Zuletzt aktualisiert am 7. Oktober 2022 von Ulrich Würdemann
Spätdiagnose HIV – erst bei oder kurz vor einer Aids-Diagnose von der eigenen HIV-Infektion erfahren, von diesem leidvollen Schicksal sind jedes Jahr annähernd 900 Menschen in Deutschland betroffen. Bisherige Testangebote reichen offensichtlich nicht aus – können HIV-Selbsttests (sog. HIV-Heimtest) zur Lösung beitragen, die Gefahr vermeidbarer Aids-Erkankungen senken?
Die Anzahl der Fälle von Spätdiagnose HIV erst bei oder kurz vor einer AIDS-Diagnose ist unverändert auf hohem Niveau. Das Robert-Koch-Institut (RKI) berichtete Ende Juni 2014 über die Situation zu HIV und Aids in Deutschland im Jahr 2013.
Spätdiagnose HIV unverändert hoch – was läuft schief?
1.162 Menschen erkrankten 2013 in Deutschland an Aids (216 Frauen, 946 Männer; 43% = 505 bei MSM, 229 = 19,7% keine Angabe zum Infektionsrisiko).
Ein bestürzend hoher Anteil von ihnen wußte bis kurz vor der Aids-Erkrankung nichts von der eigenen HIV-Infektion:
„Zwischen dem 1.1.2011 und dem 31.12.2013 sind insgesamt 1.162 Berichte über neu an AIDS erkrankte Personen eingegangen. … Von diesen 1.162 an AIDS erkrankten Personen wurden ca. drei viertel im selben Jahr oder im Jahr vor der AIDS-Diagnose mit HIV diagnostiziert.“ [1]
Bei Drogengebrauchern scheinen Probleme beim Zugang zu adäquater Gesundheitsversorgung zu bestehen. Das RKI kommentiert angesichts der „erhebliche[n] Unterschiede zwischen Personen, die sich über intravenösen Drogenkonsum mit HIV infiziert haben und Personen, die sich auf sexuellem Wege infiziert haben“ [2] zu möglichen Ursachen
„Dies deutet darauf hin, dass der Zugang zum medizinischen Versorgungsangebot teilweise unzureichend auf die besonderen Bedarfe dieser spezifischen Patientengruppe zugeschnitten ist oder durch andere Maßnahmen – zum Beispiel Inhaftierung – unterbrochen wird.“
Die Situation der Spätdiagnose HIV hat sich in den letzten Jahren nicht verändert:
„Weder die absolute Zahl noch der Anteil der erst im Stadium CDC C diagnostizierten HIV-Infektionen ist in den letzten Jahren substanziell zurückgegangen. Der Anteil von Spätdiagnosen im klinischen Stadium CDC C steigt mit zunehmendem Alter und kleiner werdendem Wohnort kontinuierlich an: von ca. 5 % bei unter 25-Jährigen auf 35 % bei über 60-Jährigen, von knapp 15 % in Großstädten mit über 500.000 Einwohnern auf knapp 20 % in Orten mit weniger als 100.000 Einwohnern. Der Anteil von Spätdiagnosen ist deutlich überproportional bei Personen, bei denen keine Angaben zum Infektionsweg vorliegen und leicht überproportional bei Personen mit Angabe eines heterosexuellen Übertragungsrisikos.“
Trocken kommt das RKI zu der Schlussfolgerung
„Das legt den Schluss nahe, dass mit den gegenwärtigen Untersuchungsangeboten der Anteil später Diagnosen und aus der späten Diagnose resultierender AIDS-Erkrankungen nicht mehr nennenswert verringert werden kann. Es sollte daher verstärkt darüber nachgedacht werden, wie insbesondere außerhalb von Großstädten lebende, ältere, und schlecht in das medizinische Versorgungssystem integrierte Personen mit erhöhten HIVInfektionsrisiken durch Testangebote besser erreicht werden können.“
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HIV-Selbsttests als ein Weg?
Die gegenwärtig verfügbaren Angebote scheinen offensichtlich nicht ausreichend geeignet, jedermann und -frau eine realistische Chance zu geben, eine Spätdiagnose HIV erst bei oder kurz vor Aids zu vermeiden.
Eine weitere, international zunehmend diskutierte Möglichkeit bestünde in HIV-Selbsttests (auch HIV-Heimtest).
Ein wesentlicher Vorteil: ein HIV-Selbsttest ist (je nach Vertriebsweg) völlig anonym möglich. Es gibt immer noch viele Menschen, die aus welchen Gründen auch immer nicht in eine Beratungsstelle, ein Gesundheitsamt oder eine Aidshilfe gehen würden – und es vorziehen sich zunächst einmal diskret und anonym Klarheit über ihren HIV-Status zu verschaffen. Damit sind sie auch ein pragmatischer Weg, die Autonomie des Einzelnen zu respektieren – i.d.R. allerdings zum Preis einer fehlenden Beratung.
In den USA sind HIV-Selbsttests seit Oktober 2012 zugelassen. Frankreich prüft die Zulassung von HIV-Selbsttests seit 2013. Und in Großbritannien sind HIV-Selbsttests seit Mai 2014 frei erhältlich, z.B. auch per Post oder in Supermärkten. Der britische Terrence Higgins Trust hat mit HIV-Selbsttests auf dem Postweg seit 2013 gute Erfahrungen gemacht. In Australien wurden sie Anfang Juli 2014 zugelassen, Experten begrüßten die Aufhebung des Verbots..
In Deutschland sind HIV-Selbsttests zur Abgabe an Privatpersonen gem. Medizinproduktegesetz derzeit nicht zugelassen. Grund dafür war u.a. die Auffassung, bei HIV-Tests solle eine ärztliche Beratung sichergestellt sein. Ihre Zulassung in den USA hat Deutsche Aids-Hilfe (DAH) damals als „Ausdruck der Verzweiflung“ gewertet.
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„Aids ist keine düstere Bedrohung mehr„, habe ich im Januar 2014 anläßlich einer Bemerkung auf einer Ausstellungs-Eröffnung kommentiert.
Und tatsächlich, die HIV-Infektion ist heute – im Gegensatz zu 1980er und frühen 1990er Jahren – in den weit überwiegenden Fällen gut und erfolgreich behandelbar. Sie ist heute eine meist gut behandelbare chronische Infektionskrankheit. HIV-Positive können heute oftmals ein Leben mit (im Vergleich zu Ende der 1980er Anfang der 1990er Jahre) wenigen Einschränkungen und Veränderungen führen. Menschen die sich heute mit HIV infizieren, haben weitgehend eine ‘normale’ Lebenserwartung.
Doch – unter einer Voraussetzung: dies gilt, wenn die HIV-Infektion bekannt ist. Wenn dadurch potentiell Zugang zu Behandlung und Therapie gegeben sind.
Eine Erkrankung an Aids ist dann heute weitestgehend vermeidbar – wenn man/frau von ihrer / seiner HIV-Infektion weiß.
Wer von seiner HIV-Infektion nicht weiß, wer von ihr erst erfährt wenn sein Immunsystem schon so stark zerstört ist, dass Aids diagnostiziert ist – für den trifft „HIV ist kein Drama“ sicherlich nicht zu.
Dieses Drama der sehr späten Diagnose erst bei oder kurz vor Aids ist unnötig.
Dieses Drama der sehr späten HIV-Diagnose ist vermeidbar. Auch bei Menschen in Kleinstädten. Auch bei Menschen, die aus welchen Gründen auch immer nichts über mögliche Infektionswege (und damit z.B. ihr Sexualverhalten) sagen möchten.
Es ist vermeidbar durch durch Wissen um den eigenen HIV-Status.
Zeit, anzuerkennen das bisherige Angebote gut aber nicht ausreichend sind.
Zeit anzuerkennen, dass mehr Aids-Erkrankungen als bisher verhindert werden könnten.
Zeit, etwas zu ändern.
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[1] Robert-Koch-Institut: HIV-Infektionen und AIDS-Erkrankungen in Deutschland – Bericht zur Entwicklung im Jahr 2013 aus dem Robert Koch-Institut. in: Epidemiologisches Bulletin Nr. 26 / 30. Juni 2014
[2] Bei Drogengebrauchern ist die Situation später HIV-Diagnose deutlich anders als bei anderen Gruppen: „Bei den mit einer AIDS-Erkrankung diagnostizierten Drogengebrauchern war bei 60 % die HIV-Infektion schon lange bekannt. … Im Vergleich zu allen anderen Infektionsrisiken ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem an AIDS erkrankten Drogenkonsumenten die HIV-Infektion schon lange bekannt war fast 6-fach höher.“
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siehe auch:
Ulrich Würdemann 29.03.2013: HIV Heimtest – Zeit für eine breite unaufgeregte Debatte ?
Ulrich Würdemann 27.01.2014: Aids ist keine düstere Bedrohung mehr
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5 Antworten auf „Spätdiagnose HIV vermeiden – Testangebote verbessern“
Zuallererst damit kein falscher Eindruck entsteht:
Jeder Mensch der den HIVirus in sich träge ist ein HIV Positiver zuviel ist.
Die Zunahme innerhalb der iV Drogengebraucher ist dem Restrisiko Lebensrisiko zuzuordnen. Dies wurde und wird ja auch immer wieder mal thematisiert im Kontext zu der Frage gibt es 100% Sicherheit? Zudem wirdt es auch immer Menschen geben die bewußt Drogen nehmen. Mir klingt bei diesen alljährlichen Berichten des RKI immer der Hang nach Perfektion durch: Zunahme von NeuInfektionen = NULL.
Ich pers finde den Gebrauch von Prozentzahlen völlig überzogen und einen Sachverhalt dramatisierend der in keinster Weise die Realität wiedergibt. Nimm z.b die Thematik iV Drogengebraucher.
„Dies deutet darauf hin, dass der Zugang zum medizinischen Versorgungsangebot teilweise unzureichend auf die besonderen Bedarfe dieser spezifischen Patientengruppe zugeschnitten ist oder durch andere Maßnahmen – zum Beispiel Inhaftierung – unterbrochen wird.“
Die Priorität eines iV DrogengebrauchersIn sind Drogen. Erst wenn ich meine Droge habe bin ich in der Lage und werde mich um andere Dinge kümmern. Im Umkehrschluß heißt das es vielen iV Drogengebraucher einfach egal ob sie Ihre Hiv Medis genommen haben bzw sich um HIV kümmern, Arzttermine einhalten. Erst kommt die Droge und dann der Rest. So funktioniert Sucht – dies muß man einfach wissen. Das ist diese Suchtproblematik derer man sich bewußt sein muß, insbesondere wenn es sich um ein Institut wie das RKI handelt. Da kann man von aussen nichts regulieren. Angebote sind da für die Katz es sei denn „Komm zu uns wir haben Drogen und HIV Medis“.
Hält man sich die absoluten Zahlen vor Augen, so finde ich die Zunahme von 88 iV DrogengebraucherInnen die innerhalb eines Zeitraumes von 3 Jahren an AIDS erkrankt sind gemessen an der Gesamtzahl der Drogengebraucher sehr niedrig.
Das ist schlicht und einfach an der Realität vorbei gelebt. Natürlich kann man dies schaffen, wenn man in einem faschistischen Statt lebt der seinen Bürgern bei Zuwiderhandlung gegen die Art wie „Man zu leben hat verstößt“ mit der Todessrafe droht. Und selbst das wird eine Neuinfektion nicht vehindern.
alivenkickin: es geht mir hier weniger um die Zahl der Neuinfektionen mit HIV – sondern vielmehr darum, dass Menschen an Aids erkranken, weil sie von ihrer HIV-Infektion nicht wissen, und folglich keinen Zugang zu entsprechender Therapie haben.
Und wenn drei Viertel (!) der an Aids Erkrankten erst kurz zuvor von ihrer HIV-Infektion erfahren (sprich auch: vorher nicht ‚rechtzeitig‘ Zugang zu Therapie hatten), dann finde ich das schon bestürzend
zur Klarstellung der unterschiedlichen Situation bei Drogengebrauchern hab ich im Text oben die entsprechende RKI-Stelle ergänzt, siehe [2]
Da stimme ich Dir zu – die Frage ist wie Du sie ja auch stellst: Wie kann man das verhindert – Wo liegen die Ursachen das 2014 Menschen an AIDS erkranken weil sie von ihrer HIV Infektion nicht wissen?
Bewußte Leugnung von HIV – Da wird man nichts ändern können denke ich mal.
Nicht wissen wollen das man HIV + sein könne aus . . . . . Angst vor . . . etc? Kommt man an diese Menschen heran?
Nur zum Teil denke ich. Das Thema ist erst mal „Angst“ der man sich stellen muß, danach kommt HIV . . . Sich seiner „Angst“ zu stellen schon das jagdt einen einen Schauer nach dem Anderen über den Rücken, nimmt einem buchstäblich den Atem. „Es die Angst, schnürt einem buchstäblich die Kehle zu“. Nicht umsonst hat sich im Volksmund zu Vielen eine sehr bildhafte Sprache entwickelt.
Ursache Bildung Schule? Keine Frage. Hier sind die Kultusministerien – Bildungspläne gefragt. Wenn da aber ein Abtleiter oder sonstiger Sekretär der für die Pläne verantwortlich ist ein Spack ist dann hat man hier schon von vornherein schlechte Karten.
an die 900 Menschen erfahren erst bei oder kurz vor ihrer Aids-Diagnose überhaupt von ihrer HIV-Infektion – das scheinen mir (zum größten Teil) vermeidbare Aids-Erkrankungen
das RKI macht zu dieser Gruppe im EpiBulletin einige Angaben – tendenziell kleinere Städte, tendenziell keine Angabnen zum Infektionsweg etc.
die Zahl ist seit Jahren annähernd gleich – auf m.e. erschreckend hohem Niveau. Ist das kein Anlass, Aidshilfe-Angebote zumindest zu überdenken? Zeigt dies nicht, dass vorhandene Testangebote diese Menschen wohl nur unzureichend erreichen?
ein Selbsttest kann da m.E. eine sinnvolle Ergänzung (! nicht Alternative) bestehender Testangebote sein – und zB Terrence Higgins in GB (s.o. Link) zeigt ja, dass dies auch erfolgreich und in NGO-Kontext eingebettet möglich sein kann