Zuletzt aktualisiert am 2. September 2021 von Ulrich Würdemann
Am 20. März 1987 erteilte die US-amerikansiche Food and Drug Administration (FDA) in den USA der neuen Substanz AZT die Zulassung für die Behandlung der HIV-Infektion. Am 29. April 1987 folgte die Zulassung in Deutschland.
Für das Magazin der Deutschen Aids-Hilfe habe ich 2017 an die Situation zu Zeiten der AZT Zulassung in einem Gespräch mit Axel Schock erinnert.
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Als vor 30 Jahren die US-Arzneimittelbehörde FDA die Marktzulassung für das Arzneimittel AZT erteilt, gab es erstmals ein vielversprechendes Medikament, das die Vermehrung von HIV verhindern konnte. Doch die Hoffnungen wurden zunächst jäh enttäuscht. AZT warf nicht nur ethische Fragen auf, sondern löste auch weltweite Proteste aus. Der Hamburger Aktivist und Blogger Ulli Würdemann erinnert sich.
Als vor 30 Jahren die US-Arzneimittelbehörde FDA die Zulassung von AZT zur HIV-Behandlung erteilte, ermöglichte es das Bundesgesundheitsamt, dass das Medikament auch in Deutschland ungewöhnlich schnell verfügbar wurde. Welche Hoffnungen hatte dies innerhalb der HIV-Community, bei deinen Freunden bzw. bei dir selbst ausgelöst?
Vor AZT gab es ja jahrelang – nichts. Zumindest nichts, was wirklich gegen HIV wirkte, was unser Leben verlängern konnte. Wer damals die Diagnose HIV-positiv bekam, und oft war das ja erst, wenn auch schon Aids-Symptome vorhanden waren, der wusste sicher: Du hast nicht mehr lange, und es gibt nichts, was man dagegen tun kann.
Wir haben also auf dieses erste Medikament lange gewartet, und als es verfügbar war, wirklich große Hoffnungen damit verbunden.
Diese Hoffnungen aber haben sich in diesem Maße nicht erfüllt.
Richtig, AZT wirkte zwar, aber meist nur für wenige Wochen oder Monate. Man darf heute in Zeiten hochwirksamer Kombi-Therapien nicht vergessen: Es gab damals zunächst ja nur AZT. Das neue Medikament wurde also alleine, als Mono-Therapie eingesetzt. Entsprechend schnell gab es meist Resistenzen. So hielt die Wirkung nicht lange an. AZT führte faktisch meist ‚nur‘ zu einer Lebensverlängerung von wenigen Wochen oder Monaten.
Hinzu kamen die bisweilen unerträglichen Nebenwirkungen, weil das Medikament zunächst zu hoch dosiert worden war.
Es waren nicht allein die Nebenwirkungen, die Probleme bereiteten. AZT war lange nicht so ‚bequem‘ einzunehmen wie heutige Medikamente. Sie mussten strikt alle vier Stunden genau nach Plan genommen werden. Ältere Positive werden sich sicherlich noch an die Pillenwecker [inzwischen im Museum] erinnern, die es vom Hersteller damals ‚großzügig‘ dazu gab: kleine weiße Kunststoff-Schachteln mit eingebautem Wecker, der alle vier Stunden piepste – auch nachts – und daran erinnerte, dass es wieder Zeit war, die Pillen zu nehmen.
Aber du hast Recht, viel schlimmer waren natürlich die Nebenwirkungen.
Wie haben die sich gezeigt?
Viele, die damals AZT nahmen, kotzten sich die Seele aus dem Leib. Sie hatten Schüttelfrost und gleichzeitig hohes Fieber. Schlimm war zudem diese unendlich große Müdigkeit und Kraftlosigkeit. Man hatte überhaupt keine Energie mehr.
Das führte bei vielen zu dem Eindruck, dass es ihnen (oder ihren Freunden, bei denen sie das erlebten) mit AZT noch schlechter ging, als vorher ohne Medikament. Ich habe das damals selbst im Freundeskreis erlebt. Man hatte manches Mal das Gefühl: ‚Der stirbt jetzt nicht an Aids, der stirbt schon vorher an AZT‘.
Die Patient_innen standen vor der Entscheidung, sie zu ertragen – und so vielleicht ihr Leben zu verlängern. Oder das Medikament wieder abzusetzen – und damit möglicherweise die einzige medizinische Chance auszuschlagen. Wie sind die Menschen mit diesem Dilemma umgegangen?
Die Gerüchte über massive Nebenwirkungen verbreiteten sich unter den HIV-Positiven sehr rasch. So groß die Hoffnung war, so schnell war sie für viele wieder verflogen. Viele wollten diese Pillen deshalb auch nicht mehr nehmen. Wenn man erlebt hatte, wie schlecht es vielen Positiven mit AZT damals ging, konnte man diese Haltung gut verstehen. Ich selbst habe mich damals zunächst ebenfalls dagegen entschieden, AZT zu nehmen.
AZT nehmen oder nicht, das war oft keine leichte Entscheidung. Wie sollten wir abwägen zwischen dem Fünkchen Hoffnung, einige Wochen länger zu leben, und der Aussicht auf diese Qualen? War es das wert? Wie viel wert ist ‚eventuell ein wenig länger leben‘ – wenn das heißt, dass du nur noch mehr kotzt, fieberst, leidest? Viele Freunde und Partner verstanden dieses Ringen, die mögliche Entscheidung gegen ‚die erste große Hoffnung‘ nicht. Wie kann man so eine Chance ausschlagen? Und besonders bei Ärzten, selbst sehr ‚Community-nahen‘ Ärzten, hab ich viel Unverständnis und manchmal Verzweiflung erlebt, wenn Positive sagten, ‚nein – das nehme ich nicht‘.
AZT/Retrovir galt seinerzeit als das teuerste verschreibungspflichtige Medikament. In den USA wurden die Kosten dafür von den Versicherungen meist nicht übernommen, die Behandlung war daher von vielen kaum zu finanzieren.
Als AZT als Medikament auf den Markt kam, verlangte der Hersteller dafür etwa 10.000 US-Dollar – pro Patient (und Jahr). Die Hersteller müssen sich damals dumm und dusselig verdient haben an diesem Medikament. Denn erforscht worden war AZT ja zunächst größtenteils von staatlichen Stellen in den USA wie dem National Institutes of Health (NIH) und der Duke University in Durham. Den Profit aber sackten andere ein …
In Deutschland, wo zugelassene Medikamente von der Krankenversicherung bezahlt werden, stellte dieser als monströs empfundene Preis für den einzelnen Patienten (im Gegensatz zur Krankenversicherung) kein so großes Problem dar – wohl aber z.B. in den USA, wo viele Positive nicht oder schlecht krankenversichert waren. Konkret hieß das: Es gab etwas, das wirken konnte, das Hoffnung war – aber es war so teuer, dass man es sich nicht leisten konnte.
Die Ohnmacht, Todesangst und Wut der von HIV und Aids betroffenen Menschen hat auch viel Energie und Widerstand ausgelöst. Wie wurde auf die Preispolitik des AZT-Herstellers Burroughs Wellcome reagiert?
In den USA gab es bereits 1989 erste Proteste von Aids-Aktivisten. Am 14. September drangen ACT-UP-Mitglieder in die New Yorker Börse ein, störten den Börsenverkehr und protestierten, u.a. mit Transparenten wie „Sell Wellcome“ und durch Anketten an den VIP-Balkon, gegen die Preispolitik des Pharmakonzerns. Die Proteste führten schließlich immerhin zu einer Senkung des AZT-Preises in den USA um 20 Prozent.
In Deutschland und Europa griff ACT UP das Thema AZT-Preis ebenfalls auf. Auf dem 3. Deutschen Aids-Kongress 1990 in Hamburg zum Beispiel – dem ersten, auf dem wir als Positive, damals noch uneingeladen, präsent waren – protestierten wir mit einer „Geldsack“- Aktion gegen den hohen AZT-Preis. Wir waren ungeheuer wütend, dass andere sich auch noch an unserem Leiden und Sterben bereicherten.
Und man darf nicht vergessen: Genau zu der Zeit, als mit AZT erstmals ein Medikament verfügbar wurde und es trotz aller Probleme Grund zu vorsichtiger Hoffnung gab, schwadronierten Politiker und ‚Berater‘ darüber, dass eine lebensverlängernde Therapie, bei der die Betroffenen nicht mehr (schnell) sterben, „das Aids-Problem der Bevölkerung vergrößern“ würde. Was uns retten kann, wird also als eine Gefahr für die Bevölkerung bezeichnet? Mir wird heute noch ganz anders, wenn ich mich an diese Formulierungen erinnere. Damals vergrößerten solche Äußerungen unsere Wut nur noch.
Erst 1994 mit der Veröffentlichung der Concorde-Studie war belegt, dass man AZT viel zu hoch dosiert hatte – mit zum Teil tödlichen Folgen für die Patient_innen. Wie betrachtest du heute die damalige Entscheidung des FDA und des Bundesgesundheitsamtes, AZT auch ohne vorherige Langzeitstudie freizugeben?
Jahrelang hatten wir HIV und gegen Aids absolut nichts. Aids bedeutete den sicheren und meist baldigen Tod. Ich halte die damalige, für viele der im Bundesgesundheitsamt Zuständigen sicher mutige Entscheidung auch heute noch für richtig. Viele von uns gingen eh davon aus, dass sie bald sterben müssten. In dieser Situation ist jeder Strohhalm, der mit gewisser Berechtigung Hoffnung bietet, meines Erachtens den Versuch wert, solange jede/r Einzelne frei seine eigene Entscheidung treffen kann. Es ist eine Chance – mit der Hoffnung auf Hilfe und dem Risiko des Scheiterns.
Ich habe diese Position auch später vertreten, z.B. als es bei dem Arzneistoff ddI eine ähnliche Situation gab.
Dass das Medikament noch vor einer abschließenden Prüfung verordnet werden konnte, war damals eine außergewöhnliche Entscheidung.
Die Forderung, Substanzen für diejenigen die sie lebensnotwendig benötigen schneller verfügbar zu machen, hat ACT UP damals in Europa wie in den USA vertreten und dazu Werkzeuge wie „expanded access“, „accelerated approval“ und „parallel track“ mitgestaltet. Auch die Community-Beteiligung in der klinischen Aidsforschung und die Community-Beteiligung bei Aids-Kongressen ist aus diesen Erfahrungen entstanden.
Heute, in Zeiten breit verfügbarer gut verträglicher und vor allem hoch wirksamer Medikamente gegen HIV stellt sich die Frage nach frühzeitiger Verfügbarkeit neuer Substanzen eigentlich kaum noch, und wenn dann völlig anders. Bei anderen lebensbedrohliche Erkrankungen, für die es bislang keine oder nur wenige Medikamente gibt, dürfte sich die Situation ähnlich darstellen, wie damals mit AZT.
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Text erstveröffentlicht am 20. März 2017 im Magazin der Deutschen Aids-Hilfe
16 Antworten auf „AZT Zulassung 20. März 1987“
[…] der Situation: nachlassender Handlungsdruck. Zu Beginn von ACT UP gab es kein bzw. dann ein Medikament (AZT). Spätestens mit der Verfügbarkeit von Didanosin aber verbesserte sich langsam die […]
[…] lange Jahre jegliche Möglichkeiten, aktiv einzugreifen. Medikamente waren nicht verfügbar. Ab 1987 kamen mit AZT & Co erste Aids-Medikamente in die Praxis. Therapien scheiterten jedoch oft bereits nach kurzer Zeit an Resistenzen und Unverträglichkeiten. […]
[…] ist ebenfalls positiv. Ab Herbst 89 erkrankt er immer wieder, immer schwerer. Candidiasis, AZT-Anämie, PCP, Toxoplasmose, alles was man damals als Aidskranker […]
[…] „Nimm dein AZT“ – schon dieser beiläufige, von vielen Zuschauern wohl kaum wahrgenommene (und nicht selten wohl nicht verstandene) Satz wirft die Frage auf, ob der Hintergrund des ‚alten Aids‘ (in der Zeit vor der Verfügbarkeit hochwirksamer Therapien gegen HIV) tatsächlich noch funktioniert [vgl. auch ‚Aids ist keine düstere Bedrohung mehr‚). Deutlich wird: Rent spielt, was Aids betrifft, in einer anderen Zeit asl der heutigen. Wohnungslos, kaum Einkommen, und HIV-positiv bzw. an Aids erkrankt – die Schärfe dieser Konstellation, die zusätzliche Brisanz die Aids hier (damals) bedeutete, ist heutigen Zuschauern wohl nur selten präsent oder vermittelbar, selbst wenn die Hamburger Inszenierung mit Einblendern z.B. der Hamburger ‚Namen und Steine‘ – Installation aufmerksamen Betrachtern zusätzliche Hinweise gibt. […]
[…] gab es lange Zeit keine gegen HIV. Erst im März 1987 wurde AZT in den USA als erstes Medikament zugelassen, und es war lange Zeit wegen seiner (aufgrund zu hoher Dosierung besonders stark ausgeprägten) […]
[…] Positiver. Endlich eine neue Substanz, die verspricht gegen HIV zu wirken. Und zwar auch dann, wenn das eh gefürchtete AZT nicht mehr funktioniert. Leider brauchen die Studien enorm viel Zeit, während Positive sterben, […]
[…] Rolle. Zwar ist schon bei einigen Substanzen der Patentschutz auch in Europa ausgelaufen, so bei Zidovudine (AZT) im Jahr 2006, Didanosin (ddI) 2006, Saquinavir sowie Lamivudine (3TC) 2011 und Stavudin (d4T) […]
[…] 4. Deutsche Aids-Kongress statt. Noch immer gab es kaum Medikamente (mit ddI war kurz zuvor nach AZT und ddC erst das dritte Medikament in den USA zugelasen worden). Studien dauerten, der bisherige […]
[…] brauche keinen zweiten Blick in seinen Rucksack zu werfen. Es kann nur AZT sein, das blaue Gift, die Pillen gegen Aids. Für einen Augenblick dreht sich alles um mich […]
[…] Meerkatze, Liebe und Mythen, sich unterhaltende Rosetten, was alles auf die Agenda von ACT UP muss, Medizin die umbringen kann, Safer Sex, Fakten und Manipulationen, Schlampen und schwulen Sex, Nachtarbeit und gute Freunde, […]
[…] Arzt, ließ Werte kontrollieren, versuchte halbwegs auf eine gesunde Lebensführung zu achten. Nahm erste Medikamente gegen HIV, als sie verfügbar wurden. Bemühte mich aber, mein ich, mein Sein nicht von HIV bestimmen zu […]
AZT war Bestand meiner ersten 3er Kombi – AZT/Epivir/Crixivan -> „Sie müssen unbedingt 3 Ltr Flüssigkeit zu sich nehmen da sonst die Gefahr der Bildung von Nierebsteinen besteht. Nach 2 Fl Wasser = 1,5 Ltr ging bei mir gar nix mehr. #Panik
Im Jahr 2003 habe ich zum ersten Mal mit einer HEP C Behandlung mit Peginterferon α und Ribavirin angefangen jedoch nach 1Monat wieder abgebrochen da die Behandlung zu diesem Zeitpunkt für mich doch nicht stimmig war.
2. Versuch fand dann in 2005 statt. 15 Monate Peginterferon α und Ribavirin. Ergebnis: HEP C geheilt, VL unter der Nachweisgrenz: Meine Gamma Werte alle im Normbereich.
Meine HIV 3er Kombi bestand damals aus AZT, 3TC, Efavirenz. Da AZT mit Peg Interferon α nicht kompatibel war wurde es gegen ein anderes Medikament ausgetauscht. Bis heute nehme ich Atripla.
[…] Aids, das bedeutet in diesen Jahren Mitte, Ende der 1980er z.B.: – Politiker, bei weitem nicht nur in Bayern, und erst recht ihre schwedischen Handlanger, diskutierten ernsthaft Absonderung, Internierung und Kennzeichnung von Menschen mit HIV und Aids. – Schwule Treffpunkte, Bars Diskotheken Saunen sollen geschlossen werden (in Bayern werden dann z.B. ersatzweise in Saunen die Türen ausgehängt). – In der Öffentlichkeit, auch in Teilen schwuler Szenen, werden HIV-Infizierte wahlweise als ‚Opfer‘, ‚Aids-Bomben‘ oder ‚Virenschleuder‘ wahrgenommen. – Medikamente gegen HIV gibt es in den Anfängen nicht. Das erste später zugelassene Aids-Medikament wird anfänglich so hoch dosiert, dass viele den Eindruck …. […]
[…] 1990 nicht wesentlich verändert. Noch immer gab es kaum Medikamente (mit ddI war kurz zuvor nach AZT und ddC erst das dritte Medikament in den USA zugelassen worden). Studien dauerten, der bisherige […]
[…] 1987 wurde mit AZT das erste Medikament gegen Aids zugelassen. Es war zunächst der einzige Wirkstoff, eingesetzt in Mono-Therapie, zudem sehr (für damalige Verhältnisse) hochpreisig (was u.a. zu Protestaktionen von ACT UP gegen die AZT-Preispolitik führte). […]
[…] Month of AZT (1991) – 150 Pillen, genau die Menge des 1987 zugelassenen ersten Medikaments gegen Aids, die Felix Partz jeden Monat […]