Zuletzt aktualisiert am 26. Februar 2023 von Ulrich Würdemann
Valery Giscard d’Estaing, 1926 in Koblenz geboren, war vom 27. Mai 1974 bis zum 21. Mai 1981 Staatspräsident Frankreichs. In seine Amtszeit fallen zahlreiche Schritte einer vorsichtigen Modernisierung der Gesellschaft, andere bleiben seinem Nachfolger François Mitterrand vorbehalten. Giscard starb am 2. Dezember 2020.
Der frühere französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing nahm ebenfalls an dem Staatsakt für Helmut Schmidt am 23.11.2015 teil. Foto
Valery Giscard d’Estaing
Valery Giscard d’Estaing wird am 2. Februar 1926 in Koblenz geboren. Sein Vater, Generalinspektor im Finanzministerium, dient damals bei der französischen Besatzungsarmee im Rheinland und ist in Koblenz stationiert. Bereits kurze Zeit später wird er nach Paris versetzt.
Valery Giscard d’Estaing macht 1942 im seit 1940 von NS-Truppen besetzten Paris das Abitur (baccalauréat). Ab 1944 engagiert er sich in der Résistance, wird 1945 Soldat. Nach der Befreiung Frankreichs studiert er an den Eliteschulen Ecole Polytechnique und ENA.
Wie sein Vater arbeitet Valery Giscard d’Estaing zunächst von 1952 bis 1956 in der Finanzdirektion. Am 2. Januar 1956 wird er zum Abgeordneten des Départements Puy-de-Dôme gewählt. 1959 wird er Staatssekretär im Finanzministerium, ab 1962 zunächst bis 1966 Finanzminister (unter den Premierministern Debré und Pompidou) sowie erneut von 1969 bis 1974 (unter den Premierministern Chaban-Delmas und Messmer).
Am 19. Mai 1974 wird Valéry Giscard d’Estaing (VGE) mit 48 Jahren als Nachfolger des zwei Jahre vor Ende seiner Amtsperiode verstorbenen Georges Pompidou zum Präsidenten der Republik Frankreich gewählt (s.u.). Er ernennt Jacques Chirac zum Premierminister. Simone Veil wird Gesundheitsministerin (und ihr gelingt bald die Reform des Abtreibungsrechts), Francoise Giroud Staatssekretärin in der neu geschaffenen Behörde für Frauenfragen.
1981 gelingt es Giscard nicht, erneut zum Präsidenten gewählt zu werden – Francois Mitterrand (1916 – 1996) gewinnt die Wahl. Giscard zieht sich in die Auvergne zurück.
Bereits 1978 gründet Giscard die liberale Partei UDF (Union pour la démocratie française) mit, deren Präsident er nach Beendigung seines Amtes als Staatspräsident kurzzeitig ist. 1989 bis 1993 ist er Abgeordneter im Europäischen Parlament. 2001 wird er zum Präsidenten des Europäischen Konvents berufen, der eine Europäische Verfassung ausarbeiten soll und diese 2003 vorlegt. Seit Dezember 2003 ist er Mitglied der Académie Française. Am 22. Oktober 2006 wird Giscard zum Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Koblenz ernannt.
Giscard spricht fließend deutsch. Seit 1952 ist er verheiratete mit Anne-Aymone Sauvage de Brantes, sie haben vier Kinder.
Den Adelstitel (d’Estaing) führt die Familie erst seit 17. Juni 1922, als sein Vater das Recht erwarb diesen Adelstitel zu tragen. Letzte Titel-Trägerin der ausgestorbenen Familie war zuvor Lucie-Madeleine d’Estaing de Réquistat du Buisson (24.8.1769 – 10.3.1844), Ahnin der weiblichen Linie der Familie.
Im Februar 2005 erwerben Familienmitglieder das Chateau d’Estaing, dem Vernehmen nach um die Gemeinde zu entlasten, es zu sanieren und einige Räume der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Estaing ist eine kleine Gemeinde im Aveyron mit etwas über 500 Einwohnern.
Giscard starb am 2. Dezember 2020.
Präsident Giscard d’Estaing 1974 – 1981 – vorsichtige Modernisierung
Am Abend des zweiten Wahlgangs der Präsidentschaftswahl in Frankreich, am 19. Mai 1974, kündigt Giscard an
„De ce jour date une ère nouvelle de la politique francaise, celle du rajeunissement et du changement de la France.„
(Von diesem Tag an beginnt eine neue Ära in der französischen Politik, eine Zeit der Verjüngung und der Veränderung von Frankreich; Übers. UW)
Insbesondere der Beginn der Präsidentschaft Giscards steht für Aufbruch und vorsichtige Modernisierung. Giscard gilt zunächst als ‚der französische Kennedy‘. Gesellschaftspolitisch erfolgen unter Giscard einige Reformen – während andere unterbleiben:
- Frauenrechte: Giscard führt am 16. Juli 1974 den Posten der Staatssekretärin für Frauen-Fragen (secrétaire d’État à la Condition féminine) neu ein und ernennt die Schriftstellerin und Journalistin Françoise Giroud (geb. Lea France Gourdji; 1916 – 2003) zur Staatssekretärin (Juli 1974 bis August 1976, danach Staatssekretärin für Kultur).
- Ehescheidung: Im Juni 1975 werden zwei neue Scheidungs-Möglichkeiten eingeführt: dieScheidung im gegenseitigen Einvernehmen sowie die Scheidung bei Beendigung des gemeinsamen Zusammenlebens. Zuvor war seit 1884 eine Scheidung einzig bei Vorliegen eines ‚Fehlverhaltens‘ eines der Ehepartner zulässig.
- Abtreibung: Mit dem loi Veil vom 17. Januar 1975 (benannt nach Simone Veil) wird in Frankreich das Abtreibungs-Recht reformiert – die Fristenregelung tritt in Kraft. Das Gesetz wird mit einer ungewöhnlichen Mehrheit verabschiedet: weniger als ein Drittel der UDR, die Hälfte der Zenteristen und nahezu alle Abngeordneten der Sozialisten, radikalen Linken und Kommunisten stimmen mit ‚ja‘.
Zuvor war Abtreibung strafbar, nun kann jede Frau in den ersten 14 Tagen der Schwangerschaft diese bei einem Arzt abbrechen lassen. - Auch die Schwangerschafts-Verhütung wird in Fortsetzung des ‚loi Veil‘ modernisiert. Die Anwendung von Kontrazeptiva durch Minderjährige wird zugelassen, die Kosten werden von der Sozialversicherung übernommen.
- 1975 werden Porno-Filme legalisiert (Dekret vom 30. Oktober 1975), in denen der Geschlechtsakt nicht mehr ’nur simuliert‘ ist. Gleichzeitig wird für diese Filme, die nur in besonderen Kinos gezeigt werden dürfen und einer besonderen Steuer unterliegen, mit Gesetz vom 30. Dezember 1975 (Art. 11 & 12; ‚loi X‘) die neue ‚Kategorie X‘ eingeführt.
Erfolge von Porno-Filmemachern wie Jean-Daniel Cadinot kurze Zeit später werden so erst legal möglich. - Alter der Volljährigkeit: Mit Gesetz vom 5. Juli 1974 wird das Volljährigkeits-Alter (majorité civile) von 21 Jahren auf 18 Jahre festgesetzt (zuvor für heterosexuelle Beziehungen 15, für homosexuelle 21 Jahre).
Es ist der einzige rechtliche Fortschritt für Homosexuelle in Frankreich in den 1970er Jahren. Frustriert und in der Hoffnung auf Verbeserungen unter einem neuen Präsidenten rufen Homosexuelle am 4. April 1981 im Präsidentschaftswahlkampf unter Anspielung auf Affären Giscards (Bokassa) die Parole „Giscard, des diamants pour nos amants!“ (Diamanten für unsere Liebhaber). - Auf Anordnung von Giscard wird der 8. Mai ab 1975 nicht mehr als (arbeitsfreien) Feiertag zu begehen. Bis dahin wurde er als Tag des Siegs über Nazi-Deutschland begangen. Giscard begründet die Änderung auch damit, die deutsch-französische Freundschaft zu würdigen.
- Todestrafe: Giscard bezeichnet sich zwar als Gegner der Todesstrafe, unternimmt aber in seiner Zeit als Präsident keine konkreten Schritte zu deren Abschaffung. Im ‚loi sécurité et liberté‘ (Gesetz über Sicherheit und Freiheit) vom Februar 1981 hat Justizminister Alain Peyrefitte zwar ursprünglich die Abschaffung der Todesstrafe mit vorgesehen, nimmt dies aber auf Druck gaullistischer Abgeordneter zurück.
Erst unter seinem Nachfolger Mitterrand schafft Justizminister Robert Badinter die Todesstrafe in Frankreich 1981 ab. - Sonderstrafrecht gegen Homosexuelle: das in der Zeit des Kollaborations-Regimes von Vichy unter Pétain eingeführte Sonderstrafrecht gegen Homosexuelle bleibt unter Präsident Giscard weiterhin bestehen.
Zwar wird am 21. Dezember 1977 eine Kommission zur Reform des Strafrechts eingesetzt (Henri Caillavet), die 1978 auch Empfehlungen vorlegt, darin u.a. die Abschaffung Homosexuelle diskriminierender Paragraphen. Bis Ende 1980 allerdings wird der Entwurf in wechselnden Lesungen zwischen Assemblé und Senat immer wieder verändert, zuletzt sollte die Situation von 1942 beibehalten, die Veränderung von 1960 aber rückgängig gemacht werden. Die Änderungen treten nicht in Kraft.
Während sich im Präsidentschaftswahlkampf 1981 Herausforderer Mitterrand mit einer Botschaft an die Homosexuellen wendet (verlesen von Yves Navarre auf der Fete des Gai Pied), versucht Giscard seinen guten Willen (und Bereitschaft zur Abschaffung diskriminierender Paragraphen) in einem kurzen Brief an die (1954 von André Baudry gegründete sehr konservative) Homophilen-Organisation Arcadie darzulegen. Der Brief wird kaum wahrgenommen.
Erst unter Giscards 1981 gewähltem Nachfolger als Präsident, François Mitterrand, schafft Justizminister Robert Badinter die Sondergesetze gegen Homosexuelle ab.
2012 äußert Giscard, das Gesetz über die Ehe für alle, mit der die Homoehe in Frankreich eingeführt wird, sei ‚im Einklang mit der Entwicklung der Gesellschaft‘. Allerdings ziehe er den Begriff der ‚Union‘ dem der ‚Ehe‘ vor.
18 Antworten auf „Valery Giscard d’Estaing (1926 – 2020)“
[…] gründet Jacques Chirac nach dem Bruch mit Valéry Giscard d’Estaing und in der Zeit seiner Kandidatur als Bürgermeister von Paris die Nachfolge-Partei RPR […]
[…] Valéry Giscard d’Estaing, 1974 zum Präsidenten Frankreichs gewählt (bis 1981, gefolgt von Francois Mitterrand), ernennt Chirac zum Premierminister, und beginnt sein Projekt einer ‚fortgeschrittenen liberalen Gesellschaft‚ (‚société libérale avancée‚). Einer der wesentlichen Bausteine dabei: die Abschaffung der Strafbarkeit der Abtreibung. Stattdessen wird mit dem Veil-Gesetz (loi Veil‘, s.u.) vom 17. Januar 1975 die Fristenregelung eingeführt – in den ersten 14 Tagen kann die Frau bei einem Arzt ihre Schwangerschaft abbrechen lassen. […]
[…] Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing war ein erklärter Gegner der Todesstrafe – ohne dass er jedoch deren Abschaffung umsetzte. […]
[…] entscheidet Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing, den 8. Mai nicht mehr als Feiertag zu begehen, und auch nicht mehr (wie bisher) als Tag des Sieges […]
[…] für François Mitterrand. Mitterrand von der PS, der ‚Parti Socialiste‘, oder weiter Valéry Giscard d’Estaing, rechtsliberaler Politiker der UDF? Wer wird nächster Präsident der französischen […]
[…] sind auf einen Politiker ausgerichtet – wie z.B. einst die UdF, die nach dem Ausscheiden von Valerie Giscard d’Estaing aus der Spitzenpolitik rasch an Bedeutung […]
[…] geworden war dieser Wechsel zum Pornofilm juristisch erst kurz zuvor. 1975 wurde unter Präsident Valéry Giscard d’Estaing der Pornofilm legalisiert und eine neue Kategorie X […]
[…] schwach und strukturell durch das Mehrheitswahlrecht benachteiligt – auch wenn sie mit Valéry Giscard d’Estaing von 1974 bis 1981 einst einen Staatspräsidenten stellten. Beide Mitte-Parteien (MoDem und UDI) entschieden sich nicht mit eigenem Kandidaten an der […]
[…] Thomas Guénole äußerte bereits, Macron (bzw. der ‚Macronismus‘) erinnere sehr an Valery Giscard d’Estaing. Der Zentrist Giscard war 1974 bis 1981 der in der 5. Republik bisher einzige Präsident, der nicht […]
[…] steht ein Generationenwechsel an. Zwei Abgeordnete sind bereits seit 1978, der Präsidentschaft von Giscard, tätig (Asensi / PCF und Bocquet / PCF), andere seit Mitterrand (so Bartolone / PS, Cathala / PS, […]
[…] de Sarnez (66; MoDem; begann ihre politische Karriere 1974 bei der Präsidentschafts-Kampagne von Giscard, enge Vertraute von Bayrou; überzeugte […]
[…] wurde jedoch zwischen 1804 und 1815 der 1794 verfasste Le Chant du Départ erklärt (das auch Valéry Giscard d’Estaing in seiner Zeit als Präsident gerne zusätzlich zur Nationalhymne spielen […]
[…] Giscard d’Estaing (UDI), Sohn des früheren Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing, unterliegt Laurence Vichnievsky […]
[…] am 10. Juli 2017 mit. Simone Veil (1927 – 2017) war Gesundheitsministerin zu Zeiten von Präsident Valery Giscard d’Estaing. Nach langen und harten Auseinandersetzungen gelang ihr 1975 die Legalisierung des […]
[…] dem Verbot direkt seit Beginn). Doch Arcadie gelingt es nicht, Nutzen aus dem kurzzeitigen ‚moment Giscardien‚ zu […]
[…] dem Verbot direkt seit Beginn). Doch Arcadie gelingt es nicht, Nutzen aus dem kurzzeitigen ‚moment Giscardien‚ zu […]
[…] Präsident Valery Giscard d’Estaing lud Foucault zu Beginn seiner Amtszeit zu einem Essen in den Elysée-Palast. Foucault soll geantwortet haben, er käme, sofern er den Präsidenten zur Affäre pull-over rouge (erste unter Giscard verhängte Todesstrafe) befragen dürfe. Giscard verweigerte eine Begnadigung, Foucault kam nicht zum Empfang. […]
[…] zur Zeit von Staatspräsident Valery Giscard d’Estaing, […]