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Nachdenkliches

Noch kein Herbst

Zuletzt aktualisiert am 13. August 2020 von Ulrich Würdemann

Das Jahr 2007 hat also begonnen, ist inzwischen schon gut drei Tage alt.
Das ‚alte‘ Jahr verabschiedete sich bei mir u.a. mit „Grünkohl afrikanische Art“ [dazu vielleicht später einmal mehr], das ’neue‘ begann mit leckerem polnischem Bier.

Kalle weist mich bloggend darauf hin, dass 2007 (ab dem 18. Februar) nach chinesischem Kalender das Jahr des Schweins sei. Was soll mir das sagen? Ich sehe es als gutes Zeichen – schließlich bin ich auch in einem Jahr des Schweins geboren…

2007 ist aber auch das Jahr, in dem sich der Herbst zum 30. Mal jährt, der ‚Deutsche Herbst‘. Welch seltsamer Zufall, dass eines meiner Weihnachtsgeschenke (ungewünscht, aber sehr begrüßt) „Die Dritte Generation“ (Fassbinder) ist.

Vor 30 Jahren: Deutschland im Herbst
Deutschland im Herbst‘, eigentlich war es der Titel eines Films von 1978 – und wurde auch zum Syn­onym für einen ganzen Abschnitt jüngerer BRD-Geschichte.

Deutschland im Herbst – ich war gerade 18 geworden, begann mich aktiv für Politik zu interessieren. Die Jahre vor diesem Herbst waren eh schon nicht mehr von Visionen und Aufbruch der ersten Brandt-Jahre gekennzeichnet, vielmehr von ökonomischen Problemen, Ölkrisen und Schmidt’schem Krisenmanagement geprägt. Dann dieser Herbst 1977 und die folgenden Monate. Wie viele andere auch bekam ich das Gefühl, jetzt kippt dieses Land, jetzt geht es wieder los mit Repression, mit „auf welcher Seite stehst du“, mit schwarz-weiß-Malerei statt (gerade erst beginnender) bunter Vielfalt.

Terroristen der (u.a. von Andreas Baader und Ulrike Meinhof gegründeten) Rote Armee Fraktion (RAF) hatten am 5.9.1977 in Köln den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer entführt, um ihn ge­gen die inhaftierte ‚erste Generation’ der RAF auszutauschen. Die Bun­desregierung unter Helmut Schmidt etablierte eine Politik des Nicht-Nach­gebens (‚Mit Terroristen ist nicht zu verhandeln’). Mit der RAF verbündete Kämpfer der PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) entführten darauf­hin, um den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen, die Lufthansa-Maschine ‚Landshut’.
Am 18.10.1977 stürmte eine Spezial­einheit des BGS, die GSG9, die Maschine, befreite alle Geiseln. Drei der vier Terroristen wurden dabei getötet. Als Reaktion erschossen die RAF-Entführer Hanns-Martin Schleyer. Zur gleichen Zeit starben die in Stutt­gart-Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Vielfach wurde behauptet, bei den Todesfällen habe es sich um Exekutionen seitens des Staates gehandelt. Offizielle Untersuchungs- Kommissionen kamen zu einem gegenteiligen Schluss, Zweifel blieben bestehen.

Die Zeit dieser Vorgänge und die Jahre danach waren in der BRD gekenn­zeichnet von einer politischen Hysterie, die besonders von Presseorganen des Springer-Verlags kontinuierlich geschürt wurde. Der Staat reagierte mit bisher unbekannter Aufrüstung, mit Rasterfahndung, unerbittlicher Härte.
Der CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß bezeichnete die Schriftsteller Heinrich Böll und Günther Grass als ‚Ratten und Schmeißfliegen’.
Sobald sie auch nur einen beson­nenen Umgang mit der Situation forderten, wurden viele Linke, aber auch Liberale als Sympathisanten oder Unterstützer von Terroristen verun­glimpft, beschimpft, verfolgt.
Kaum zehn Jahre nach Willy Brandts ‚mehr Demokratie wagen’ schon wieder ein neues Klima der Repression, Hysterie – selbst im Kleinen, ein laut gerufener Spruch, der mit „Buback Ponto Schleyer …“ begann, konnte schon ungeahnte Konsequenzen bis zum Rauswurf von der Schule haben.

Dieses Klima der Hysterie, Repression und Verfolgung haben Regisseure wie Alexander Kluge, Volker Schlöndorff und Rainer Werner Fassbinder in ihrem Film ‚Deutschland im Herbst’ beschrieben und damit einer Zeit ihren Namen gegeben. Einer Zeit, die immer noch der Aufarbeitung, der Bewältigung harrt.
Eine Zeit, die nun in diesem Jahr schon dreißig Jahre her ist …
Und, um das nicht zu vergessen, immer noch sitzen einige der RAF-Terroristen in Gefängnissen, nach vielen vielen Jahren Knast …

Von Ulrich Würdemann

einer der beiden 2mecs.
Schwulenbewegt, Aids- und Therapie-Aktivist. Von 2005 bis 2012 Herausgeber www.ondamaris.de Ulli ist Frankreich-Liebhaber & Bordeaux- / Lacanau-Fan.
Mehr unter 2mecs -> Ulli -> Biographisches

Eine Antwort auf „Noch kein Herbst“

[…] “Deutschland im Herbst“, so ist nicht nur der Titel eines Films von 1978 über diese Jahre, sondern diese Formulierung beschreibt auch das Lebensgefühl in zunehmend antifreiheitlicher werdenden Rahmenbedingungen. Hysterie, bewusst geschürte Ängste, Hetze gegen alles Andersdenken. Eine Zeit, in der differenziertes Denken, Abwägen, Hören nach Zwischentönen, Ausbrechen aus schwarz-weiß-Dogmen nicht gefragt waren, ja bekämpft wurden. Beide Seiten beharrten auf Konfrontation, Polarisierung. Menschlichkeit, Freiheit, Vielfalt – sie schienen damals oft wie kalte Fremdworte einer anderen Welt. […]

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