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Kulturelles

die Dorfdisco – eine aussterbende Institution?

Zuletzt aktualisiert am 2. Juli 2024 von Ulrich Würdemann

Die Dorfdisco – eine französische Dokumentation aus dem Jahr 1995 zeichnet ein liebevolles Portrait einer Institution, die einst lebensnotwenig schien, und nicht nur in Frankreich inzwischen am Aussterben ist.

Saturday Night Fever, Thank got it’s friday – Freitag und Samstag Nacht sind nicht erst seit den 1970er Jahren für viele, besonders jüngere, Menschen bedeutende Orientierungspunkte im Leben. Zentraler Anlaufpunkt dabei oft: die Disco. Und gerade in der Provinz, auf dem Land, wo es deutlich weniger Auswahl für das Wochenend-Vergnügen gibt, kam der Dorfdisco eine besondere Bedeutung zu (auch für mich selbst, z.B. Rockpalast Delmenhorst).

Dabei hatte die Dorfdisco auch ihren ganz eigenen Charme: geht es in den hippen aufgestylten Diskotheken der Städte (auch) darum, wer die tollsten, modernsten Klamotten trägt (und das entsprechende Geld dafür hat), die aufwendigste Frisur, die neuesten Schritte beherrscht, so stand die Dorfdisco eher dafür, gemeinsam Party zu machen, den Alltag und andere Äußerlichkeiten wie Mode und Aussehen zu vergessen – und zusammen Spaß zu haben.

Dorfdisco in der DDR 1987 [ADN-ZB Bartocha 11.2.87 Bez. Neubrandenburg: Nienhagen - Patendorf der FDJ- Disco in der Dorfgaststätte ist eine der neuesten Errungenschaften für die jungen Leute in Nienhagen. Die Gaststätte "Am Ziegenmarkt" ist Eigentum der LPG. Sie gehört im weiten Umkreis des Dorfes zu denen, die keine Konkurrenz zu scheuen brauchen. Die Einrichtung wird von einem Ehepaar betrieben, das aus dem Bezirk Dresden kam und eines der neuen Eigenheime bezog. - siehe auch 1987-0211-9 und 10N -; Foto Benno Bartocha, Bundesarchiv, Bild 183-1987-0211-008 / CC-BY-SA 3.0]
Dorfdisco in der DDR 1987 [Neubrandenburg: Nienhagen – Blick in die Dorfdisco  Gaststätte „Am Ziegenmarkt“; Foto Benno Bartocha, Bundesarchiv, Bild 183-1987-0211-008 / CC-BY-SA 3.0]

Bundesarchiv, Bild 183-1987-0211-008 CC BY-SA 3.0 de

Doch es steht schlecht um die einstige Ikone des Vergnügens auf dem Land, um die Dorfdisco. In Deutschland wie in Frankreich melden immer mehr Discotheken Insolvenz an, besonders bedroht ist die Dorfdisco – Diskothekensterben, oder normale Marktbereinigung?

Zunächst starben die herum reisenden mobilen Dorfdisco (s.u.) aus. Das Nachtleben konzentrierte sich auch auf dem Land auf Groß-Discos an zentralen Orten. Doch inzwischen kämpfen auch diese Groß-Discos, Nachfahren der eigentlichen Dorfdisco, immer mehr von ihnen müssen schließen.

Und ‚Schuld‘ an dieser Veränderung ist – nicht nur das Internet. Ja, Smartphone und Dating-Apps haben das Kennenlern- und Party-Verhalten deutlich verändert. Doch auch sehr hohe Getränke-Preise in den Discos haben gerade auch auf dem Land den Trend befördert, sich lieber im Supermarkt oder ‚bei der Tanke um die Ecke‘ Bier zu holen. Um zu den Großdiscos zu kommen braucht es Autos. Und einenFahrer, der nicht trinkt. Polizeikontrollen wurden auch auf dem Land vielfach deutlich intensiviert – keine gute Idee mehr, sich mit Promille hinter dem Lenkrad erwischen zu lassen. Und womöglich den – auf dem Land besonders wichtigen – Führerschein zu riskieren.

Zu teuer. Zu weit. Zu hohes Risiko. Andere Alternativen. Viele Gründe also, die das Party-Verhalten gerade auf dem Land verändert haben (und wohl nicht nur in Frankreich). Und somit beitragen zum Untergang der Dorfdisco.

Samstag Abend auf dem Land, samedi soir en province – in Wochenende ohne die Dorfdisco scheint sinnlos

Der Dorfdisco, dieser einst gerade in der Provinz so lebensnotwendig scheinenden Institution, hat Mitte der 1990er Jahre eine französische Dokumentation ein zauberhaftes Denkmal gesetzt:

Die Dokumentation ‚samedi soir en province‚ erzählt eindrücklich vom Leben junger Menschen in der Provinz Frankreichs, und der Bedeutung, die für sie der Samstag Abend in der Dorfdisco hat.

Samedi soir en province from Virgile on Vimeo.

La Chatre, eine kleine Gemeinde im Départment Indre mitten in Frankreich – und völlig ‚auf dem Land‘. Bekannt höchstens durch George Sand, die im nahe gelegenen Chateau von Nohan lebte, und sich zu ihrer Zeit des öfteren im Ort aufhielt.

Nadège, Ludovic, Stéphanie, Guillaume und Stephan (der sich“Gazoil“ (Diesel) nennt), alle um die 18 oder 20 Jahre alt, leben und arbeiten hier. Der Höhepunkt ihres Wochenendes: Treffen mit Freunden, Party in der Dorfdisco.

Sie treffen sich entweder im ‚Vibration‚ oder im ‚Top Club‚. Entweder in der gestylten, mit der neuesten Technik ausgestatteten Groß-Disco auf dem Land. Oder in der mobilen Disco, die in der Region herum reist. Jeweils neu aufgebaut für eine Nacht, ein Wochenende alle paar Monate.

Jean-Michel Destang portraitiert in der 52minütigen Doku aus dem Jahr 1995 die jungen Menschen, ihr Leben, und was die Dorfdisco für sie bedeutet. Sie sprechen über Liebe und Sex, über ihr Leben auf dem Land, über Einsamkeit – und eben über die Disco.

Destang portraitiert gerade mit Form der in der Region herumreisenden mobilen Dorfdisco in seiner Dokumentation zudem auch eine inzwischen wohl ausgestorbene Form der Samstag-Abend – Unterhaltung auf dem Land.

Die 52-minütige Dokumentation des Regisseurs Jean-Michel Destang (1992 ausgezeichnet mit dem prix Albert Londres) wurde 1995 im französischen Fernsehen France 2 erstausgestrahlt.

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Von Ulrich Würdemann

einer der beiden 2mecs.
Schwulenbewegt, Aids- und Therapie-Aktivist. Von 2005 bis 2012 Herausgeber www.ondamaris.de Ulli ist Frankreich-Liebhaber & Bordeaux- / Lacanau-Fan.
Mehr unter 2mecs -> Ulli -> Biographisches

Eine Antwort auf „die Dorfdisco – eine aussterbende Institution?“

Ja die Dorfdisco der 70er und 80er Jahre – die Atmosphäre dort war familiärer als die den Großstadtdiscos – man kannte sich.

Und es gab damals zwei Arten von Dorfdisco – einmal die „Schweineläden“ – große Tanzsääle mit Saturday-Night Fever und Cola Korn als Getränkerenner – und andererseits die Progressive-Discos mit Teestube und alten Sofas als Inventar, wo ich zu Hause war.

Deren kannte ich fast alle ab Ende 70er und 80er in Niedersachsen, Ostwestfalen und bis Kassel:
Ede Wolf OL, Etzi OL, Rockpalast DEL, Lindenhof Wetschen/Diepholz, Scala Lastrup, Fiz Oblon Bippen, Old Inn Aurich, Music Circus Lohne-Märschendorf, Collosseum Oppenwehe, Kasbah Heerstedt, Ear Kuhstedt, Shakti Wallhöfen, Stagges OHZ, Peins in Lilienthal, Kuhmühlen bei Sittensen, Welcome Hützel, Mobilé Bad Salzdethfurt, ? in Hermannsburg, Outpost Einbeck-Vogelbeck, BB in Höxter, Felsenkeller in Höxter, Papiermühle Adelebsen, Clochard Göttingen, Alraune Göttingen, Treibhaus Zierenberg, Savoy Elgershausen, Portrait Waldkappel, Musiktheater Kassel, Hellepark Herford-Elverdissen, Musikbox Minden, Forum Enger, Zweischlingen, Cheeta Oerlinghausen, Hunky-Dory Detmold, Badewanne und PC69 in Bielefeld, Albatros in Mesum.

Und dann gab/gibt es noch die super-Legenden: Scala Herford, Metas in Norddeich, der ur-Hydepark in der Rheiner Landstr. Osnabrück und das Aladin Bremen (Kult bis ungefähr 1884) sowie das Beebop Hildesheim.

Von 81-87 war ich selbst DJ in einigen dieser Läden und pflegte mit den Inhabern vieler Clubs einen freundschaftlichen Kontakt. Nicht wenige sind leider bereits gestorben.

Große „Schweinediscos“ im Großraum Bremen waren: Infinity Emtinghausen, Zeppelin Oyten, Starship OHZ, Meyers Tanzpalast Wehldorf, Schusterkrug Wagenfeld, PamPam Hagen,

Der Niedergang vieler Szene-Läden und Dorfdiscos ging Anfang der 90er los, und hatte mehrere Ursachen, die zusammenkamen:
1. Als die Techno-Szene aufkam, änderte sich auch das Ausgehverhalten. Die Clique traf sich zu Hause und entschied dann, zu welchem „Event“ man gemeinsam hinging. Mottopartys kamen in Mode und die Discos verloren ihr festes Stammpublikum und damit auch ihren festen eigenen Stil.
In den 70er/80ern hatte man seine/n Stammladen/Stammläden und traf dort seine gleichgesinnten Freunde, ohne sich zuvor zu verabreden. Als die Discos nicht mehr der automatische Treff waren, begann deren Niedergang.

2. Hinzu kam, dass in den 90ern viele XTC schluckten und in der Disco nur Leitungswasser tranken. Dadurch ging auch der Umsatz zurück. Die Jugend war auch wieder konsumfreudiger und musste mehr Geld für Klamotten ausgeben – und auch für die Handyrechnung, was es zuvor nicht gab. Da blieb unweigerlich weniger Geld bei den Gastronomen.

3. spielte auch der Pillenknick und demografische Wandel eine große Rolle, denn in den 90ern waren die Babyboomer aus dem Discoalter raus und das Gästepotenzial der nachfolgenden Generation sank um 40-50%.

4. Auch verschärften sich Lärmschutzverordnung, Parkplatzanforderungen, Brandschutz und andere Konzessionsauflagen, so dass viele Läden schließen mussten.

Es war eine tolle Zeit, die ich mit Dankbarkeit nicht missen möchte.

Wenn ich mir hingegen das Ausgehverhalten und die vielfache Aggressivität der jetzigen Twens so anschaue, dann schüttel ich nicht selten den Kopf. Heute ist der Eingangsbereich einer Disco eine Hochsicherheitszone mit haufenweise Security, Waffencheck und Taschenkontrolle.

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