Zuletzt aktualisiert am 7. Februar 2020 von Ulrich Würdemann
Ein Wochenende im Herbst. Man könnte ja mal wieder weg fahren … warum nicht ein Ausflug nach Wetzlar … und zu Werther in Wetzlar …
Der mit der Bahn anreisende Besucher muss eine Hürde überwinden. Verlässt er den Bahnhof (der dieses Namens eigentlich kaum würdig ist), erwarten ihn zunächst statt Touristen-Idylle eher Kleinstadt-Schrecken. Gesichtslose Shopping-Center, wie sie in jeder beliebigen ost- oder westdeutschen Kleinstadt zu finden sein mögen, gefolgt von einer Einkaufsstraße, die von immer gleichen Ketten-Geschäften langsam weiter bis zu Billig-Läden, Leerstand und ein wenig heruntergekommener 60er- und 70er-Architektur abgleitet.
Doch – es lohnt sich durchzuhalten. Die Lahn, immerhin, ist bald schon zu hören, dann auch zu sehen. Überquert der Besucher sie auf der alten aus dem 13. Jahrhundert stammenden Brücke, erwartet ihn eine sehenswerte Altstadt, zahlreiche kleine Plätze, steile Treppen, enge Gassen und eine Vielzahl an Fachwerk-Häusern.
Mittendrin der eigentümliche Wetzlarer Dom
ein “unfertiges”Bauwerk verschiedenster Epochen. So ist z.B. hinter der spätgotischen Fassade immer noch die romanische Basilika erkennbar.
Als besonders sehenswert erweist sich das “Reichskammergericht-Museum“.
Eingerichte als höchstes Zivilgericht im Jahr 1495, hatte das Reichskammergericht von 1689 bis 1806 hier seinen Sitz. Seit 1987 befindet sich das einzige rechtshistorische Museum am historischen Ort.
Das Reichskammergericht ist, nebenbei, ein Ort mit einer pikanten Geschichte: das Barock-Palais wurde erbaut von Franz von Papius, Richter an eben diesem Reichskammergericht. Herr Papius war leider nicht nur an der Rechtsprechung interessiert, sondern auch sehr an den eigenen Finanzen – er kassierte reichlich Bestechungsgelder. So reichlich, dass er vertreiben wurde … (und Goethe ihm im ‘Götz von Berlichingen’ ein literarisches ‘Denkmal’ setzte in der Figur des ‘Sapupi’).
Gegenüber dem Reichskammergericht fällt der Blick des Besuchers vielleicht auf ein weiteres, noch oppulenteres Palais (das ebenfalls nämlichem Herrn Papius gehörte…). Es beherbergt heute die Sammlung “Dr. v. Lemmers-Danforth”, eine beeindruckende Kollektion von Möbeln aus Renaissance, Barock bis Biedermeier. Das Museum ist leider ab 22.10.2007 für mehrere Jahre wegen Sanierung geschlossen.
Werther in Wetzlar
Unweit dieser beiden Palais trifft der herum streunende Besucher am Schillerplatz auf ein weiteres interessantes Haus, die Nummer 5. Hier lebte Karl Wilhelm Jerusalem (1747 – 1772).
Karl wer?
Karl Wilhelm Jerusalem war als Sekretär eines braunschweigischen Gesandten am Reichskammergericht für Schreibarbeiten zuständig.
Der empfindsame junge Mann fühlte sich in der Atmosphäre von Stolz und Geltungssucht unwohl, zudem erfuhr er von seinem Vorgesetzten ständige Kränkungen und Zurücksetzungen. Liebeskummer kam hinzu. In der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1772 nahm er sich das Leben.
Dies alles würde den jungen Herrn Jerusalem noch nicht zu einer Person machen, derer man sich noch heute erinnert. Doch – der junge Herr Goethe weilte in der Stadt.
Goethe kannte den jungen Herrn Jerusalem und war über dessen Freitod sehr erschrocken. Verwoben mit eigene Erlebnissen (und denen mit seiner geliebten Lotte), wurde der Freitod des jungen Herrn Jerusalem zum literarischen Anlass für “Die Leiden des junge Werther” – ein Roman, der Goethe beträchtlichen Erfolg und Wetzlar noch heute Touristen beschert …
Der kulturell interessierte Besucher wendet sich jetzt vielleicht noch zurück gen Dom und findet dort in der Nähe sowohl das ehemalige Wohnhaus eben jener Lotte (Charlotte Buff), sowie nebenan das beeindruckende Stadt- und Industriemuseum, in dem er einiges über die optische Industrie der Stadt erfährt, über Autoradios, Mikroskope und eben die bekannte Leica
Es mag dunkel geworden sein inzwischen, so dass auf dem Rückweg zum Hotel nicht allzu viele der architektonischen Sünden der 60er und 70er Jahre auf die inzwischen müden Augen des Besuchers einhämmern …