Kann eine erfolgreiche anti-HIV-Therapie das Risiko einer HIV-Übertragung senken? Diese Frage wird insbesondere auch unter HIV-Positiven intensiv diskutiert. Von Experten kommen derzeit unterschiedliche Signale.
RKI: nichts genaues weiß man nicht
Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldet sich zu diesem Thema mit einem im wesentlichen bedächtigen Ergebnis zu Wort. Im Epidemiologischen Bulletin Nr. 47 schreibt das RKI „Zum HIV-Übertragungsrisiko unter antiretroviraler Therapie“.
In dem Beitrag wird u.a. besonders auf die teils sehr schlechte Datenlage hingewiesen, so liegen z.B. kaum Daten zur HIV-Konzentration an der Darmschleimhaut (ohne / mit ART) vor.
Grundsätzliches Problem aller Überlegungen sei: für die Prävention relevante Überlegungen erfordern prospektive Studien zum Übertragungsrisiko von HIV – diese gibt es jedoch bisher nicht. Daten einer laufenden Studie bei diskordanten heterosexuellen Paaren werden für 2009/10 erwartet; eine Studie für Infektionsrisiken bei homosexuellen Übertragungssituationen existiert bisher nicht.
Surrogat-Marker (ersatzweise herangezogene Laborwerte wie die Viruslast) können dabei immer nur ein ‚Hilfskonstrukt‘ sein.
Etwaige vorhandene sexuell übertragbare Infektionen (STI) können zudem bei nicht / nicht erfolgreich antiretroviral behandelten Positiven das Übertragungsrisiko zum Teil erheblich erhöhen (Daten bei erfolgreicher HAART liegen kaum vor).
U.a. aufgrund möglicher Veränderungen des Übertragungsrisikos z.B. durch Ko-Infektionen weist das RKI auf die Möglichkeit hin, dass zwischen monogamen Partnern und Partnern mit häufig wechselnden Partnern evtl. unterschiedlich hohe Übertragungswahrscheinlichkeiten bestehen könnten.
Mit aller Vorsicht der Wissenschaft kommt das RKI zur Frage des Infektionsrisikos bei erfolgreicher Therapie zu dem Schluss, dass
– eine effektive ART (Viruslast unter der Nachweisgrenze) mit hoher Wahrscheinlichkeit die HIV-Übertragungswahrscheinlichkeit deutlich senkt;
– für Aussagen auf individueller Ebene (konkrete Situation / Konstellation zweier Menschen miteinander) hingegen weitgehend Daten fehlen; und
– die Einschätzung zahlreicher Risiko-Situationen bei eindringendem und aufnehmendem Anal- sowie Vaginalverkehr aufgrund fehlender oder nur geringer verfügbarer Daten kaum möglich ist. Das RKI trifft hierzu aus diesem Grund keine Aussagen.
Schweiz: Positive mit erfolgreicher Therapie „nicht infektiös“
Ganz anders die Beurteilung der Situation und die gezogenen Konsequenzen in der Schweiz:
Bernard Hirschel vom Service des Maladies Infectieuses Département de Médecine Interne Hôpital Cantonal (Leiter der Einheit Aids) vertritt eine sehr dezidierte Meinung. Seiner in letzter Zeit auch mehrfach öffentlich geäußerten Ansicht zufolge sind HIV-Positive mit erfolgreicher Kombitherapie (Viruslast unter der Nachweisgrenze) nicht infektiös, selbst nicht bei unsafem Sex.
Prof. Bernard Hirschel bringt seine Position in der ‚Tribune de Genève‚ auf den Punkt: „keine nachweisbare Viruslast, keine Infektion“(ähnliche Aussagen auch in 24 heures und Le Temps).
Eine Meinung, die auch die Schweizer Aids-Kommission teilt. Die ‚Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen‘ (EKAF) formuliert „ein zusätzlicher positiver Effekt einer erfolgreichen Therapie ist auch die fast vollständige Verhinderung einer weiteren Übertragung von HIV“ ((„Visionen und Empfehlungen für die HIV/Aids-Politik der Schweiz“, siehe unter ‚weitere Informationen‘)).
Hirschel führt seine Überlegungen sogar noch weiter. Er misst einer erfolgreichen Kombitherapie einen präventiven Aspekt bei. Präservativ und Pillen, Kondom und Kombitherapie seien zwei wirksame Schutz-Möglichkeiten, jede mit ihren eigenen Vor- und Nachteilen.
Auch Hirschel betont allerdings, keine Infektiosität bedeute nicht ‚kein Risiko‘. Es bleibe weiterhin z.B. das Risiko sexuell übertragbarer Infektionen, die dann ihrerseits auch das Risiko einer HIV-Übertragung erhöhen könnten.
Zwei renommierte Aids-Institutionen bzw. Experten, und zwei recht unterschiedliche Äußerungen. Was zunächst überrascht – die Datenlage kann ja doch zu diesem Thema zwischen der Schweiz und Deutschland nicht so arg unterschiedlich sein.
Prof. Hirschel kann sich zu einer sehr pointierten Aussage durchringen, die auch für Menschen mit HIV eine konkrete verständliche Botschaft ist.
Das RKI hingegen windet sich deutlich, vermeidet geradezu zu einer klaren Aussage zu kommen. Zu hoffen ist, dass bei der Zurückhaltung des RKI keine politische Einflussnahme im Spiel ist. Bei der Haltung des RKI ist sicher zu berücksichtigen, dass das RKI vermutlich auch befürchtet, angesichts des komplizierten Sachverhalts würden Teile der Informationen ‚in der Praxis‘ verloren gehen – so dass im Extremfall der (nicht berechtigte) Eindruck eines ‚Freifahrscheins‘ entstehen könnte.
Dennoch – (nicht nur) für Menschen mit HIV bietet sich nun ein äußerst widersprüchliches, unklares Bild. Im Sinne klarer Botschaften, die auch Orientierungspunkte für eigenes Verhalten liefern, wäre es wünschenswert, wenn sich Aids-Experten deutlicher auf eine verständliche Position einigen können.
Zudem bleibt zu wünschen, dass die Erkenntnisse zur Infektiosität bei Positiven unter Therapie auch in der strafrechtlichen Praxis ankommen (und bei denen, die Strafverschärfungen fordern).
So könnte sich die/der deutsche Positive (zumindest aus der Sicht der Infektionsitäts-Debatte) derzeit beinahe wünschen, in der Schweiz zu leben …
weitere Informationen:
Transmissionsrisiko unter HAART: ‚vernachlässigbar klein‘
HIV-Status und Prävention
Das Epidemiologische Bulletin Ausgabe 47 / 2007 gibt’s als pdf hier
EKAF und Sektion Aids, BAG: „Visionen und Empfehlungen für die HIV/Aids-Politik der Schweiz“, discussion paper für das Aidsforum 2007, S. 19; als pdf online hier
Prof. Hirschel hat seine Gedanken auch in einem Interview mit dem Schweizer Positiven-Radion survivreausida erläutert. Die Sendung kann hier online gehört werden (mp3, in französischer Sprache)
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Text 24. Februar 2017 von ondamaris auf 2mecs