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Nachdenkliches

vom Schwinden der Zuversicht

Zuletzt aktualisiert am 26. Juni 2024 von Ulrich Würdemann

Immer freier, immer liberaler wird diese Gesellschaft werden, immer emanzipierter. Dies war als junger Mensch meine feste Überzeugung. Und diese Zuversicht war eine Grundlage dafür, mich dafür auch selbst zu engagieren.

Selbst in übelsten Aids-Zeiten, als kurzzeitig die reale Gefahr bestand, dass Repression und Reaktion sich wieder durchsetzen, sich konkret gegen mich, gegen uns Schwule wenden, selbst nachdem diese Auseinandersetzung abgeschlossen war, blieb in mir immer die Überzeugung: die Gesellschaft wird sich weiterentwickeln. Zum Guten, Besseren, zum Freieren, zum Emanzipierten.

voll Tatendrang und Zuversicht - Ulli 1988
voll Tatendrang und Zuversicht – Ulli 1988

Wie diese Entwicklung verlaufen würde, die Frage des oder der richtigen Wege, all der Verirrungen, falschen Abbiegungen und Auseinandersetzungen um die Richtung, all das gehörte zum politischen Engagement. Aber die generelle Richtung, die schien mir immer klar.

Es gab immer die große Zuversicht: es geht zur Freiheit hin.

Und nun, mit Mitte 60, erlebe ich die Entwicklung nicht nur in ostdeutschen Bundesländern, sehe ich die Europawahlergebnisse, sehe ich wie sich die Politik in einigen unserer Nachbarländer (zum Beispiel Ungarn, Österreich, Niederlande, Frankreich) entwickelt.

Und ich frage mich, war diese Grundüberzeugung ein Irrtum?
Könnte die Entwicklung auch wieder zu mehr Revanchismus, mehr Repressionen, mehr autoritärem Staat zurück gehen?
War meine Zuversicht unbegründet? Vielleicht sogar naiv?

Und schlimmer noch, eine weitere Gewissheit gerät in’s Wanken: Während ich früher immer das Gefühl hatte, es gibt – (rein theoretisch, nur so im Hinterkopf, man wird es wohl nicht brauchen, aber doch gut zu wissen) – Fluchtpunkte, es gibt Frankreich, es gibt die Niederlande, es gibt die USA, was ist damit heute? All diese Fluchtpunkte scheinen sich in Rauch aufzulösen.

Nicht nur bietet die Entwicklung in Zukunft das reale Potential einer desaströsen Bösartigkeit, sondern auch die Fluchtmöglichkeiten, diese potentiellen Notlösungen im Hinterkopf, werden immer kleiner, immer hypothetischer, verschwinden im Nebel.

Diese Grundhaltung, dass insgesamt gesehen alles besser wird, sich zur Freiheit hin entwickeln wird, diese Grundhaltung hat mich immer getragen, diese Zuversicht war immer Teil meines Fundaments.

Und nun? Wo bleibt diese Zuversicht? Hat sie noch ausreichend Grund, und wenn nicht, was macht das mit meinem Fundament?

Von Ulrich Würdemann

einer der beiden 2mecs.
Schwulenbewegt, Aids- und Therapie-Aktivist. Von 2005 bis 2012 Herausgeber www.ondamaris.de Ulli ist Frankreich-Liebhaber & Bordeaux- / Lacanau-Fan.
Mehr unter 2mecs -> Ulli -> Biographisches

3 Antworten auf „vom Schwinden der Zuversicht“

In meiner Wahrnehmung werden nicht nur die Ränder stärker, sondern auch die Mitte gerät ins Rutschen. Schwulenfreundliche Heten sehen bei Trans-Themen den Bogen überspannt. Menschen verstehen den Klimawandel, wollen aber nicht mit Gegenmaßmahmen belästigt werden. Die fremdländische Küche wird geschätzt, aber größere Autos als man selbst darf niemand von „denen“ fahren. Schwule ziehen sich mehr ins Private zurück, und die gängigen Portale werden kopfloser.

Ich ertappe mich dabei, den Plan B unnötig zu verhandeln. Womöglich sind die holländischen Rechten nicht so schlimm wie deutschen? Vielleicht wird Trump nicht gewählt? Wie genau muss eigentlich die Situation hier aussehen, dass es gilt: Los jetzt?

Was mir allerdings immer klarer wird: keine noch so starke Überzeugung von mir kommt gegen eine Koalition aus Bösartigkeit und Indifferenz an. Sollte es so weit kommen, werde ich nicht kämpfen, sondern gehen.

danke für deine Gedanken – schön von dir zu lesen 🙂

„die Mitte gerät in’s Rutschen‘, das empfinde ich ähnlich – und sie gerät in Verunsicherung
was ‚die holländische Rechte‘ & co angeht (ähnliche Gedanken höre ich aus Frankreich): es gibt für mich eine Grenze, jenseits derer ist ’nicht so schlimm‘ nicht möglich, es gibt eine harte Grenze (entlang von des Begriffen wie Freiheit, Menschenrechte)
und zu Plan B: der Flucht-Gedanke ist mir nicht fremd, und doch bewegen mich zwei Gedanken: ganz paktisch: gehen – wohin denn? und generell: ist es nicht gerade dann wichtig zu bleiben, einzutreten für Werte und Freiheit?

LG

Immer wieder neu in schon längst geführte politische Diskussionen zu treten und versuchen, Menschen „auf der Kippe“ zu überzeugen, das kann ich tun, so lange es noch etwas bewirken kann.
Sobald schwarz-blaue Koalitionsverhandlungen im Bund laufen, ist der „Point of no return“ überschritten, befürchte ich.

Liebe Grüße nach HH

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