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Homosexualitäten

Guy Hocquenghem Das homosexuelle Verlangen (1974) – wiedergelesen nach 33 Jahren

Zuletzt aktualisiert am 14. März 2020 von Ulrich Würdemann

Der französischer Soziologe und bedeutendes Mitglied der französischen Schwulenbewegung Guy Hocquenghem veröffentlichte im März 1972  „Le Désir Homosexuel“ (auf deutsch erschienen 1974 „Das homosexuelle Verlangen“). Einige sehr subjektive Gedanken nach einem erneuten Lesen 2013.

Guy Hocquenghem Das homosexuelle Verlangen (1974) – wiedergelesen nach 33 Jahren

Wohl 1980 oder 1981 kam dieses Bändchen in meine Büchersammlung, erstanden wie so vieles im ‚Männerschwarm‚ am Pferdemarkt. Damals war ich neu und ein ‚völlig unbeschriebenes Blatt‘ in schwulenbewegten Zusammenhängen, gerade auf dem Weg an meinem Studienort mit einigen Gefährten die ‚Schwule Aktion Bremerhaven‚ zu gründen – hatte aber in Hamburg einen sehr engagierten schwulen Buchhändler, der mein Interesse und meinen Wissensdurst schnell erkannte und mich (u.a.) mit wichtigen Schriften der Schwulenbewegung der 1970er Jahre versorgte. So auch mit Guy Hocquenghem Das homosexuelle Verlangen .

Guy Hocquenghem analysiert darin, woher die Begriffe Homo- und Heterosexualität stammen, welche Ideologien seiner Ansicht nach dahinter stehen, und fragt nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sowohl der Repression als auch einer moderaten liberalen Haltung der ‚Duldung‘ von Homosexualität. Er nimmt dabei wesentlich Bezug auf Deleuze/Guattaris Anti-Ödipus [1] sowie immer wieder auf Freud.

„Das homosexuelle Verlangen“ ist Teil einer Trilogie mit den weiteren Teilen  „L’Après-Mai des faunes“ (1974) und „Le dérive homosexuelle“ (1977). “ Das homosexuelle Verlangen “ wurde damals als ‚Manifest der homosexuellen Revolution‚ betrachtet. Es gilt inzwischen als eines der ersten Bücher der Queer-Theory.

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Ich frage mich beim erneuten Lesen zunächst längere Zeit erstaunt, was bedeutete mir dieses Buch damals, und warum? Und was bewirkte es?
Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Texten der damaligen Zeit finde ich hier kaum eigene Anmerkungen, Notizen, Markierungen im Buch, die mir Aufschluss geben können. So bleibt Verwunderung.  Das viele Psychologisieren sagt mir heute nur noch wenig. Der Text mutet mir in weiten Teilen ‚gestrig‘ an, führt Debatten die mir selbst heute nicht (wirklich: nicht mehr?) relevant erscheinen (wie Ödipus-Komplex, Psychiatrie-Debatte,  antihomosexuelle Paranoia).

Spannend und des weiteren Nachdenkens immer wieder wert hingegen scheinen mir auch heute seine politischen (anstelle: psychologischen) Analysen (z.B. Beginn von Teil III. ‚Familie, Kapitalismus, Anus‘), ebenso wie seine Gedanken zu Phallus, Männern und Herrschaft, oder (Deleuze / Guattari folgende) Gedanken zum Wesen der Lust (Phallus – Anus, S. 74 ff.). Gedanken wie diese:

  • Der Kapitalismus macht seine Homosexuellen zu mißratenen Normalen, ganz wie er seine Arbeiter zu falschen Bourgeois macht. Mehr als alle anderen manifestieren die falschen Bourgeois die Werte der Bourgeoisie (vgl. die proletarischen Familien), und die mißratenen Normalen betonen die Normalität und übernehmen ihre Werte für sich (Treue, Liebesverhalten etc.).“  (S. 72)
  • die Furcht vor Geschlechtskrankheiten als Schutzgitter der sexuellen Normalität dient.“ (S. 37)

Stellenweise erweckt der Text den Eindruck des Durchscheinens späterer queertheoretischer Gedanken, etwa wenn Hocquenghem vom „Ende der sexuellen Norm überhaupt“ spricht (S. 139)  – oder ist dies eine ‚Vereinnahmung im Nachhinein‘?

  • der Undifferenziertheit des Verlangens begegnen“ (S. 80)
  • Eher schon wäre das homosexuelle Verlangen zu beschreiben als ein Verlangen nach Lust unabhängig vom System, nicht bloß innerhalb oder außerhalb des Systems.“ (S. 102, Hervorhebung im Original)
  • Doch anstatt diese Streuung der Liebesenergie als Unfähigkeit zur Orientierung auf ein Zentrum zu interpretieren, kann man in ihr das System des nicht-exklusiven Schweifens und Sichverbindens des polymorphen Verlangens erblicken.“ (S. 127)

Gegen Schluss des Buches, lesenswert auch heute Hocquenghems – auch aus der Zeit der 1970er Jahre- Schwulenbewegung heraus zu betrachtenden – Gedanken zu „Der homosexuelle Kampf“ (Kap. V), den er auch den „gesellschaftlichen Kampf des Verlangens“ nennt, insbes. Überlegungen zum Begriff der Revolution wie

  • Hier ist es den homosexuellen Bewegungen gemeinsam mit andere gelungen, einen Bruch aufzureißen, durch den schlagartig deutlich geworden ist, wie reaktionär die Erwartung eines Umsturzes ist, der von einem virilen, breitschultrigen Proletariat herbeigeführt werden soll“ (S. 133)
    [dies eine der wenigen bereits damals markierten Stellen – ich erinnere mich an erregte Debatten mit Vertretern gewisser ‚linker‘ Gruppierungen über Haupt- und Nebenwiderspruch, und warum mein Engagement in der Schwulenbewegung der falsche Ansatz sei].
  • Das traditionell-revolutionäre Denken und Handeln hält an der Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten wie an etwas selbstverständlichem fest. Kennzeichen der homosexuellen Intervention ist dagegen, daß sie das Private, die schamhafte kleine Heimlichkeit der Sexualität, in die Öffentlichkeit, in die gesellschaftliche Organisation eingreifen lässt.“ (S. 134)

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Letztlich bleibt mir nach dem erneuten Lesen mit über 30 Jahren Abstand zunächst der Eindruck eines in weiten Teilen ein wenig ‚abgestandenen‘ Buches – mit einigen auch heute noch recht frisch anmutenden Passagen, wie z.B.

  • Es kommt also nicht einmal so sehr darauf an, ob man mit Knaben Geschlechtsverkehr hat oder nicht, sondern ob man ein guter Homosexueller ist. Wenn ihr nicht sublimiert, so seid euch eurer Verworfenheit bewußt!“  (S. 61; Hervorhebung im Original)
  • Der produzierte Homosexuelle braucht nun nur noch den Platz einzunehmen, den man ihm reserviert hat, er braucht nur noch die Rolle zu spielen, die man für ihn programmiert hat, – und er tut es mit Begeisterung und will immer noch mehr davon.“  (S. 56; Hervorhebung im Original)

Allein, diese Sätze könnten heute Ausgangspunkt sein für womöglich spannende Gedanken, Fragen an die heutige Situation, jedoch als Sätze, die ich losgelöst vom Kontext ihres Entstehens verwenden würde.

Ein Buch als ‚Satz-Steinbruch‘ – welch seltsamer Gedanken. Doch – durchhalten!, die Lektüre lohnt, gerade gen Schlusskapitel V und Schlußfolgerung.

Die homosexuelle Bewegung zeigt auf, daß die Zivilisation jene Falle ist, in der sich das Verlangen verfängt.“ (S. 136)

Hocquenghems ‚ Das homosexuelle Verlangen ‚ ist eine letztlich lohnenswerte Lektüre, auch über 40 Jahre nach seinem ursprünglichen Erscheinen. Mit Gedanken, die auch heute noch die Debatte bereichern könnten.

Am 10. Mai 2010 erschien das Buch in Frankreich in einer Neu-Auflage.

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Flugblatt der FHAR 1971
Flugblatt der FHAR 1971 [2]

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Guy Hocquenghem – Video

Guy Hocquenghem 1979 im französischen TV über den französischen Dokumentarfilm ‚Race d’Ep‚, an dem er beteiligt war:
[ Vieo leider nicht mehr online ]

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Guy Hocquenghem
Das homosexuelle Verlangen – „Nicht das homosexuelle Verlangen ist problematisch, sondern die Angst vor der Homosexualität“
München 1974
(nur noch antiquarisch erhältlich)
in Frankreich 2000 neu erschienen mit einem (neuen) Vorwort des französischen Philosophen René Schérer

siehe auch:
Bill Marshall: Guy Hocquenghem. Theorising the Gay Nation, London 1996
(US-Ausgabe Durham 1997 mit dem Untertitel ‚Beyond Gay Identity‚)

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[1] Gilles Deleuze (frz. Philisoph, 1925 – 1995) und Félix Guattari (frz. Psychoanalytiker, 1930 – 1992): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (mit einem Vorwort von Michel Foucault; Frankfurt 1974; original 1972: L’anti-Oedipe), Kritik der Psychoanalyse nach Freud, die als Instrument der Aufrechterhaltung von Repression betrachtet wird.
[2] Der Text des Flugblattes der FHAR 1971 lautet etwa: „Wir sind über 343 Schlampen. Wir haben uns von Arabern in den Arxxx fxxxen lassen. Wir sind stolz darauf und wir werden es wieder machen. Unterzeichne, und lass auch andere dies mit unterzeichnen!“ [Übers. UW] Der Text nimmt Bezug auf das (in Frankreich damals breit bekannte) Manifest der 343, eine Anzeige im Nouvel Obervateur (5. April 1971), in der 343 Frauen bekannten abgetrieben zu haben.

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in der Reihe „Wiedergelesen“ siehe auch:
2mecs 05.06.2013: Schwule Regungen, Schwule Bewegungen / Willi Frieling 1985 – wiedergelesen nach 28 Jahren
2mecs 21.08.2013: Drei Milliarden Perverse / Diekmann, Pescatore 1980 – wiedergelesen nach 33 Jahren

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Von Ulrich Würdemann

einer der beiden 2mecs.
Schwulenbewegt, Aids- und Therapie-Aktivist. Von 2005 bis 2012 Herausgeber www.ondamaris.de Ulli ist Frankreich-Liebhaber & Bordeaux- / Lacanau-Fan.
Mehr unter 2mecs -> Ulli -> Biographisches

27 Antworten auf „Guy Hocquenghem Das homosexuelle Verlangen (1974) – wiedergelesen nach 33 Jahren“

“Das traditionell-revolutionäre Denken und Handeln hält an der Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten wie an etwas selbstverständlichem fest. Kennzeichen der homosexuellen Intervention ist dagegen, daß sie das Private, die schamhafte kleine Heimlichkeit der Sexualität, in die Öffentlichkeit, in die gesellschaftliche Organisation eingreifen lässt.”

War es nicht das was gerade in der 68er Bewegung u.a. generell zum Ausdruck gebracht wurde? ich denke da an das berühmte Foto aus der Kommune 1 https://linksunten.indymedia.org/de/system/files/images/2207398851.jpg

„Eher schon wäre das homosexuelle Verlangen zu beschreiben als ein Verlangen nach Lust unabhängig vom System, nicht bloß innerhalb oder außerhalb des Systems.”

Ein Aspekt der mir – heterosexueller Mann der ich bin – die Zeit von 1967 – 1975 bewußt gemacht hat.

Guy Hocquenghem nahm bereits als Student im Mai 1968 an der Besetzung der Sorbonne teil – er war Teil der französischen Studentenbewegung — also kein Wunder, dass seine Gedanken dich an die „68er-Bewegung“ erinnern 😉

Danke für diesen interessanten Bericht von einer Relektüre! Für mich ist die zentrale Frage: Was macht (vom „Psychologisieren“ und dem poststrukturalistischen Jargon abgesehen) den Text so „gestrig“? Ist es nicht so, dass die deutsche und sonstige Schwulenbewegung (oder LGBT-usw-Bewegung) später dann einen ganz anderen Weg gegangen ist, an dessen Rändern (und oft ungeliebt, ja gehasst) zwar die sogenannte Queer Theory blühte, der aber vor allem ein Weg in Identität, Institutionalisierung und „Verbürgerlichung“ war? Wer hätte 1974 daran gedacht, dass einmal das Ehegattensplitting für Homosexuelle ein Thema sein könnte! Gegenüber dem, was sich durchgesetzt hat, sieht Hocquenghem mit seiner Verweigerung von Identität, Kapitalismus, Amerikanisierung ungeheuer fremd aus. Was ihn mir wiederum unendlich sympathisch macht … Hoffe, Dein Text trägt dazu bei, dass der eine oder andere Hocquenghem wieder oder erstmals liest!

was mir ‚gestrig‘ erschien beim erneuten Lesen? Das ausgiebige (ermüdend lange) Beschäftigen mit Freud, mit psychologischen Konstellationen, mit dem Ödipus-Komplex.

Die politischeren Analysen hingegen (siehe Text-Zitate) fand ich sehr anregend, gar nicht gestrig (sieht man von einigem Vokabular ab, das heute vielleicht anders gewählt würde). Das machte eher deutlich, wie viel wir an Breite und Themen verloren haben – ab Mitte der 1980er, und auch in Folge der Aids-Krise.

Für mich ist die eigentliche Entdeckung (nun, so neu ist der Gedanke ja nicht, ich weiß), dass da einige spannende Ideen schlummern, die auf erneute Betrachtung und Reflektion warten, Debatten heute bereichern könnten

Unbedingt! Ich werde (d.h. ich habe schon damit begonnen) mir bei der Relektüre so viele Zitate herausschreiben, dass es ein kleines politisches Brevier ergibt, aus dem ich dann immer zitieren kann: „Wie schon Hocquenghem sagte …“ – Das mit der Psychoanalayse ist, da gebe ich Dir auch Recht, sehr zeitverhaftet. Es gab ja damals praktisch nicht viel mehr zum Thema Homosexualität als Psycho-Texte. Hast Du je „Über die Schwulen“ (1979) von Berhard Dieckmann gelesen? Erster Satz: „Der psychoanalytischen Schule von Jacques Lacan war wohl als bisher einziger das Verhältnis von Gesetz und Begehren kein Anathema.“ Wumms! Daran habe ich damals, zweite Hälfte der 80er, als junger Student LANGE geknobelt. Und in dem Stil geht’s 200 Seiten lang. Geniales Buch!

Ja, der von „Drei Milliarden Perversen“ und den „Elementen einer homosexuellen Kritik“! Ja, ist wohl eine Art „Psycho-Buch“, aber eher so wie Deleuze/Guattaris „Anti-Ödipus“ und „Tausend Plateaus“ unter anderem auch Psycho-Bücher sind. Muss es mal wieder komplett lesen, vielleicht schreib ich dann drüber und erzähle mehr. (Jedenfalls ist es noch antiquarisch zu bekommen, wie ich gesehen habe.)

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