Zuletzt aktualisiert am 17. Dezember 2024 von Ulrich Würdemann
Das Tuntenhaus Berlin Bülowstrasse war das erste der drei Berliner Tuntenhäuser. Es bestand von 1981 bis 1983.
Am 12. Februar 1981 besetzten mehrere Menschen ein Hinterhaus in Berlin Schöneberg in der Bülowstrasse 55 (bald bekannt als ‚B55‘) – das erste Tuntenhaus Berlin. Im damaligen Sanierungsgebiet Bülowstrasse waren Anfang der 1980er Jahre zahlreiche Häuser besetzt worden (zeitweise 7).
„Angefangen hatte alles wie in jedem besetzten Haus: Zuerst wurden gerade zwei Räume bewohnt (Küche und Schlafraum). Doch man machte sich daran, die Wohnqualität schnell zu heben. Während jeder seinen eigenen späteren Wohnraum irgendwo im vierstöckigen Haus renovierte, kümmerte man sich zusammen um die Einrichtung der Gemeinschaftsräume: Wohnküche, Bad unterm Dach, Waschraum, Werkzeug- und Tagungsraum wurden hergerichtet. Im Sommer war in allen Stockwerken des Hauses, das der Wohnungsbaukonzern Neue Heimat zwei Jahre leerstehen hatte lassen, Leben. …
Andreas Salmen rückblickend 1986 (in: Rosa Flieder Nr. 45, Februar / März 1986)
Im Jahr 82 begann man sich auch immer stärker nach außen zu orientieren. In mehreren schwulen Zeitungen wurden Artikel über das Tuntenhaus und seine Bewohner veröffentlicht, Teile des WDR-Schwulenfilms „Anderssein“ von Rudi Finkler bei uns gedreht. Lutz und Bernd drehten sogar einen eigenen Video über das Zusammenleben.“
Unter den Besetzern von Beginn an auch Schwule (begonnen haben soll es mit ‚5 beherzten Tunten‘, so Torso, denen bald weitere 30 folgten), die im zweiten Hinterhaus des Gebäudekomplexes das Tuntenhaus etablierten:
„Berliner Tunten halten seit über einem Jahr ein Haus besetzt – sie sind gesetzestreu und anarchistisch“
Torso Nr. 1, Mai / Juni 1982
„In keiner anderen Stadt war vorher das Konzept eines besetzten Hauses nur für Schwule so konsequent umgesetzt worden.“
etuxx ‚Tuntenhaus Bülowstrasse – Berlin in den 80gern‘
Der gesamte Komplex wurde weitgehend in Eigenleistung instandbesetzt:
„Das Haus Bülowestr. 55 besteht aus einem Vorderhaus, vier Seitenflügeln und drei Quergebäuden und hat 3 Hinterhöfe. Es wird von 10 Wohngruppen bewohnt, die das Ziel haben, selbstbestimmt und selbstverwaltet das Haus als billigen Wohnraum zu erhalten. … Die ehemals als Wohnraum genutzte Fläche des Hauses betrug ungefähr 6.500 m².“
‚Bülowstr. 55‘ in: ‚Unsere neue Heimat – Konzepte für eine friedliche Lösung‘, Herausgegeben von den Besetzern der 29 Neue-Heimat-Häuser und dem Verein zur Förderung selbstverwalteten Wohnens, FSW e.V.‘, Berlin Oktober 1982
Das Tuntenhaus im 2. Hinterhaus der Bülowstrasse 55 bewohnten überwiegend schwule Männer, in mehreren Wohngemeinschaften. Die Gruppe wies eine gewisse „Einheitlichkeit [auf], was Bildungsprivilegien und Mittelklasse-Herkunft angeht“ (Torso), oder (wie etuxx notierte) „meist bildungsprivilegierte Studenten die gerade ihr Coming-Out hinter sich hatten“.
„Die meisten hatten gerade ihr Coming-out hinter sich, waren um die zwanzig und das Tuntenhaus ihre erste schwulenpolitische Aktivität. Man war politisiert, aber im Vordergrund stand das Zusammenleben mit vielen anderen Schwulen.“
Andreas Salmen rückblickend 1986 (in: Rosa Flieder Nr. 45, Februar / März 1986)
„Vorübergehend wohnten hier auch drei Lesben, die sind aber in der hektischen Anfangsphase bald wieder ausgezogen. Wir alle fänden es aber gut, wenn hier wieder Lesben einziehen würden.“
‚Andreas‘ zitiert in ‚Nicht schöner, sondern wärmer wohnen‘, in Torso Nr. 1, Mai / Juni 192
Im Tuntenhaus Berlin Bülowstrasse traf sich das ‚Treffen Berliner Schwulengruppen‘; der schwule Buchladen Prinz Eisenherz übernahm eine Patenschaft, genauso der Filmemacher Rosa von Praunheim. Der Film ‚Bekenntnis zum Anderssein – Homosexuelle Jugendliche und ihre Eltern‘ von Rudi Finkler und Lucas Maria Böhner (für den HR, 1983) entstand teilweise hier.
Im Laufe der Zeit verschärften sich Spannungen, sowohl zwischen einzelnen Gruppen von Besetzer*innen des Gesamtkomplexes (‚Aufgang 5‘ soll berüchtigt gewesen sein) als auch später innerhalb des Tuntenhauses (Diebstähle).
Die Neue Heimat als Besitzer des Komplexes wie zahlreicher weiterer in dem Gebiet verhandelte mit den Besetzer*innen über mögliche Nutzungskonzepte. Allerdings wurden zahlreiche Objekte auf Drängen des Berliner Senats aussortiert als ‚keine Aussicht auf Vertragsabschluss‘.
Der Abriss der ‚B55‘ erwies sich zudem bald als unnötig, da die ursprüngliche Planung einer Schnellstrasse (Stadtautobahn) aufgegeben wurde. Die Besetzer*innen hatten inzwischen einen ‚Verein zur Förderung neuer Lebens- und Arbeitsformen in der Bülowstraße 55 e. V.‘ gegründet.
Es half nichts.
Das Tuntenhaus Berlin Bülowstrasse wurde am 20. Dezember 1983 geräumt. Ein Teil des Gebäudekomplexes wurde abgerissen.
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2 Antworten auf „Tuntenhaus Berlin Bülowstrasse (1981 – 1983)“
[…] aus dem Umfeld des früheren Tuntenhauses (genauer: des zweiten Tuntenhauses Mainzer Strasse, das erste Tuntenhaus Berlin war Anfang der 1980er in der Bülowstrasse; vgl. u.a. Andreas Salmen). […]
[…] gehörte 1981 zu den Mitbesetzern und Mitbegründern des Tuntenhauses in der Berliner Bülowstr. 55 (1981–1983). Es war ds ersten in einer Reihe weiterer Häuser in Berlin (Mainzer Straße und Kastanienallee) […]