Zuletzt aktualisiert am 30. November 2022 von Ulrich Würdemann
Leben mit HIV ist ein einziges riesiges Experiment. Eines, an dem Positive mittendrin teilnehmen. Als Studienobjekte und -subjekte, ungefragt und unfreiwillig, qua Überleben, und mit Nutzen. Einige Nachdenklichkeiten.
Beim morgendlichen Scan der zahlreichen Feeds bleibt das Auge hängen an einer kleinen Notiz, kaum mehr als einem Link auf einen Fachartikel, der sich mit einem möglichen Zusammenhang von HIV, Medikamenten und Ptosis beschäftigt.
Ptosis?
Ich werde stutzig. Erinnere mich.
Vor einigen Jahren. Etwas irritiert sitze ich bei meiner Augenärztin, berichte ihr von dem Gefühl, im Alltag schlechter sehen zu können als früher. Augenuntersuchungen zeigen keine Beeinträchtigungen. Einige Monate später, inzwischen ist dem Mann des öfteren aufgefallen „du siehst abends immer so müde um die Augen aus“. Erneut einen Termin bei der Augenärztin machen. Als es soweit ist, fällt auch ihr auf, dass beide Lider sehr tief hängen, bei einem Auge das Lid schon die Pupille beinahe zur Hälfte überdeckt.
Zahlreiche Untersuchungen folgen, Diagnose Ptosis, schließlich drei Operationen in einer renommierten Augenklinik. Degenerierte verfettete Lidheber-Muskeln (Levatoren), wird bei den Operationen festgestellt.
Nein, einen möglichen Zusammenhang mit HIV oder den Medikamenten sehe er nicht. Davon habe er auch noch nie gehört, antwortet der Professor, der mich operiert hat, auf meine Fragen. Auch die Augenärztin, seit vielen Jahren sehr erfahren in Sachen HIV-Patienten, sieht keinen Zusammenhang. Ja, das mit den degenerierten Muskeln, der Verfettung, das sei schon seltsam, und sehr ungewöhnlich in diesem Alter – aber die Verbindungen die ich zu Lipodystrohie und Fettumverteilungsstörungen sehe, da sei ihr nichts von einem möglichen Zusammenhang bekannt. Wahrscheinlich bin ich wieder zu hellhörig, bringe zu viel direkt mit HIV und den Medikamenten in Zusammenhang, denke ich.
Und nun, im Herbst 2008, nur wenige Jahre nach diesem ‚Erlebnis‘, lese ich mehr per Zufall diesen Report, der einen Zusammenhang zwischen genau dieser Art von Ptosis und der Einnahme von HIV-Medikamenten über einen langen Zeitraum herstellt.
Da ist es wieder, dieses Gefühl, Teil eines Experiments zu sein. Versuchskaninchen. Studieren, Erfahrungen sammeln am lebenden Objekt. Was anderes heißt es, lange mit HIV, mit HIV-Medikamenten zu leben, zu überleben?
Es waren HIV-Positive, die erstmals über seltsame Körper-Veränderungen berichteten. Die Stiernacken, abgemagerte Arme und Beine, dicker werdende Bäuche immer wieder thematisierten, dem Bauch schließlich gar den Namen ‚Crix-Belly‘ gaben und damit klar zum Ausdruck brachten, wo sie den Verursacher vermuteten.
Es dauerte lange, bis diese körperlichen Veränderungen von behandelnden Ärzten, später auch von forschenden Klinikern ernst genommen wurden. Noch ein wenig länger, bis das, was Positive zunächst nur vereinzelt wahrnahmen, irgendwann als Syndrom erkannt wurde, den Namen ‚Lipodystrophie-Syndrom‘ bekam.
Im Verlauf der inzwischen 25jährigen Geschichte von Aids waren es schon häufiger zuerst Betroffene, Patienten, Positive (je nach bevorzugtem Sprachgebrauch und Blickwinkel), die auf ungewöhnliche Effekte, seltsame Nebenwirkungen, neuartige Erkrankungen aufmerksam machten. Und die darauf drangen, dringen mussten (weil es sonst niemand tat), diese Symptome ernst zu nehmen.
Und es waren und sind besonders die HIV-Positiven der ersten Generationen, die zuerst diese seltsamen Effekte bemerken, an sich selbst feststellen – lange bevor sie häufiger auftreten, zu einem auch von der Fachöffentlichkeit anerkannten Bild werden. Bei denen Langzeit-Folgen oftmals einfach zeitbedingt am frühesten, am häufigsten, am intensivsten auftreten.
Leben mit HIV, Leben mit Aids-Medikamenten – das ist ein Experiment, ein derzeit laufendes Experiment, mit HIV-Positiven als Teilnehmer. Unser Leben, unser Leben mit HIV, unser Leben mit Aids-Medikamenten ist das Experiment.
Das ist weniger spektakulär, als es zunächst klingen mag.
Denn – es waren HIV-Positive, die -zu Recht- damals darauf drangen, dass die ersten Aids-Medikamente schnell zugelassen, schnell in der Praxis verfügbar wurden.
Und es liegt im Wesen von Nebenwirkungen, dass sie teils sehr selten und damit u.U. spät auftreten. Es liegt im Wesen von Langzeit-Nebenwirkungen, dass sie erst nach vielen Jahren oder bei bestimmten Kombinationen von Faktoren und Ereignissen auftreten.
Also – dieses Gefühl, Teil eines Experiments, einer Studie am lebenden Objekt zu sein, ist nicht sehr spektakulär. Aber es ist gelegentlich doch sehr erschreckend.
Und es ist gelegentlich ermüdend, sich immer wieder -freiwillig, und mit Nutzen- wie ein Versuchskaninchen zu fühlen, zudem wie eines, das vom Medizinsystem selbst nicht immer ernst genommen wird 😉
Ach ja, und die Ptosis?
Die Autoren kommen zu dem Schluss
„We report the novel findings of blepharoptosis and external ophthalmoplegia in patients who are receiving ART. Ptosis was preceded by lipodystrophy with long-term use of both thymidine-analogue– and protease inhibitor–containing ART. The findings are most consistent with myogenic ptosis in a generalized mitochondrial myopathy syndrome. Clinicians should also be watchful for other potential myopathic ptosis-associated complications, including proximal weakness, dysphagia, deafness, and cardiac conduction disturbances.“
Scott Baltic: Long-Term HIV Therapy Can Cause Ophthalmologic Problems (medscape, kostenlose Registrierung erforderlich)
Blepharoptosis and External Ophthalmoplegia Associated with Long Term Antiretroviral Therapy (ClinInfDis)
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Text 15. März 2017 von ondamaris auf 2mecs