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Michael Pollak (1948 Wien – 1992 Paris)

Zuletzt aktualisiert am 17. Dezember 2024 von Ulrich Würdemann

Michael Pollak, französischer Soziologe, wurde 1948 in Wien geboren. Er wurde bekannt vor allem durch die erste (und regelmäßige) Befragung schwuler Männer zu HIV und Aids ab 1985. Pollak starb 1992 an den Folgen von Aids.

Résumé voir ci-dessous en français. English summary see below.

Der französische Soziologe und Germanist Michael Pollak wurde am 26. Juli 1948 in Wien geboren. Nach dem Soziologie-Studium in Linz verfasste er 1975 seine Diplomarbeit unter Leitung von Pierre Bourdieu (1930 – 2002), einem der bedeutendsten Soziologen Frankreichs. Pollak hatte Bourdieu bei einem ersten Aufenthalt in Paris 1971 kennen gelernt.

1971 zieht Michael Pollak nach Frankreich, arbeitet von 1973 bis 1978 bei der OECD und ab 1978 am CNRS Centre National de la Recherche Scientifique. Das CNRS ist das zentrale Forschungsinstitut Frankreichs auf dem Gebiet der Grundlagenforschung. Es ist ungefähr mit der Max-Planck-Gesellschaft in Deutschland vergleichbar. Es ist die größte Forschungsinstitution in Europa.

„Viele Jahre widmete er sich einer Studie zur – wie er es nannte – Bewältigung gebrochener Identität in extremen Situationen.“

Michael Bochow ‚Zum Tode von Michael Pollak‘, magnus 9/92

1982 wird er am CNRS ‚directeur de recherche‚ und leitet das Programm „Science, technologie et société„. Früh wird die Analyse der sozialen Identität in extremen Situationen eines seiner zentralen Themen. Er befasst sich mit den Lebensbedingungen in Konzentrationslagern, und bald auch mit den Lebenssituationen Homosexueller.

„Michael Pollak war in zweifacher Hinsicht ein Pionier: einmal durch seine Studien zu homosexuellen Männern in Frankreich und zum anderen durch die Einleitung einer Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Stellen und der schwulen Gemeinde in Frankreich.“

Michael Bochow ‚Zum Tode von Michael Pollak‘, magnus 9/92

Michael Pollak stirbt am 7. Juni 1992 im Alter von 43 Jahren an den Folgen von Aids.

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In seinem ersten Text über Homosexualität im Jahr 1982 berichtet Michael Pollak über seine eigenen Schwierigkeiten, sich von seiner eigenen ausschließlich heterosexuellen Sozialisation zu befreien. In Paris verhält er sich zu Beginn sehr diskret, spricht öffentlich nicht über seine Homosexualität. Bewusst arbeitet er zunächst nicht in Schwulengruppen mit. Aids führt bei ihm zu einem völligen Sinneswandel.

„J’ai très vite compris, qu’il s’agissait d’un phénomène important et tragique … Mon engagement est la réaction  d’un sociologue qui est homosexuel.“
(‚Ich habe sehr schnell verstanden, dass es sich um ein bedeutendes und tragisches Phänomen handelte. … Mein Engagement ist die Reaktion eines Soziologen, der selbst homosexuell ist.‘ Übers. UW)

Michael Pollak 1991

1984 kommt er aufgrund eines Artikels in Liberation erstmals in Kontakt mit der kurz zuvor von Daniel Defert (Partner des zuvor an den Folgen von Aids verstorbenen Philosophen Michel Foucault) gegründeten Aids-NGO Aides. 1985 beginnt er die Arbeit mit Ehrenamtlern bei Aides.

Ende 1984 entwickelt er die Idee einer Studie über Homosexuelle. Bereits 1985 befragt Michael Pollak gemeinsam mit Marie-Ange Schiltz erstmals  schwule Männer zu HIV und Aids. Er setzt dabei einen Fragebogen ein, den er dem ‚Gai Pied‚, der zu der Zeit am weitesten verbreiteten Schwulenzeitschrift Frankreichs, beilegen lässt.Er erhält über 1.000 ausgefüllte Fragebögen als Antwort.

Es ist die erste Befragung zu Aids in Frankreich überhaupt. Und die erste Fragebogen-Studie an schulen Männern. Erstmals überhaupt arbeiteten eine Schwulenzeitschrift und wissenschaftliche Forschung zusammen. Pollaks Fragebogen-Studie setzte Maßstäbe, wurde später auch Vorbild für die so genannten ‚Bochow-Studien‚ in Deutschland:

Michael Pollack hat mir später erzählt, er sei ganz gerührt gewesen, dass ich überhaupt seine Erlaubnis eingeholt habe – andere haben das einfach geklaut.

Michael Bochow 2013

Michael Pollak verfasste einige der ersten sozialwissenschaftlichen empirisch orientierten Untersuchungen zu Aids in Europa. In zahlreichen seiner Studien untersuchte Michael Pollak die sozialen und politischen Reaktionen auf Aids, und wie Schwule auf die Aids-Krise reagierten.

„Le degrée d’acceptation sociale de l’homosexualité est donc très important pour comprendre la peur du SIDA.“ (Michael Pollak 1986)
(Das Ausmaß sozialer Akzeptanz der Homosexualität ist daher sehr wichtig für das verständnis der Angst vor Aids. Übers. UW)

Dabei bezogen sich viele seiner Studien auf Frankreich, und thematisierten z.B. auch den Umgang der Medien in Frankreich mit Aids, oder wie Aids von der französischen Rechten um LePen und dessen ‚Front National‘ instrumentalisiert wurde.

Pollak führt auch individuelle Interviews mit HIV-Positiven.

Die Diagnose [Aids, d.Verf.] wird eindeutig als soziales Stigma wahrgenommen, dem einzig durch Schweigen entgangen werden kann. … HIV-Patienten tendieren zu freiwillig gewählter sozialer Selbst-Isolation.
Michael Pollak, 3. Welt-Aids-Konferenz, Washington, 1987)

In ihrer Regelmäßigkeit sowie hinsichtlich ihres Gegenstands war die Forschungsarbeit Michael Pollaks damals einzgartig.

Michael Pollaks Erfahrungen mit Befragungen schwuler Männer zu HIV und Aids  waren nach Abschluss seines großen EU-Projekts 1991 (komparative Studie über Gesundheitspolitik und Prävention in 17 europäischen Staaten) grundlegend für eine europaweite Befragung auf Basis des von ihm entwickelten französischen Fragebogens.

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Michael Pollak – Namen und Steine

Michael Pollak Namen und Steine Bonn
Michael Pollak Namen und Steine Bonn

Stein für Michael Pollak, Namen und Steine – Kaltes Quadrat, Tom Fecht 1993 / Bonn Bundeskunsthalle

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Ainsi le sida a-t-il créé une situation quasi expérimentale de mise à l’épreuve des valeurs de tolérance et de liberté individuelle et des capacités d’une société moderne à reprondre rapidement à une menace imprévue. […] Les discussions portant sur les éventuelles mesures administratives à prendre contre cette maladie mettent en relief les répercussions politiques  qu’elles auraient sur la vie même de ces groupes. Le sida agit donc comme un révélateur puissant des tensions à l’œuvre dans la société et pose le problème: Comment faire passer le message préventif sans provoquer de dramatisation excessive qui alimenterait des réactions répressives médicalement injustifiées?
(Auch hat Aids sozusagen eine experimentelle Situation geschaffen, die unsere Werte von Toleranz und individueller Freiheit auf den Prüfstand stellt, ebenso wie die Fähigkeit einer modernen Gesellschaft, schnell auf eine unvorhergesehene Bedrohung zu reagieren. […] Die Diskussionen über mögliche administrative Maßnahmen gegen diese Krankheit betonen die politischen Auswirkungen, die diese auf das Leben eben dieser Gruppen haben würde. Aids wirkt somit wie ein mächtiger Enthüller von in der Gesellschaft vorhandenen Spannungen und wirft das Problem auf: wie können wir die Präventions-Botschaft vermitteln, ohne eine übermäßige Dramatisierung, die zu medizinisch nicht gerechtfertigten repressiven Reaktionen beitragen könnte?)
Michael Pollak 1988
(im Vorwort zu „Les homosexuels et le sida“; Übers. UW)

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Ce refus d’abdiquer devant l’inéductable, d’abaisser la raison devant l’innommable, il ne l’a jamais manifesté aussi pleinement que das les enquêtes qu’il a menées, avec Gai Pied, sur les homosexuels et le sida.[…] Véritable „prophétie exemplaire“, comme aurait dit Weber, qu’il aimait beaucoup, tout la vie de Michael Pollak porte témoinage de la conviction qu’il avait que la connaissance est un instrument privilégié de libération.
(Nie hat er diese Weigerung, sich dem Unausweichlichen zu ergeben, die Vernunft vor dem Unbenennbaren zu beugen, so vollständig bewiesen wie bei den Umfragen, die er gemeinsam mit dem Gai Pied zu Schwulen und Aids durchgeführt hat. […] Wahrhaft ‚beispielhafte Prophetie‘, wie Max Weber gesagt haben würde, den er sehr schätzte, gibt das gesamte Leben von Michael Pollak Zeugnis von seiner Überzeugung, dass Wissen ein besonders geeignetes Instrument der Befreiung ist.
[Übers.UW])
Pierre Bourdieu in einem Nachruf auf Michael Pollak, in: Gai Pied Nr. 525, 18. Juni 1992, sowie in (den von ihm 1975 gegründeten) Arss Actes de la recherche en sciences sociales, Nr. 94, September 1992 (online)

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Einige der Publikationen von Michael Pollak

Michael Pollak verfasste zahlreiche Bücher, Texte und Abhandlungen in französischer, englischer und deutscher Sprache. Einige Beispiele:

  • Vienne 1900: une identité blessée, Paris 1984 (dt.: Wien 1900 – eine verletzte Identität)
  • L’expérience concentrationnaire: Essai sur le maintien de l’identité social
  • L’Homosexualité masculine : le bonheur dans le ghetto ?, 1984
  • Les homosexuels et le sida, Paris 1988
  • Homosexuelle Lebenswelten im Zeichen von Aids: Soziologie der Epidemie in Frankreich, Berlin 1990 [deutschsprachige Ausgabe von Les homosexuels et le sida]
  • Six années d’enquête sur les homo- et bisexuels masculins face au sida, 1991
  • The Second Plague of Europe: AIDS Prevention and Sexual Transmission Among Men in Western Europe

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Michael Pollak, sociologue est né à Vienne en 1948. Il était connu surtout pour la première (et régulière) enquete auprès des homoexuels sur le VIH et le sida dès 1985. Pollak est décédé en 1992 de complications liées au SIDA.

Michael Pollak, sociologist, was born in Vienna in 1948. He was known especially for the first (and regular) survey of gay men about HIV and AIDS from 1985 onwards. Pollak died in 1992 of complications from AIDS.

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Ich erinnere mich gut, wie mich Michael Pollaks ‚Les homosexuels et le sida‘ beim ersten Lesen beeindruckte. Wie ich es erneut las, in der Zeit als Jean-Philippe in Paris oft im Krankenhaus war, ich ihn zu zahlreichen Untersuchungen begleitete (von denen sich noch ein Termin-Zettel der Hôpitaux de Paris als Lesezeichen im Buch findet) – und wir darüber wild diskutierten, ob das denn alles so sei …

Michael Pollak Les homosexuels et le sida mit Lesezeichen von Untersuchungsterminen Jean Philippe
Michael Pollak Les homosexuels et le sida mit Lesezeichen von Untersuchungsterminen Jean Philippe

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Dank an Michael Bochow für ergänzende Hinweise! (2014)

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Von Ulrich Würdemann

einer der beiden 2mecs.
Schwulenbewegt, Aids- und Therapie-Aktivist. Von 2005 bis 2012 Herausgeber www.ondamaris.de Ulli ist Frankreich-Liebhaber & Bordeaux- / Lacanau-Fan.
Mehr unter 2mecs -> Ulli -> Biographisches

Eine Antwort auf „Michael Pollak (1948 Wien – 1992 Paris)“

Informativer Artikel. Man mag gar nicht daran denken wie einfach eine Überwachung heute wäre/ist.

Vielen Dank und Grüße aus Dresden

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