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Frankreich Homosexualitäten

Strafrecht gegen Homosexuelle in Frankreich (1942 – 1982)

Am 4. August 1982 wurde das 1942 eingeführte Strafrecht gegen Homosexuelle in Frankreich abgeschafft.

Zu Zeiten des Ancien Regime wurde ‚Sodomie‘ kriminalisiert. Seit dem Ende des Ancien Régime, seit der Revolution 1789 waren homosexuelle Handlungen in Frankreich straffrei.

Der französische Philosoph Voltaire hatte schon 1777 formuliert

„Die Homosexualität, solange sie ohne Gewalt betrieben wird, darf nicht gesetzlich bestraft werden. Sie verletzt das Recht keines einzigen Menschen.“

Voltaire in Le Prix de la Justice et de l’Humanité, 1777

1791 wurde die vorher bestehende Kriminalisierung beeendet, seit der französischen Revolution erwähnen Gesetze homosexuelle Praktiken nicht mehr. Weder der Code penal von 1791 noch derjenige von 1810 erwähnen Homosexualität.

Damit war Frankreich – ganz anders als z.B. Deutschland oder Großbritannien – eines der ganz wenigen Länder in Europa, die Homosexualität seit 1791 nicht kriminalisierten.

Allerdings bestanden weiterhin Gesetze zum ‚Schutz der öffentlichen Sittlichkeit‘ (bes. code penal von 1870, Art. 330 und 331) – die eine Basis auch für die Verfolgung schwuler Männer bzw. deren ‚anstößigen‘ öffentlichen Verhaltens boten.

Strafrecht gegen Homosexuelle in Frankreich – eingeführt 1942 von Pétain

Homosexuelle wurden in Frankreich seitdem und bis zum Beginn der Vichy-Regierung unter Marschal Philippe Pétain nicht strafrechtlich verfolgt. Erstmals seit der französischen Revolution wird ein Strafrecht gegen Homosexuelle in Frankreich 1942 wieder eingeführt

Admiral François Darlan, damals Vizepräsident des Staatsrats, schrieb in einer Geheim-Note über die ‚Repression der Homosexualität‘ am 17. April 1942

„Meine Aufmerksamkeit wurde gelenkt auf eine bedeutende Homosexualitäts-Affäre, in die Marine-Soldaten und Zivilisten verstrickt sind. Ich halte eine energsche Unterdrückung dieserlei Aktivitäten für unbedingt erforderlich …“

Auf Grundlage dieser Note wurde von Pétain am 6. August 1942 eine Verordnung (Gesetz Nr. 744 vom 6. August 1942; veröffentlicht am 27. August 1942) verfügt. Durch eine Veränderung des Artikel 334 des Code penal wurde die Strafbarkeit homosexueller Handlungen eingeführt [2]:

Mit Gefängnis zwischen 6 Monaten und 3 Jahren sowie einer Geldstrafe … wird bestraft, wer … zur Befriedigung seiner Passion einen oder mehrere schamlose oder widernatürliche Akte mit einem Gleichgeschlechtlichen unter 21 Jahren begangen hat.“ [1]

Mit einem weiteren Gesetz vom 8. Februar 1945 wird beim ‚Schutzalter‘ zwischen heterosexuellem (Schutzalter 15 Jahre) und homosexuellem Verkehr (21 Jahre) unterschieden.

Etwa 500 Menschen wurden in Frankreich wegen ihrer Homosexualität in der NS-Zeit deportiert, darunter ca. zehn Ausländer.

Strafrecht gegen Homosexuelle in Frankreich – übernommen von de Gaulle

Nach dem Ende des Vichy-Regimes und der Befreiung Frankreichs enthält das französische Strafrecht,  der Code Penal, mit der (auf Antrag eines christdemokratischen Abgeordneten verabschiedeten) Verordnung vom 8. Februar 1945 (nun als Artikel 331) die Bestimmung, dass

mit Gefängnis zwischen 6 Monaten und 3 Jahren sowie einer Geldstrafe … [bestraft wird], wer einen schamlosen oder widernatürlichen Akt mit einem Individuum seines Geschlechts unter 21 Jahren begangen hat.“ (Gesetzestext: „Sera puni d’un emprisonnement de six mois à trois ans et d’une amende de 60 FF à 15000 FF quiconque aura commis un acte impudique ou contre nature avec un individu de son sexe mineur de vingt et un ans.“)

Die Regelung nach 1945, nach der Befreiung vom Faschismus, bereits unter der Regierung von de Gaulle, ist nahezu im Wortlaut identisch mit der Pétains von 1942 – eine Kontinuität, die Hocquenghem kommentiert, man müsse den Text „wohl das Pètain-De Gaulle – Gesetz nennen„.

Weitere repressive Maßnahmen gegen Homosexuelle folgen. So formuliert Artikel 16 des ‚Allgemeinen Beamten-Statuts‘ (19.Oktober 1946), dass ’niemand für den öffentlichen Dienst nominiert werden könne, der nicht eine gute Moralität habe‘. Mit Anordnung vom 1. Februar 1949 untersagt der Präfekt von Paris Männern das Tragen von Frauen-Kleidern bei Bällen außerhalb des Karnevals. Und auf Betreiben der katholischen Jugendbewegung folgt am 16. Juli 1949 ein Pressegesetz, in dem erstmals in Artikel 2 ein neues Delikt eingeführt wird, die ‚Demoralisierung durch die Presse‘. Es wird in den folgenden Jahren zu einer Grundlage für weitreichende Zensurmaßnahmen gegen homosexuelle Presseerzeugnisse.

Strafrecht gegen Homosexuelle in Frankreich – Schwule als ’soziale Plage‘

Nach de Gaulles Rückkehr an die Macht 1960 wird ein weiterer Vorstoß der Verschärfung unternommen: Paul Mirguet (1911 – 2001), für seine Homophobie bekannter Abgeordneter der UNR (Gaullisten) aus Metz, beantragt einen Zusatz, mit dem Homosexualität gesetzlich den „gesellschaftlichen Plagen“ (fléaux sociaux; wie Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Tuberkulose etc.) gleichgestellt werden soll.

Dieses ‚Amendement Mirguet‚ wurde auf der Sitzung der Assemblée Nationale am 18. Juli 1960 verabschiedet (pdf; 323 Ja-Stimmen, 131 nein) und am 30. Juli 1960 verkündet. Es blieb bis zum 27. Juli 1982 in Kraft.

Die Schwulenbewegung reagiert auf ihre eigene Art: der FHAR Front homosexuel d’action révolutionaire gibt 1972 die Zeitschrift le fléau social heraus. Ihr Name spielt direkt auf Mirguets Amendement an. Nur vier Ausgaben erscheinen 1972, gefolgt von der zeitschrift Antinorm (1972 – 1974).

Unter Präsident de Gaulle folgt im November des gleichen Jahres, Mirguet folgend, ein weiteres Gesetz, das sich mit Homosexualität befasst: das Gesetz über die öffentliche Verletzung des Schamgefühls. Seit dem 25. November 1960 lautet Artikel 330 Absatz 2:

Wenn die öffentliche Verletzung des Schamgefühls aus einem widernatürlichen Akt mit einem Individuum des gleichen Geschlechts besteht, so ist die Strafe Gefängnis zwischen 6 Monaten und 3 Jahren sowie eine Geldstrafe in Höhe von 1.000 bis 15.000 Francs.“ [1]

Erstmals wird jetzt zwischen heterosexueller und homosexueller ‚Verletzung des Schamgefühls‘ unterschieden: bei Heteros liegt die (niedrigere) Geldstrafe zwischen 500 und 4.500 Francs.

Gesetz gegen Homosexuelle in Frankreich abgeschafft – François Mitterrand

Erst 1980 wird Artikel 330 Absatz 2 im Rahmen einer Neudefinition verschiedener sexueller Straftaten völlig aufgehoben (wesentlich forciert vom radikalsozialistischen Abgeordneten Henri Caillavet (1914 – 2013)).

Im Mai 1977 forderten 80 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in der Zeitung ‚Le Monde‘ eine Revision des Code pénal. Zu den unterzeichnern zählten u.a. Louis Althusser, Jean-Paul Aron, Roland Barthes, Simone de Beauvoir, Jean-Louis Bory, Copi, Gille Deleuze, Jacques Derrida, Michel Foucault, Felix Guattari und Jean-Paul Sartre. Doch die Streichung sollte noch über 4 Jahre dauern …

François Mitterrand hat die Streichung dann auf dem Fest zum zweijährigen Bestehen der Zeitschrift Gai Pied im legendären ‚Le Palace‘ ankündigen lassen – vom Schriftsteller Yves Navarre:

Ich möchte Ihnen hiermit zu dem Engagement und dem notwendigen Erfolg Ihrer Demonstration vom 4.4.1981 ebenso gratulieren wie zu Ihrem heutigen Festtag. Ich bin in Gedanken bei Ihnen. Der Kampf für Ihre Sache und Frohsinn gehören zusammen. Ich bitte Yves Navarre für mich zu bezeugen, dass ich mich Ihrer Suche nach einer neuen Form menschlichen Zusammenlebens mit Sympathie anschließe. Hindernisse, die dem entgegenstehen, müssen gegebenenfalls durch gesetzgeberische Maßnahmen beseitigt werden. Mit freundlichen Grüßen, Ihr François Mitterand.

Bereits kurz nach Mitterrands Wahl ergeht Anordnung an die Polizei, Homosexuellen-Treffpunkte und Bars nicht mehr besonders zu kontrollieren. Eine entsprechende Sondereinheit der Polizeipräfektur Paris wird aufgelöst. Die französische Regierung teilt mit, die UN-Klassifikation von Homosexualität als Krankheit nicht mehr anzuerkennen.

Mitterrands Ankündigung der Strafrechtsreform folgten Taten. Am 20. Dezember 1981 betonte der damlige Justizminister Robert Badinter von dem Parlament

„L’Assemblée sait quel type de société, toujours marquée par l’arbitraire, l’intolérance, le fanatisme ou le racisme a constamment pratiqué la chasse à l’homosexualité. Cette discrimination et cette répression sont incompatible avec les principes d’un grand pays de liberté comme le nôtre. Il n’est que temps de prendre conscience de tout ce que la France doit aux homosexuels comme à tous ses autres citoyens dans tant de domaines.“
(Dem Parlament ist bewußt, welche Art von Gesellschaft, immer noch von Willkür, Intoleranz, Fanatismus oder Rassismus geprägt, Jagd auf Homosexualität gemacht hat. Diese Diskriminierung, und diese Unterdrückung vertragen sich nicht mit den Prinzipien eines großen Landes der Freiheit wie dem unsrigen. Es ist nur noch Zeit sich dessen bewußt zu werden was Frankreich auf so vielen Gebieten Homosexuellen verdankt wie auch all seinen anderen Bürgern.)

Mit dem Gesetz Nr. 82-683 vom 4. August 1982 (von der Nationalversammlung verabschiedet am 27. Juli 1982) unter der Präsidentschaft von Francois Mitterrand (gewählt 10. Mai 1981; gestorben 8. Januar 1996) wird schließlich die 1942 eingeführte und 1945 bestätigte Ungleichbehandlung und das Strafrecht gegen Homosexuelle abgeschafft und eine einheitliche gleiche Altersgrenze von 15 Jahren eingeführt. Das Strafrecht gegen Homosexuelle in Frankreich war endlich (wieder) ad acta gelegt.

beendete 1982 das Strafrecht gegen Homosexuelle in Frankreich: der damalige Justizminister Robert Badinter im Jardin du Luxembourg, Paris, Juni 2010
beendete 1982 das Strafrecht gegen Homosexuelle in Frankreich: der damalige Justizminister Robert Badinter im Jardin du Luxembourg, Paris, Juni 2010 (Foto: Manfred)

Das französische Fernsehen berichtete über die Abschaffung, der Journalist und Moderator Didier Varrod (damals Generalsekretär Radiosender Fréquence Gaie) erläuterte (Neu-veröffentlicht 2017 INA):

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[1] zitiert nach Guy Hocquenghem: Das homosexuelle Verlangen – “Nicht das homosexuelle Verlangen ist problematisch, sondern die Angst vor der Homosexualität”, München 1974
[2] in wie weit bei der Verordnung Pétains die Verschärfung des Paragraph 175 durch die Nazis 1935 in Deutschland Impulse gegeben hat, ist mir nicht bekannt.

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Abschaffung des Sonderstrafrechts gegen Homosexuelle in Frankreich – Debatte in der Assemblée nationale am 27. Juli 1982, Video

Im folgenden Video ist ab ca. Minute 3:30 der damalige Justizminister Robert Badinter zu hören, der den Antrag auf Abschaffung des  Strafrechts gegen Homosexuelle in Frankreich begründet:

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Bei einer Veranstaltung der Vereinigung Frankreichs der LGBT+-Anwälte am 22. Juni 2022 anläßlich des 40. Jahrestags der Abschaffung äußerte sich Robert Badinter

Je ne suis pas content parce que les gays des pays occidentaux qui bénéficient de ces lois qui s’imposent et bien ont obtenu le pacs, le mariage, je trouve qu’ils ne sont pas assez mobilisés pour les communautés homosexuelles discriminées. Je trouve qu’il n’y a pas assez de sensibilité aux autres. Parce qu’on a réglé le problème ici on est indifférent aux problèmes des autres ? J’en appelle à cette mobilisation. Gays de tous les pays mobilisez vous ! Ce n’est pas parce que c’est terminé ici que ce fléau de la répression de l’homosexualité doit subsister.
(‚Ich bin nicht glücklich, weil die Schwulen in westlichen Ländern, die von diesen notwendigen Gesetzen profitieren und die Lebenspartnerschaft, die Ehe bekommen haben, sich wie ich finde nicht genug für die diskriminierten homosexuellen Gemeinschaften einsetzen. Ich finde, es gibt nicht genug Sensibilität für andere. Weil wir das Problem hier gelöst haben, sind uns die Probleme anderer gleichgültig? Ich rufe zur Mobilisierung auf. Schwule aller Länder werdet aktiv! Diese Geißel der Unterdrückung der Homosexualität darf nicht fortbestehen.‘ [Übers. UW])

Robert Badinter am 22. Juni 2022

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Hamburg Homosexualitäten

Liberales Hamburg ? Homosexuellenverfolgung durch Polizei und Justiz nach 1945 – Eröffnung

“ Liberales Hamburg ? Homosexuellenverfolgung durch Polizei und Justiz nach 1945 “ – am 22. Juli 2013 wurde die Ausstellung eröffnet, mit der sich Hamburg als erstes Bundesland überhaupt der Aufarbeitung der Homosexuellen-Verfolgung durch Polizei und Justiz  nach 1945 widmet.

Homosexuellen-Verfolgung endete nicht 1945. Der von den Nazis 1935 verschärfte §175 hatte in der Bundesrepublik auch nach 1945 in der verschärften Fassung weiterhin unverändert seine Gültigkeit. Und er war auch in Hamburg Hintergrund für eine Homosexuellenverfolgung, die auch nach 1945 anhielt – bis weit in die 1970er und selbst die beginnenden 1980er Jahre hinein, auch in Hamburg. Ein prägnantes Beispiel hierfür: Klappen-Verbote und die so genannte ‘Hamburger Spiegel-Affäre‘.

“ Liberales Hamburg ? Homosexuellenverfolgung durch Polizei und Justiz nach 1945 ″
“ Liberales Hamburg ? Homosexuellenverfolgung durch Polizei und Justiz nach 1945 ″
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Hamburg Homosexualitäten Oldenburg

Hans Hirschberg Hamburg 1912 – 1943

Hans Hirschberg starb am 28. Dezember 1943 im Alter von 31 Jahren – möglicherweise bei dem Versuch, nach der KZ-Haft wegen §175 seiner Verlegung in eine Tötungsanstalt zu entgehen. Seit 2012 erinnert ein Stolperstein an ihn.

Hans Hirschberg, Portrait aus Langenhorn 1936, StAHH 352-8_7, Abl. 1995_2, 22976
Hans Hirschberg, Portrait aus Langenhorn 1936, StAHH 352-8_7, Abl. 1995_2, 22976

Hans Hirschberg

Hans Kurt Albert Hirschberg wurde am 2. Februar 1912 in Altona [4] geboren. Hans Hirschberg lebte in Altona und im Hamburger Stadtteil St. Pauli.

Dort arbeitete er als Stricher / Strichjunge. Er wurde mehrfach verhaftet und kam 1938 in ‚Schutzhaft‘ in das KZ Fuhlsbüttel (vgl. Beispiele aus dem KZ Neuengamme: Häftlingsart Homo). Aufgrund von Vergehen gegen den 1935 verschärften Paragraph 175 ((a), Ziffer 4, „gewerbsmäßige Unzucht“) wurde Hirschberg verurteilt.

Später wurde Hans Hirschberg als „schwachsinnig“ in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn eingewiesen. Dort wurde er sterilisiert (s.u.). [1]

Hirschberg heuerte auf dem HAPAG-Versorgungsschiff ‚Oldenburg‘ (8.597 BRT) an, das für die Wehrmacht fuhr. Auf diese Weise, hoffte er vielleicht, könne er aufgrund „Frontbewährung“ vorzeitig aus Langenhorn entlassen werden. Möglicherweise wollte er sich so einer Verlegung aus Langenhorn in eine Tötungsanstalt entziehen [2].

Hans Hirschberg starb am 28. Dezember 1943 in der  Nordsee nördlich von Bergen / Norwegen (Stadlandet) auf dem Versorgungsschiff ‚Oldenburg‘, das von einem Torpedo (des britischen U-Boots Seadog) getroffen wurde und sank.

Seit April 2012 erinnert ein Stolperstein an Hans Hirschberg, verlegt in Altona an seinem früheren Wohnort Gilbertstraße 24 (heutiger Straßenname [3], früher: Gustavstraße 24, II Stock).

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Stolperstein Hans Hirschberg

Stolperstein Hans Hirschberg Hamburg St. Pauli
Stolperstein Hans Hirschberg Hamburg St. Pauli (Foto: 1. November 2023)

Der Text des im April 2012 verlegten Stolpersteins für Hans Hirschberg:

Hier wohnte
Hans Hirschberg
Jg. 1912
Mehrmals verhaftet
zuletzt 1938
KZ Fuhlsbüttel
eingewiesen 1938
Heilanstalt Langenhorn
„Frontbewährung“
Tot 28.12.1943

Lage des Stolpersteins für Hans Hirschberg
Lage des Stolpersteins für Hans Hirschberg

Im Erdgeschoß des Hauses, vor dem der Stolperstein Hans Hirschberg liegt, informiert seit Herbst 2018 eine (auf diesem Text basierende) Tafel über Hirschberg:

Stolperstein Hans Hirschberg – Infotafel

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Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn

Die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn war Teil des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms (siehe Mordaktion T4). Im Rahmen dieses Programms wurden zwischen 1933 und 1945 über 100.000 Menschen ermordet.

Die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn war ab 1936 die einzige große Institution in Hamburg für psychisch Kranke. Sie war die zentrale ‚Drehscheibe‘ in Hamburg für Deportationen in Tötungsanstalten. Mindestens 4.097 Fälle von Deportationen Geisteskranker und Behinderter (oder als solcher Erklärter) aus Langenhorn in Tötungsanstalten sind bisher dokumentiert. 3.755 von ihnen wurden ermordet.

Auf dem Gelände der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn befindet sich heute die Asklepios Kinik Nord – Ochsenzoll. Seit Mai 2009 erinnert dort eine Gedenktafel (vor Haus 42) an die Deportation und Tötung von Patienten.

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Sterilisation Homosexueller in der NS-Zeit

Die Sterilisation / Kastration Homosexueller war Bestandteil der ’nationalsozialistischen Rassenhygiene‘. Besonders eingesetzt für die Frage der Kastration Homosexueller hat sich Carl-Heinz Rodenberg, der dafür u.a. 1942 eine Anerkennung Himmlers für „überzeugende Aufsätze“ erhielt. Rodenberg war ab Juli 1943 „wissenschaftlicher Leiter“ der ‚Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung‚.

Bei Personen, die nach Reichsstrafgesetzbuch Paragraph 175 rechtskräftig verurteilt waren, konnten gemäß Änderungsgesetz vom 26. Juni 1935 (des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“) Kastrationen vorgenommen werden, wenn „sie nach amts- oder gerichtsärztlichem Gutachten erforderlich“ waren, um die Person „von einem entarteten Geschlechtstrieb zu befreien“, und wenn der Betreffende in diesen Eingriff ‚einwilligte‘.

Viele verurteilte Homosexuelle stimmten „freiwillig“ ihrer Kastration zu (sahen sich de facto dazu gezwungen), um einer (erneuten) Einweisung in Straflager oder KZ zu entgehen.

Ab 1942 wurden in KZ auch Zwangs-Kastrationen ‚legalisiert‘.

Eine weitere Verschärfung wird ab 1942 geplant: das „Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder“ sieht vor, dass Zwangs-Sterilisation / Zwangs-Kastration / Entmannung nun vom Richter bei Verurteilungen nach den §§ 175 und 175a (als so genannte ‚Sittlichkeitsverbrecher‘) angeordnet werden kann ohne ärztliches Gutachten und ohne Einwilligung des Betroffenen. Nach Erarbeitung mehrerer Entwürfe bis 1944 soll das Gesetz per 30. Januar 1945 in Kraft treten, kriegsbedingt kommt es nicht mehr dazu.

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Schöpfer des Projekts Stolpersteine ist der Künstler Gunter Demnig.
Die Hamburger Initiative ‚Stolpersteine für homosexuelle NS-Opfer‘ wurde von Bernhard Rosenkranz † und Ulf Bollmann Anfang 2006 ins Leben gerufen.

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Lesezeichen:
„Wege in den Tod – Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus“, Hamburg 1993
Hinz&Kunst 29.04.2010: Von der Kneipe ins KZ

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[1] Quellen im Staatsarchiv Hamburg sind vor allem eine Strafakte (213-11, 2839/36 und eine Patientenakte der Staatskrankenanstalt Langenhorn,352-8/7, Abl .1995/2 Nr. 22976.
[2] Die Gefahr der Verlegung aus Langenhorn in eine Tötungsanstalt war auch für Homosexuelle konkret, vgl. zum Beispiel Schicksal Alfred Beckmann
[3] Als Spätfolge der Altonaer Eingemeindung von 1937 wurden um 1950 zahlreiche Straßen in Altona umbenannt.
[4] Altona war damals eine selbständige Stadt in Holstein, kam erst im April 1937 mit dem Groß-Hamburg-Gesetz zu Hamburg

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Danke an Ulf Bollmann / Initiative „Gemeinsam gegen das Vergessen – Stolpersteine für homosexuelle NS-Opfer“ für Informationen zu Hans Hirschberg.

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Homosexualitäten

Schmidt Theater Eröffnung am 8.8.1988

Schmidt Theater Eröffnung am 8. August 1988 ( 8.8.88 ) in Hamburg.

Zuvor war das schwule Tournee- Theater ‚Familie Schmidt‘ jahrelang durch West-Deutschland getingelt. Corny Littmann gründete das Schmidt Theater als künstlerischer Leiter gemeinsam mit drei anderen Gesellschaftern im ehemaligen ‚Kaiserhof‘ am Spielbudenplatz / Reeperbahn in Hamburg.

Die erste große Show: „Sag bitte und ich sing“ – ‚Familien Schmidt‘ (Corny Littmann und Gunter Schmidt (später Polittbüro)) gemeinsam mit Georgette Dee und Terry Truck.

queer oder eingehegt und stillgestellt?

Littmanns Schritt vom schwulen Tourneetheater zur an breites Publuikum gerichteten Bühne – ein früher Schritt von Entsubkulturalisierung (Jan-Michael Kühn) ?

„An der Transformation der tingelnden ‚Familie Schmidt‘ in das ‚Schmidt-Theater‘, ein Unternehmen mit festem Haus … als wirtschaftlicher Basis lässt sich die ökonomisch geregelte Tendenz ablesen: permanente Ökonomisierung der Produktion und ihrer Agenten, Professionalisierung und die Einhegung ursprünglich queerer Themen, Gesten und Verfahren für die Erwartungen eines Publikums ohne größeres Interesse an Queerness als einer komplexen Zeichenpolitik. Mit dem Kontext aber wechseln die ’schwulen‘ Zeichen ihre Bedeutung und werden schließlich vom heterosexuellen Publikum, das den Umsatz zu garantieren hat, restlos angeeignet und stillgestellt.“

Dirck Linck: Überlegungen zur schwulen Kunst in der BRD der 1980er Jahre, in: Pretzel/Weiß (Hg.): Zwischen Autonomie und Integration – Schwule Politik und Schwulenbewegung in den 1980er und 1990er Jahren, Hamburg 2013

Schmidt Theater Eröffnung – Tickets 1988

Schmidt Theater Eröffnung Hamburg, August 1988
Schmidt-Theater Eröffnung, Hamburg, August 1988

2005: das ’neue Schmidt Theater‘

Das ‚alte‘ Schmidt-Theater gab es 16 Jahre – bis 2004 das Gebäude wegen Baufälligkeit abgerissen werden musste. An gleicher Stelle entstand ein Neubau, der wieder das ‚ Schmidt Theater ‚ beherbergt. Es eröffnete – am 8. August 2005.

2018 konnte das ‚Schmidt‘ also am 8.8.2018 das 30jährige Bestehen feiern, und 13 Jahre im ’neuen Haus‘ …

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Homosexualitäten

Schwule Regungen, Schwule Bewegungen / Willi Frieling 1985

Schwule Regungen, Schwule Bewegungen (Herausgegeben von Willi Frieling) erschien 1985 im (leider inzwischen nicht mehr bestehenden) Verlag Rosa Winkel.

Das Gefühl der Stagnation schwuler Bewegungen ist so verbreitet, daß es mir an der Zeit schien, ein Buch zusammenzustellen„,
begann Willi Frieling sein 1985 erschienenes Buch, schon im ersten Satz des Vorworts Stagnation konstatierend, und fuhr kurz darauf fort mit Verweis auf die „weitverbreitete Rat- und Perspektivlosigkeit zahlreicher Schwulengruppen„, aufgrund derer er mit seinem Buch 1985 „eine Situationsbeschreibung der [westdeutschen, Anm.d.Verf.] ‚Schwulenbewegung‘ der Siebziger Jahre“ geben wollte.

Einige der Texte, manche der diskutierten Themen haben auch heute, 28 Jahre nach Erscheinen des Buches, eine bemerkenswerte Frische – oder nein, vielleicht nicht Frische, sondern eher Frische-Potential, vermitteln ein ‚Warten auf Entdeckung‘. Andere muten ein wenig abgestanden an, wie Debatten um das (damals recht verkrampfte) Verhältnis von Schwulenbewegung(en) und (kommerzieller) schwuler ‚Subkultur‘. Wieder andere sind heute eher von historischem Interesse (Aids) oder Partikular-Themen (Lehrer, Kirche, Gewerkschaft).

Schwule Bewegungen – war da was?

Die [sic] Schwulenbewegung, glücklich über jede Form der Diskriminierung, dankbar selbst für die belanglosesten Beschimpfungen des letzten Hetero-Idioten, sind im gummiartigen Reformklima der sozialliberalen Ära die Zähne ausgefallen„, stellt Matthias Frings fest (S.171).

Das war zuvor anders – dies wird in zahlreichen Texten des Buches aus verschiedensten Blickwinkeln deutlich. Schwulenbewegung – das waren „Glücksinseln im Vorgriff auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen„, meint Elmar Drost (S. 15).

Auch um CSDs schien es schon damals nicht recht gut bestellt: „Gay-pride weeks werden trotz flammender Reden der Politfreaks zur Rechtfertigung der Feten, auf denen die Glücklicheren nen Kerl aufreißen und die weniger Glücklichen im eigenen Saft schoren.“ (Elmar Drost, S. 17)

Schwulenbewegung – das war aber lange Zeit mehr als „nur“ politisch aktiv zu sein. Hinzu kam, was Michael Holy die „sogenannte ‚Innenarbeit'“ nannte: Selbsterfahrungsgruppen. Corny Littmann erinnert sich zu diesen Selbsterfahrungsgruppen [an eine solche SE erinnere ich mich auch recht gut …, d. Verf.]

Das war zwar eine politisch notwendige Bedingung für die Leute da drin, aber in der Außenwirkung völlig irrelevant. Aber jeder ‚Neue‘ kam erstmal in ’ne Selbsterfahrungsgruppe. Die wollten das auch.“ (S.30)

Lust und Frust? Theorieschwestern und Lustfraktion – warum macht Mensch Schwulenbewegung?

Sehr (auch heute) spannende Einblicke in das ‚Innenleben‘ schwulenbewegten Engagements bietet ein Gespräch zwischen Egmont Fassbinder, Michael Holy, Corny Littmann, Rainer Marbach und Andreas Meyer-Hanno † (stattgefunden auf dem Ostertreffen 1983).

Gibt es eine ’schwule Identität‘? Gab es gar etwas wie ein ‚Pflichtbewusstsein‘?  „Dieses Gefühl seine Pflicht zu tun„, auch z.B. um ein Schwulenzentrum aufrecht zu erhalten. Was bewegte Menschen, sich in der Schwulenbewegung zu engagieren, was sahen sie als ihren persönlichen Nutzen? Welche Intensität an Erfahrung bietet eine Zusammenarbeit als Gruppe, als ‚Bewegung‘? Gibt es gar eine ‚Angst vor dem Loch, nach der Gruppe‘? Welche Vorbedingungen brauchte es, damit Projekte wie das Waldschlößchen entstehen konnten? Und wie kann ein Generationswechsel gelingen – genügt es, sich „einfach zurück zu ziehen“?

Schwulenbewegung – in der Sackgasse?

Schwul sein heißt sich wehren„, hieß es einst – warum, das macht Elmar Drost erlebbar. Oder „Macht euer Schwulsein öffentlich!

Schwule Bewegungen : Homosexuelle Aktion Westberlin, Pfingst-Demo 9. Juni 1973 (Foto: Rüdiger Trautsch)
Schwule Bewegungen : Homosexuelle Aktion Westberlin, Pfingst-Demo 9. Juni 1973 (Foto: Rüdiger Trautsch, public domain)

Demonstration (Pfingstdemo) of Homosexuelle Aktion Westberlin – file upload: James Steakley Photograph: Rüdiger Trautsch on display in the Schwules Museum, Berlin; released to the public domain by the photographer, Rüdiger Trautsch

Und das Resultat? „Die Helden sind müde„, bemerkt Andreas Meyer-Hanno †. Rainer Marbach konstatiert Rat- und Perspektivlosigkeit, besonders aufgrund der „weitgehenden Beschränkung auf Antidiskriminierungspolitik„, und warnt vor „antiemanzipatorischen Zügen“  – bereits 1984/85:

Nun soll nicht in Abrede gestellt werden, daß der Kampf gegen Diskriminierung mit all seinen Aspekten zu den legitimen und notwendigen Inhalten schwuler Politik gehört. Als Perspektive einer autonomen schwulen Politik reicht es freilich nicht aus.“ (S. 47)

und erläutert kurz darauf

Kernpunkt integrationistischer Politik ist die Forderung nach Gleichberechtigung, Gleichbehandlung, Gleichstellung der Homosexuellen vor dem Hintergrund vielfältiger Formen von Diskriminierung und Unterdrückung. Die Einlösung dieser Forderung nach Gleichstellung besitzt freilich bei den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen einen Doppelcharakter: sie bringt zwar auf der einen Seite zunehmende Erleichterungen der Lebenssituation der Homosexuellen, dient aber auf der anderen Seite durch deren Integration auch der Stabilisierung der spätkapitalistischen Gesellschaft, um zu verhindern, daß Unterdrückte aus ihrer Unzufriedenheit heraus radikale Fragen und Forderungen ableiten.“ (S. 49)

Rainer Marbach betont, die Begrenztheit integrationistischer Antidiskriminierungspolitik führe auch zur „Verdrängung der ‚andersartigen‘ Möglichkeiten von Homosexualität„.

Schwulenbewegung – Perspektive?

Es kann doch nicht Bewegung sein, daß Schwulsein anders kommerzialisierbar ist als vor zehn Jahren„,

empört sich Corny Littmann schon 1983, nicht ohne Beigeschmack von Frustration.

Schwule Bewegungen – haben sie heute Perspektive? Oder hat Littmann recht, der ein ‚Drehen im Kreis‘ befürchtet?

„Es kommen immer wieder neue Leute; es kommt immer wieder an die selben Themen“

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Schwule Regungen schwule Bewegungen “ – dieses Buch ist heute, 28 Jahre nach seinem Erscheinen, nicht nur ein in weiten Teilen spannender Blick (weit) zurück. Es ist auch Dokument erkannter Probleme – und inzwischen auch gescheiterter Hoffnungen?

Oder ist es auch Chance, frühere Positionen, Ansätze und Perspektiven wieder zu entdecken, neu für Ansätze zu nutzen?

Die, wie Rainer Marbach es in seinem (auch heute immer noch sehr lesenswerten) Beitrag formuliert, „andersartigen Möglichkeiten von Homosexualität„, das Potential zu „Gegenentwürfen“ zum Beispiel scheinen mir heute weitgehend in Vergessenheit geraten ob der Gleichstellungspolitik auf allen möglichen Feldern – und ein Gedanke, der neu und wieder zu entdecken wert wäre.

Marbachs Resüme von 1985 scheint heute einerseits seltsam ‚aus der Zeit gefallen‘ – und zugleich Perspektiven für die Zukunft bietend:

Schwule Bewegung muß ein Gegengewicht  gegen den Zwangscharakter gesellschaftlich anerkannter Formen von Homosexualität bieten, das attraktiv genug ist, sich der ‚Lust zur Unterwerfung‘ zu entziehen.

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Willi Frieling (Herausgeber)
Schwule Regungen – schwule Bewegungen
Berlin 1985
antiquarisch erhältlich

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in der Reihe „Wiedergelesen“ siehe auch:
2mecs 26.05.2013: Das homosexuelle Verlangen / Guy Hocquenghem 1974 – wiedergelesen nach 33 Jahren
2mecs 21.08.2013: Drei Milliarden Perverse / Diekmann, Pescatore 1980 – wiedergelesen nach 33 Jahren

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Hamburg Homosexualitäten

30 Jahre mhc Hamburg – Fotos vom Jubiläum 2013

30 Jahre mhc Hamburg: Am 30. Mai 2013 feierte das Magnus Hirschfeld Centrum in Hamburg sein 30-jähriges Jubiläum unter dem Motto „30 Jahre Einsatz für queere Emanzipation“.

mhc Magnus Hirschfeld Centrum Hamburg
mhc Magnus Hirschfeld Centrum Hamburg
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Homosexualitäten

Guy Hocquenghem (1946 – 1988)

Guy Hocquenghem (geboren am 10. Dezember 1946 in Boulogne-Bilancourt; gestorben am 28. August 1988 in Paris) gilt als Galionsfigur der französischen Schwulenbewegung der 1970er Jahre.

Hocquenghem betrachtete Promiskuität, vielfältige sexuelle Erfahrungen als emanzipatorischen Akt. Durch ein offenes und fröhliches Sexleben weise der Schwule die gesellschaftliche Dämonisierung des Analverkehrs und ihre Fixierung auf das anale Tabu zurück.

Liebe mit jedem machen und diesen jeden auch noch verändern: das haben wir unterschätzt, indem wir das homosexuelle Verlangen auf das Verlangen reduzierten, mit anderen Männern ins Bett zu gehen. … Unser Verlangen hat keinesfalls den Traum als Ziel, uns vor der Front der ‚Hetero‘-Normalität als homosexuelle Normalität einzurichten.“
(Guy Hocquenghem 1979)

Guy Hocquenghem studierte an der École normale supérieure,  wurde später Dozent für Philosophie an der Universität von Vincennes.

Hocquenghem war seit deren Gründung 1971 Mitglied der Front Homosexuel d’Action Révolutionaire (FHAR).

Guy Hocquenghem veröffentlichte 1972 mit „Le Désir Homosexuel“ (auf deutsch erschienen 1974 „Das homosexuelle Verlangen“) eines der wichtigsten Werke der französischen Schwulenbewegung der 1970er Jahre.

Zuvor hatte er am 10. Januar 1972 in einem Brief im Nouvel Observateur (‚Je m’appelle Guy Hocquenghem. J’ai 25 ans.‚) seine Homosexualität öffentlich gemacht. Es war das nach Verlaine 1888 vermutlich erst zweite öffentliche coming out in der französischen Presse.

Er gehörte Ende der 1970er Jahre mit zu den Initiatoren des schwulen Radiosenders Fréquence Gaie und schrieb sowohl in der Tageszeitung Libération als auch im legendären französischen Schwulen-Magazin Gai Pied. 1979 arbeitete er gemeinsam mit dem Regisseur Lionel Soukaz an einem Dokumentarfilm über Homosexualität ‚Race d’Ep!‘.

Hocquenghem prägt die Begriffe der ‚homosexualité blanche‚ und ‚homosexualité noir‚. Im Gegensatz zur ‚homosexualité blanche‚, austauschbar und ohne soziale Risiken, sei die ‚homosexulité noir‚ eine Art Wirbelwind, der die Situation und vor allem Identität des Subjekts in Frage stelle.

Später formuliert er (in Liberation 29. März 1976) „Ein Stereotyp eines Staats-Homosexuellen … ersetzt nach und nach die barocke Diversität traditioneller homosexueller Stile. … Kommt schließlich die Zeit in der der Homosexuelle nicht mehr ist als ein Sex-Tourist, ein höfliches Mitglied im Club Méditerranée …

Hocquenghem verfasste neben seinen aktivistischen Schriften auch zahlreiche Romane und andere Werke, so u.a. ‚L’amour en relief‚, ‚Voyages et aventures extraordinaires du frère Aneglo‚, ‚Eve‚, ‚Co-ire, album systématique de l’enfance‚ oder ‚Le Gay voyage‚.

Guy Hocquenghem starb am 28. August 1988 in Paris im Hôpital Claude-Bernard an den Folgen von Aids. Er ist im Kolumbarium des Pariser Friedhofs Père Lachaise beigesetzt (Division 87, Grab Nr. 392).

Guy Hocquenghem Urnen-Grab auf Père Lachaise, Paris (Foto: Pierre-Yves Beaudouin)
Guy Hocquenghem Urnen-Grab auf Père Lachaise, Paris (Foto: Pierre-Yves Beaudouin, cc by-sa 3.0)

Vue d’ensemblePierre-Yves Beaudouin / CC BY-SA 3.0

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Guy Hocquenghem – Video

Hocquenghem 1979 im französischen TV über seine Aktivitäten, u.a. als Journalist der Tageszeitung ‚Liberation‘:
[ Video leider nicht mehr online ]

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Welche Bedeutung Hocquenghem heute noch hat, wie sehr er im ’schwulen Gedächtnis‘ Frankreichs präsent ist, zeigt dass der schwule Buchladen von Paris ‚Les Mots à la Bouche‚ Mitte Februar 2017 eine Veranstaltung ‚Guy Hocquenghem, quel héritage aujourd’hui?‚ (Was hat uns Guy Hocquenghem heute zu sagen?; Übers. UW) durchführt.

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Homosexualitäten

Guy Hocquenghem Das homosexuelle Verlangen (1974) – wiedergelesen nach 33 Jahren

Der französischer Soziologe und bedeutendes Mitglied der französischen Schwulenbewegung Guy Hocquenghem veröffentlichte im März 1972  „Le Désir Homosexuel“ (auf deutsch erschienen 1974 „Das homosexuelle Verlangen“). Einige sehr subjektive Gedanken nach einem erneuten Lesen 2013.

Guy Hocquenghem Das homosexuelle Verlangen (1974) – wiedergelesen nach 33 Jahren

Wohl 1980 oder 1981 kam dieses Bändchen in meine Büchersammlung, erstanden wie so vieles im ‚Männerschwarm‚ am Pferdemarkt. Damals war ich neu und ein ‚völlig unbeschriebenes Blatt‘ in schwulenbewegten Zusammenhängen, gerade auf dem Weg an meinem Studienort mit einigen Gefährten die ‚Schwule Aktion Bremerhaven‚ zu gründen – hatte aber in Hamburg einen sehr engagierten schwulen Buchhändler, der mein Interesse und meinen Wissensdurst schnell erkannte und mich (u.a.) mit wichtigen Schriften der Schwulenbewegung der 1970er Jahre versorgte. So auch mit Guy Hocquenghem Das homosexuelle Verlangen .

Guy Hocquenghem analysiert darin, woher die Begriffe Homo- und Heterosexualität stammen, welche Ideologien seiner Ansicht nach dahinter stehen, und fragt nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sowohl der Repression als auch einer moderaten liberalen Haltung der ‚Duldung‘ von Homosexualität. Er nimmt dabei wesentlich Bezug auf Deleuze/Guattaris Anti-Ödipus [1] sowie immer wieder auf Freud.

„Das homosexuelle Verlangen“ ist Teil einer Trilogie mit den weiteren Teilen  „L’Après-Mai des faunes“ (1974) und „Le dérive homosexuelle“ (1977). “ Das homosexuelle Verlangen “ wurde damals als ‚Manifest der homosexuellen Revolution‚ betrachtet. Es gilt inzwischen als eines der ersten Bücher der Queer-Theory.

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Ich frage mich beim erneuten Lesen zunächst längere Zeit erstaunt, was bedeutete mir dieses Buch damals, und warum? Und was bewirkte es?
Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Texten der damaligen Zeit finde ich hier kaum eigene Anmerkungen, Notizen, Markierungen im Buch, die mir Aufschluss geben können. So bleibt Verwunderung.  Das viele Psychologisieren sagt mir heute nur noch wenig. Der Text mutet mir in weiten Teilen ‚gestrig‘ an, führt Debatten die mir selbst heute nicht (wirklich: nicht mehr?) relevant erscheinen (wie Ödipus-Komplex, Psychiatrie-Debatte,  antihomosexuelle Paranoia).

Spannend und des weiteren Nachdenkens immer wieder wert hingegen scheinen mir auch heute seine politischen (anstelle: psychologischen) Analysen (z.B. Beginn von Teil III. ‚Familie, Kapitalismus, Anus‘), ebenso wie seine Gedanken zu Phallus, Männern und Herrschaft, oder (Deleuze / Guattari folgende) Gedanken zum Wesen der Lust (Phallus – Anus, S. 74 ff.). Gedanken wie diese:

  • Der Kapitalismus macht seine Homosexuellen zu mißratenen Normalen, ganz wie er seine Arbeiter zu falschen Bourgeois macht. Mehr als alle anderen manifestieren die falschen Bourgeois die Werte der Bourgeoisie (vgl. die proletarischen Familien), und die mißratenen Normalen betonen die Normalität und übernehmen ihre Werte für sich (Treue, Liebesverhalten etc.).“  (S. 72)
  • die Furcht vor Geschlechtskrankheiten als Schutzgitter der sexuellen Normalität dient.“ (S. 37)

Stellenweise erweckt der Text den Eindruck des Durchscheinens späterer queertheoretischer Gedanken, etwa wenn Hocquenghem vom „Ende der sexuellen Norm überhaupt“ spricht (S. 139)  – oder ist dies eine ‚Vereinnahmung im Nachhinein‘?

  • der Undifferenziertheit des Verlangens begegnen“ (S. 80)
  • Eher schon wäre das homosexuelle Verlangen zu beschreiben als ein Verlangen nach Lust unabhängig vom System, nicht bloß innerhalb oder außerhalb des Systems.“ (S. 102, Hervorhebung im Original)
  • Doch anstatt diese Streuung der Liebesenergie als Unfähigkeit zur Orientierung auf ein Zentrum zu interpretieren, kann man in ihr das System des nicht-exklusiven Schweifens und Sichverbindens des polymorphen Verlangens erblicken.“ (S. 127)

Gegen Schluss des Buches, lesenswert auch heute Hocquenghems – auch aus der Zeit der 1970er Jahre- Schwulenbewegung heraus zu betrachtenden – Gedanken zu „Der homosexuelle Kampf“ (Kap. V), den er auch den „gesellschaftlichen Kampf des Verlangens“ nennt, insbes. Überlegungen zum Begriff der Revolution wie

  • Hier ist es den homosexuellen Bewegungen gemeinsam mit andere gelungen, einen Bruch aufzureißen, durch den schlagartig deutlich geworden ist, wie reaktionär die Erwartung eines Umsturzes ist, der von einem virilen, breitschultrigen Proletariat herbeigeführt werden soll“ (S. 133)
    [dies eine der wenigen bereits damals markierten Stellen – ich erinnere mich an erregte Debatten mit Vertretern gewisser ‚linker‘ Gruppierungen über Haupt- und Nebenwiderspruch, und warum mein Engagement in der Schwulenbewegung der falsche Ansatz sei].
  • Das traditionell-revolutionäre Denken und Handeln hält an der Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten wie an etwas selbstverständlichem fest. Kennzeichen der homosexuellen Intervention ist dagegen, daß sie das Private, die schamhafte kleine Heimlichkeit der Sexualität, in die Öffentlichkeit, in die gesellschaftliche Organisation eingreifen lässt.“ (S. 134)

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Letztlich bleibt mir nach dem erneuten Lesen mit über 30 Jahren Abstand zunächst der Eindruck eines in weiten Teilen ein wenig ‚abgestandenen‘ Buches – mit einigen auch heute noch recht frisch anmutenden Passagen, wie z.B.

  • Es kommt also nicht einmal so sehr darauf an, ob man mit Knaben Geschlechtsverkehr hat oder nicht, sondern ob man ein guter Homosexueller ist. Wenn ihr nicht sublimiert, so seid euch eurer Verworfenheit bewußt!“  (S. 61; Hervorhebung im Original)
  • Der produzierte Homosexuelle braucht nun nur noch den Platz einzunehmen, den man ihm reserviert hat, er braucht nur noch die Rolle zu spielen, die man für ihn programmiert hat, – und er tut es mit Begeisterung und will immer noch mehr davon.“  (S. 56; Hervorhebung im Original)

Allein, diese Sätze könnten heute Ausgangspunkt sein für womöglich spannende Gedanken, Fragen an die heutige Situation, jedoch als Sätze, die ich losgelöst vom Kontext ihres Entstehens verwenden würde.

Ein Buch als ‚Satz-Steinbruch‘ – welch seltsamer Gedanken. Doch – durchhalten!, die Lektüre lohnt, gerade gen Schlusskapitel V und Schlußfolgerung.

Die homosexuelle Bewegung zeigt auf, daß die Zivilisation jene Falle ist, in der sich das Verlangen verfängt.“ (S. 136)

Hocquenghems ‚ Das homosexuelle Verlangen ‚ ist eine letztlich lohnenswerte Lektüre, auch über 40 Jahre nach seinem ursprünglichen Erscheinen. Mit Gedanken, die auch heute noch die Debatte bereichern könnten.

Am 10. Mai 2010 erschien das Buch in Frankreich in einer Neu-Auflage.

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Flugblatt der FHAR 1971
Flugblatt der FHAR 1971 [2]

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Guy Hocquenghem – Video

Guy Hocquenghem 1979 im französischen TV über den französischen Dokumentarfilm ‚Race d’Ep‚, an dem er beteiligt war:
[ Vieo leider nicht mehr online ]

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Guy Hocquenghem
Das homosexuelle Verlangen – „Nicht das homosexuelle Verlangen ist problematisch, sondern die Angst vor der Homosexualität“
München 1974
(nur noch antiquarisch erhältlich)
in Frankreich 2000 neu erschienen mit einem (neuen) Vorwort des französischen Philosophen René Schérer

siehe auch:
Bill Marshall: Guy Hocquenghem. Theorising the Gay Nation, London 1996
(US-Ausgabe Durham 1997 mit dem Untertitel ‚Beyond Gay Identity‚)

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[1] Gilles Deleuze (frz. Philisoph, 1925 – 1995) und Félix Guattari (frz. Psychoanalytiker, 1930 – 1992): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (mit einem Vorwort von Michel Foucault; Frankfurt 1974; original 1972: L’anti-Oedipe), Kritik der Psychoanalyse nach Freud, die als Instrument der Aufrechterhaltung von Repression betrachtet wird.
[2] Der Text des Flugblattes der FHAR 1971 lautet etwa: „Wir sind über 343 Schlampen. Wir haben uns von Arabern in den Arxxx fxxxen lassen. Wir sind stolz darauf und wir werden es wieder machen. Unterzeichne, und lass auch andere dies mit unterzeichnen!“ [Übers. UW] Der Text nimmt Bezug auf das (in Frankreich damals breit bekannte) Manifest der 343, eine Anzeige im Nouvel Obervateur (5. April 1971), in der 343 Frauen bekannten abgetrieben zu haben.

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in der Reihe „Wiedergelesen“ siehe auch:
2mecs 05.06.2013: Schwule Regungen, Schwule Bewegungen / Willi Frieling 1985 – wiedergelesen nach 28 Jahren
2mecs 21.08.2013: Drei Milliarden Perverse / Diekmann, Pescatore 1980 – wiedergelesen nach 33 Jahren

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Hamburg Homosexualitäten

Aufarbeitung der Verfolgung Homosexueller nach 1945 : Hamburg geht 4fach mit starkem Beispiel voran

Verfolgung Homosexueller nach 1945 : in der Bundesrepublik ist sie bisher kaum aufgearbeitet. Gleich mit einem vierfach starken Zeichen geht nun Hamburg voran.

Die Verfolgung Homosexueller in der NS-Zeit von 1933 bis 1945 wird seit Jahren nach und nach aufgearbeitet. In manchen KZ-Gedenkstätten finden sich Tafeln oder Gedenksteine für verfolgte Homosexuelle. Seminare und Bücher untersuchen Aspekte der Verfolgung Homosexueller. Im Mai 2008 wurde in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen eingeweiht.

Ganz anders die Verfolgung Homosexueller nach 1945 . Aufarbeitung: bisher weitgehend Fehlanzeige, besonders Aufarbeitung von offizieller Seite. Der berüchtigte Paragraph 175 (§175) galt in der Bundesrepublik (anders als in der DDR) weiterhin, in der von den Nazis 1935 verschärften Fassung. Justiz und Polizei verfolgten Homosexuelle weiter intensiv, ermittelten, klagten an, verurteilten zu Geld- und Haftstrafen, erfassten Schwule in Rosa Listen. Dieser Teil der Homosexuellen-Verfolgung, die Verfolgung Homosexueller nach 1945 , ist weitestgehend nicht aufgearbeitet.

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Frankreich Homosexualitäten

Elsaß Sigolsheim: Morddrohungen gegen offen schwulen Bürgermeister Thierry Speitel – Patronenhülsen mit der Post (akt.10)

Zwei Patronenhülsen mit der Post – die Botschaft, die ein Unbekannter dem offen schwulen Bürgermeister von Sigolsheim Thierry Speitel im Elsass zukommen ließ, war eindeutig.

Thierry Speitel ist seit 2008 (und derzeit in zweiter Amtszeit) Bürgermeister der Gemeinde Sigolsheim (knapp 1.200 Einwohner) im Elsass (Tal von Kaysersberg). Und er ist offen schwul (der einzige offen schwule Bürgermeister im Elsass). Vor wenigen Tagen wurde über ihn in einem Regionalblatt (Les Dernières Nouvelles d’Alsace) in Form eines Portraits groß berichtet. Dort berichtet Speitel, dass er die Forderung nach dem Recht auf Ehe für Homosexuelle unterstütze, und dass er sich selbst auch wünsche, seinen Partner heiraten zu können. Vielleicht wolle man sogar ein Kind adoptieren. Ebenfalls berichtete er in einer Sendung auf France 3 über seine Homosexualität.

Sigolsheim Wappen, Bürgermeister Thierry Speitel
Sigolsheim Wappen