Zuletzt aktualisiert am 24. April 2023 von Ulrich Würdemann
Sorglosigkeit – ist das schlimm? Warum warnen Menschen vor ’neuer Sorglosigkeit‘? Angst-Szenarien oder ‚Rettung der Lüste‘?
Die Sorglosigkeit nimmt zu, die Gefahr einer ’neuen Sorglosigkeit‘, nachlassende Angst und ‚mehr Sorglosigkeit‘, Formulierungen wie diese werden uns in den kommenden Wochen – rund um Welt-Aids-Tag und neue HIV-Zahlen – wieder gehäuft begegnen.
Warum kommen diese Formulierungen, und wie begegnen wir ihnen? Was ist eigentlich so gefährlich an ‚Sorglosigkeit‘ ?
Die ’neue Sorglosigkeit‘ als Bedrohung – eine kurze Erinnerung
Die als Vorwurf oder Bedrohung formulierte bzw. konstatierte ’neue Sorglosigkeit‘ verfolgt insbesondere (aber nicht nur) Schwule schon viele Jahre durch die Aids-Krise.
Nur einige Beispiele aus den vergangenen 15 Jahren:
- So Ende der 1990er Jahre. Kaum hatten wirksame Kombi-Therapien für endlich neue Hoffnung unter Aids-Kranken, Positiven und Schwulen gesorgt – kam (z.B. per Tagesspiegel) der Vorwurf der ’neuen Sorglosgkeit‘, die sich „breit gemacht“ habe. Eine Formulierung, die in den kommenden Jahren eine eigenartige ‚Karriere‘ machen sollte …
- Meist, aber nicht nur in Bezug auf HIV. Ist es einmal nicht Aids, dann kommt die Syphilis. So konstatiert 2001 z.B. die pharmazeutische Zeitung, das RKI zitierend, gerade bei jungen Menschen wirke womöglich der ‚Aids-Schock‘ [welch in diesem Kontext demaskierendes Wort] nicht mehr, deswegen gebe es das Phänomen der ’neuen Sorglosigkeit‘. Und die ‚Zeit‘ polemisiert, Schwule seien wieder ‚ahnungslos und risikobereit‘ … Selbst das ‚Handelsblatt‘ und die Bundesgesundheitsministerin sorgen sich angesichts … na klar, der ’neuen Sorglosigkeit‘.
- Überhaupt, auch speziell die jungen Schwulen bleiben im Fokus … so z.B. 2004 in der RP oder in der FAZ 2008, natürlich … wegen der ’neuen Sorglosigkeit‘.
- Steigen die HIV-Neudiagnosezahlen einmal – auf im internationalen Vergleich sehr niedrigem Niveau – etwas an, wer ist schnell als ‚Schuldiger‘ identifiziert? Klar – (wie hier 2005 oder hier in der ‚Welt‘ 2006), die ’neue Sorglosigkeit‘.
- Das sei alles ‚besorgniserregend‘, warnen auch führende Aids-Behandler schon 2003.
- Und drei Jahre später, 2006, ist die Lage schon so dramatsich, dass selbst die Bundeswehr sich Sorgen macht … worüber? Na klar, auch die Bundeswehr sorgt sich … über die ’neue Sorglosigkeit‘ …
- Oder einige Jahre später, als mit dem EKAF-Statement langsam der Gedanke in die Öffentlichkeir drang, erfolgreich behandelte Positive könnten vielleicht sexuell gar nicht mehr infektiös sein. Was war die Reaktion (auch in Aidshilfen)? Dann steige doch die Gefahr dass diese Erkenntnis ‚missbraucht‘ werde [wieder so eine demaskierende Formulierung]. So etwas dürfe man doch nicht laut sagen. Denn das führe doch … eben, zu wieder mehr neuer Sorglosigkeit …
- Erinnern wir uns schließlich an die Justiz- und Medienaffäre um das unfreiwillige Outing der Sängerin Nadja B. im Jahr 2009. Zahllose Blätter (wie das ‚Hamburger Abendblatt‘) titelten und schrieben im Stil der „neuen Sorglosigkeit, nicht nur in der homosexuellen Szene“. Warum? Na ganz klar, weil „Aids seinen Schrecken verloren hat“. Hören wir etwa einen Unterton des Bedauerns?
- 2013 ist die konstatierte ’neue Sorglosigkeit‘ so schlimm, dass sie (in der ‚Welt‘) als Grund für eine Operngala herhalten darf …
- … derweil die ’neue Sorglosigkeit‘ – zu der es, ‚informiert‘ uns z.B. 2012 der ‚Tagesspiegel‘ – selbstverständlich ‚keinen Grund‘ gebe – bestimmt schon 20jährigen Geburtstag feiern müsste … und gar so neu nicht sein kann …
Die ’neue Sorglosigkeit‘ – ein Konstrukt des Generalverdachts
Conclusio: Wann immer es in den vergangenen knapp 20 Jahren eine gewisse Entspannung möglich wurde, wenn es darum ging, dass das Bedrohungs-Szenario rund um Aids abgebaut werden konnte – immer genau dann kam als Reaktion eine (nicht nur mediale) Zuschreibung: die alte Mär von der ’neuen Sorglosigkeit‘.
Gerne wurde sie formuliert, indem Positive oder Schwule oder junge Leute generell unter Generalverdacht gestellt werden. Vor der selbstverständlich gewarnt, die – möglichst mit allen Mitteln – bekämpft werden müsse.
Gerade so, was wäre das Schlimmste, was der Gesellschaft passieren könnte, eben Sorglosigkeit.
Sorglosigkeit – warum so gefährlich?
Abgesehen davon, dass der Vorwurf der ’neuen Sorglosigkeit‘, fragt man nach, selten konkretisiert und soweit mir bekannt nie mit Fakten begründet werden konnte, sich vielmehr die ’neue Sorglosigkeit‘ als alter ‚Virus-Mythos‘ erweist, was ist eigentlich so schlimmes dran an der Sorglosigkkeit?
Was ist gefährlich an der Sorglosigkeit?
Ich will jetzt gar nicht mit Foucault, Dispositiven der Macht und der Bedeutung der Kontrolle der Sexualität für gesellschaftliche Kontrolle und Machtausübung kommen (wer das nachlesen mag, dem sei u.a. „Sexualität und Wahrheit“ empfohlen, oder dieser Beitrag von mir auf ondamaris aus dem Jahr 2011).
Sondern ein Blick in die Geschichte reicht auch …
Exkurs: Sanssouci oder Friedrichs Sorglosigkeit
Friedrich II. verfügte mit Kabinettsorder vom 13. Januar 1745, dass ihm zu Potsdam „ein neues Lust-Haus“ gebaut werde. Schon kurz darauf folgte die Grundsteinlegung.
Friedrich II. wählte den Namen seines Schlosses mit Bedacht. Er ist im Mittelbau über dem mittleren Rundbogen-Fenster in goldenen Buchstaben genannt:
Sanssouci, „Ohne Sorge“ – der Name, den Friedrich seinem Schloß gab, spricht Bände. Und nicht ohne Grund wurde gerade dieses Schloß, sein ‚maison de plaisance‘ (i.e. Lustschloss, intimer Rückzugsort abseits von Zeremoniell und Staatspflichten), zu seinem Sommersitz und Lieblings-Ort.
Er selbst formulierte es so: „Quand je serai là, je serai sans souci“ („Wenn ich dort bin, werde ich ohne Sorgen sein“).
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Sorglosigkeit – Bedrohungs-Szenario oder schönes Ziel?
Ist also ein Leben, oder auch nur Momente ‚ohne Sorge‘ [und in diesem Sinn gemeint: Sorglosigkeit] nicht vielmehr eigentlich genau der Zustand, den wir erreichen wollen?
Lassen wir uns den Begriff der ‚Sorglosigkeit‘ nicht nehmen, lassen wir ihn nicht umdeuten zu etwas bedrohlichem, Negativem!
Was gibt es schöneres als Sex, bei dem ich mich unbeschwert völlig fallen lassen, völlig sorglos, völlig selbstvergessen sein kann?
Ist es nicht geradezu unser Ziel, dass wir, dass die Schwulen, dass jedermann und jederfrau sich – zumindest im Kontext HIV/Aids – beim Sex möglichst keine Sorgen mehr machen muss?
Ist diese Sorglosigkeit nicht eigentlich – statt eines vermeintlichen Vorwurfs – unser Ziel? Das Ermöglichen dieser Art von Sorglosigkeit geradezu die Zweckbestimmung von Aidshilfe?
Wäre dies, nebenbei bemerkt, nicht auch eine Chance, vielleicht ein kleines Stück der Verwüstungen zu ‚heilen‘, die Aids in den vergangenen 30 Jahren angerichtet hat?
„Hans Peter Hauschild verband messerscharfe Analyse mit uneingeschränkter Solidarität für die Schwächsten und mit einer charismatischen Begeisterungsfähigkeit für die Rettung der Lüste“. Mit diesen Worten begründete Carsten Schatz, bis Oktober 2014 Vorstand der DAH, warum die Deutsche Aids-Hilfe Hans Peter Hauschild zum Namenspatrons ihres Preises gewählt hat.
Liegt damit die von Hans Peter Hauschild formulierte „Rettung der Lüste“ nicht eigentlich geradezu im – im Aids-Kontext heute endlich wieder möglich erscheinenden – Wiedererlangen der Möglichkeit von Sorglosigkeit?
Stellen wir uns dem infamen Vorwurf der ’neuen Sorglosigkeit‘ entgegen, wo immer er uns begegnet!
Und streiten wir für das Recht auf und die Möglichkeit von mehr Sorglosigkeit!
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Der Text wurde am 5. Dezember 2014 im Magazin der Deutschen Aids-Hilfe zweit-veröffentlicht: Sorglosigkeit und die Rettung der Lüste
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Nachtrag 16. Januar 2017:
Sorglosigkeit und die Schuldfrage
Der Vorwurf der ’neuen Sorglosigkeit‘ greift auch zurück auf das im Verlauf der Aids-Krise immer wieder verwendete Konstrukt der Schuld, der ‚unschuldigen‘ Aids-‚Opfer‘ und damit auch implizit ’schuldigen‘ Aidskranken.
In der gedanklichen Verlängerung des Vorwurfs der Sorglosigkeit steckt direkt auch ein Schild-Vorwurf, eine Zuweisung von Schuld an einer Infektion (‚wärest du nicht so sorglos gewesen, dann …).
Der Vorwurf der Sorglosigkeit steht mit der impliziten Schuldzuweisung auch in direktem bezug zu Stigmatisierung von Menschen mit HIV.
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17 Antworten auf „Sorglosigkeit und die Rettung der Lüste“
sehr fein, danke
merci 🙂
Oh Gott, wie lange sehne ich mich schon nach Sorglosigkeit!! Welch ein traumhafter Zustand …
ja – einerseits ein traumhafter Zustand.
Damit auch: erstrebenswert.
Also womöglich: Ziel.
Und meines Erachtens: errichbar (im Kontext HIV)
Dankeschön für die schöne Zielbeschreibung!
Nun, für mich ist es mehr als ’nur‘ eine Zielbeschreibung.
Vieles ist heute schon möglich.
Gut recherchiert und genau auf den Punkt. Danke.
Merci!
[…] Aber – ist PrEP das? Ermöglicht PrEP die ersehnte ‘neue Sorglosigkeit’ (Sorglosigkeit hier immer positiv bewertet, im Sinne ̵…)? […]
[…] in einem Post vom 3. November 2014 auf 2mecs zu lesen. Und […]
[…] auch 2mecs 03.11.2014: Sorglosigkeit und die Rettung der Lüste 2mecs 27.01.2014: Aids ist keine düstere Bedrohung […]
[…] siehe hierzu auch Ulrich Würdemann: Sorglosigkeit und die Rettung der Lüste […]
[…] gibt es das wirklich – ‚neue Sorglosigkeit‚? […]
[…] was ist eigentlich so ’schlimm‘ an Sorglosigkeit? -> Sorglosigkeit und die Rettung der Lüste […]
[…] Neue Sorglosigkeit? Keineswegs, keine Spur von neuer Sorglosigkeit, zu diesem Ergebnis kommt auch Alan Wardle, Leiter der Abteilung Gesundheitsförderung bei der britischen Organisation Terrence Higgins Trust THT. […]
[…] PrEP. Seit Beginn der HIV-Prävention wird fast in jedem einzelnen Jahr eine trotzdem immer wieder „neue“ Sorglosigkeit entdeckt, auch wenn die recht stabilen Infektionszahlen das eigentlich nie hergeben. Ob Sex ohne […]