Zu engagierte Debatten kam es am Freitag Morgen (14.3.2008) bei der Podiumsdiskussion unter dem Titel „Aktuelle Kontroverse: Kondomverzicht bei nicht nachweisbarer Viruslast möglich?“
Auf dem Podium: Prof. Pietro Vernazza (Schweiz), Roger Staub (BAG Schweiz), Prof. Bernd Salzberger (Regensburg), Bernd Vielhaber, Dr. Dirk Sander (DAH), sowie als Moderatoren Rainer Kamber (Aidshilfe Schweiz) und Armin Schafberger (DAH).
Prof. Vernazza betonte, mit der Publikation des EKAF-Statements habe auch eine ‚Doppelbödigkeit‘ beendet werden sollen. Was einzelne Ärzte, oftmals unter dem Siegel ’nur für Sie‘, schon lange ihren Patienten sagen, müsse nun endlich auch offen ausgesprochen werden. Die Datenlage sei reif genug gewesen für diesen Schritt.
Generell habe nicht die Biologie zum EKAF-Beschluss geführt, sondern die Epidemiologie,die Biologie habe dann nur dieses mit Daten bestätigt.
Zum Analverkehr bei Heteros sei die Datenlage knapp, noch knapper bei Analverkehr zwischen Männern die Sex mit Männern haben (MSM). Allerdings sei ein Analogieschluss zum Vaginalverkehr möglich und zulässig, wie er detailliert anhand einer Diapräsentation erläuterte.
Prof. Salzberger befasste sich mit der Frage, wie hoch das Risiko einer HIV-Übertragung sei, und welches Risiko als tragbar erachtet werden könne.
Ein Risiko von 1 zu 100.000 erscheine zunächst gering – aber selbst beim Lotto mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 13 Mio. (für ‚6 Richtige‘) gewinne jeden Samstag jemand. Er erachte ein Risiko von 1 : 100.000 (auf das sich das EKAF-Statement bezieht) als nicht niedrig genug und bleibe skeptisch.
Salzberger betonte zudem die Bedeutung sexuelle übertragbarer Infektionen (STDs) für die Infektiosität. Insbesondere ulzerierende STDs seien hier zu beachten. Die Frage, ob auch latente Infektionen (besonders mit HSV2) epidemiologisch relevant seien, wurde zwischen ihm und Vernazza kontrovers diskutiert.
Roger Staub entgegnete auf Salzbergers Risiko-Betrachtungen, für Public Health sei es wesentlich, Gleiches mit Gleichem zu vergleichen. Hier falle doch zunächst das Fehlen jeglichen Berichts von belegten Infektionen (unter den von der EKAF betonten Bedingungen) in den vergangenen Jahren auf. Das Einzelfall-Risiko bei Kondombenutzung bezifferte er auf 1 : 30.000 – angesichts dieses Einzelfall- Risikos verstehe er die Aufregung um ein Risiko von 1 : 100.000 (Infektiosität bei erfolgreicher Therapie und keine STDs) überhaupt nicht.
Salzberger betonte in einer Replik, auch er erachte die von der EKAF veranschlagte Risiko-Einschätzung von 1 : 100.000 als ‚gute Obergrenze‘, die Berechnungen halte er für zutreffend. Es gebe aber eben in Form von Kondomen eine breit und preisgünstig verfügbare Möglichkeit, das Übertragungsrisiko noch einmal um den Faktor 100 zu reduzieren. Auch er sehe, dass es keine 100%ige Sicherheit gebe, stelle sich aber die Frage, was einzusetzen sei, um ein mehr an Sicherheit zu erhalten.
Staub betonte im Verlauf der Debatte, das Statement der EKAF ermächtige die Menschen gerade, selbst eine Entscheidung zu treffen. Es gehe darum, nicht aus der Medizin heraus eine höhere Sicherheit zu postulieren, sondern ‚das müssen die Menschen selbst machen‘. Hierzu wolle die EKAF ermächtigen, hierzu müssten Informationen und Wissen bereit gestellt werden.
Dr. Dirk Sander betonte, es gehe in der laufenden Debatte um Menschen – und nicht um Techniken. Es gelte zu vermeiden, jetzt wieder das Bild des ‚triebgesteuerten Homosexuellen‘ zu reaktivieren. Zudem zeigte er sich zuversichtlich, dass die Aidshilfe auch komplexere Risiken kommunzieren könne, dies haben auch Erfahrungen der vergangenen Jahre zahlreich gezeigt. Er forderte mehr Mut – die derzeit heiß diskutierten Informationen seien doch eh schon lange Teil des individuellen Risiko-Kalküls.
Auch ’safer sex‘ beinhalte ein Risiko, sei keinesfalls die ‚Null-Risiko-Alternative, für die sie gerne gehalten werde, betonte Bernd Vielhaber. Dieses Risiko sei nur bisher kaum kommuniziert, wahrgenommen worden. Statt mit Angst auf die jetzigen Veränderungen zu reagieren, wäre es doch produktiver, nach vorne zu denken und proaktiv in die Diskussion einzusteigen.
Im Verlauf der anschließenden Diskussion (mit Publikumsbeteiligung) wurden die Unterscheide zwischen der medizinischen / Behandler-Perspektive und der epidemiologischen / public health- Perspektive nochmals deutlich. Beide Sichtweisen anzunähern, wo möglich zu vereinen sei auch zukünftig eine Herausforderung.
Erfahrungen public-health- und Aids-Debatten der letzten 20 Jahre zeigen, dass es möglich ist, die anstehenden Fragen in konkrete und vor Ort verständliche Präventionsbotschaften umzusetzen – die Frage sollte mit Zuversicht statt Skepsis angegangen werden.
Erforderlich sei jetzt allerdings eine zwar engagierte, aber unaufgeregte Diskussion, war einhellige Meinung.
Vernazza wies abschließend darauf hin, dass die EKAF im Juni ein ‚closed meeting‘ organisieren werde, bei dem Wissenschaftler und Regierungsvertreter unterschiedliche Auffassungen wie auch Gemeinsamkeiten und Ziele diskutieren würden. Die Gemeinsamkeiten würden überwiegen, zeigte er sich zuversichtlich.
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Text 25. Februar 2017 von ondamaris auf 2mecs