen moderner Gesellschaften. Eine mögliche Lösung sehe er darin, „immer wieder Bereiche abzustecken, die dem Kollektiven entzogen sind und bleiben – letztlich auch eine Trennung von Öffentlichem und Privatem.“
2. Die Bedrohung der personalen Integrität durch ethische Forderungen. Eine Person, die ihre gesamte Lebenspraxis einzig daran orientiere, was dem Gemeinwohl nutze (und sich somit nach utilitaristischer Sichtweise ideal verhalte), könne diese Person überhaupt noch eigene Projekte verwirklichen, die ihrem persönlichen Leben Sinn geben?
Nida-Rümelin sieht einen potentiellen Konflikt zwischen der Rücksichtnahme auf und Orientierung am Gemeinwohl einerseits und dem für die Persönlichkeit Wesentlichen, dem was dem eigenen Leben Sinn, Struktur, Inhalt verleihe. Diesen potenziellen Widerspruch aufzulösen, dazu bedürfe es eines humanen Umgangs mit beidem – „wir verfolgen eigene Projekte in den Grenzen, die gesteckt sind durch die Gemeinwohl-Orientierung“. Hier gelte es, den „gleichen Respekt vor der Autonomie jeder einzelnen Person“ zu wahren – immer wenn damit ein Konflikt auftrete, sei eine Grenze für ein persönliches Projekt erreicht.
3. Separateness of Powers. Gerechtigkeit sei eine für unser Leben ganz wesentliche Perspektive (im Sinn eines gemeinsamen Gerechtigkeits-Sinns). Diese dürfe nicht instrumentalisiert werden. Vielmehr gelte es anzuerkennen, dass jeder Mensch nur sein Leben habe. Das Lebensglück des einen Menschen lässt sich nicht mit dem Lebensglück eines anderen verrechnen.
Nida-Rümelin verwies in diesem Kontext auf die Notwendigkeit, Autarkie und Autonomie zu unterscheiden
Autarkie bedeute „es können nicht andere über mich entscheiden“ (ex negativo). Autonomie demgegenüber betrachte nicht ex negativo, sondern sage „es gibt einen, der das Gesetz eines Handelns gibt – und das bin ich“ [auch in der Bedeutung, s.o. bei Persönlichkeit, dem eigenen Leben Sinn, Bestand, Struktur zu geben]. Zur Autarkie gehöre, dass jede Person über sich verfügen könne – im Extremfall bis zur Selbsttötung.
In letzter Instanz bin es ich selbst, der autark entscheidet – aber als autonome Person, die langfristige Strukturen in ihrem Leben lebt.
Kerngedanke des Sozialstaats müsse es demnach sein, Autonomie zu sichern.
Und wie stehe es nun mit der Freiheit des Einzelnen und dem Interesse der Gesellschaft?
Die Verantwortung des Einzelnen besteht darin, dass wir in letzter Instanz immer selbst entscheiden. Die Herausforderung einer modernen Gesellschaft besteht darin, nicht nur die ‚Sorge um sich selbst‘ lebbar zu machen, sondern auch die ‚Sorge um die Autonomie jedes einzelnen Menschen‘.
Literatur-Tipp:
Julian Nida-Rümelin
„Handbuch angewandte Ethik“
Gröner Verlag 2005
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Text 15. März 2017 von ondamaris auf 2mecs