
Kategorie: Erinnerungen
„Als Mittel- und Bezugspunkt einer großen ländlichen Region hat Oldenburg den Anspruch und die Aufgabe, eine Heimat für Homosexuelle zu sein„,
sagt – der Oberbürgermeister von Oldenburg.
Nun, „Heimat für Homosexuelle„, die Formulierung klingt für mich befremdlich. Möchte ich das?
Allein, hinter der mir befremdlich klingenden Formulierung steckt für die Provinz immer noch Bemerkenswertes.
Prof.Dr. Gerd Schwandner, der Oberbürgermeister Oldenburgs, begründet:
„Zu einer aufgeklärten Gesellschaft gehört ein Toleranzbegriff, der Vielfalt als Normalität begreift. Und wir können nicht genug dafür tun, diesen Gedanken weiterzutragen und mit Leben zu füllen.„
Und ergänzt
„Der hohe Anteil von Lesben und Schwulen an unserer Bevölkerung verdeutlicht das; wir verstehen ihn als Kompliment. Und zwar als eins, das immer wieder neu verdient sein will.„
Ob in Oldenburg Homosexuelle nun besser leben?
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Eine Aussage, die man sich von so manchen Bürgermeister auch größerer Städte wünschen würde.
Schon in Deutschland, umso mehr in einigen Nachbar-Staaten (erinnert sie nur daran, dass andere gerade glauben den CSD für 100 Jahre verbieten zu können).
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„Alles außer gewöhnlich.“
Ein schönes Motto für einen CSD – wo sich viele doch gerade danach recken, so gewöhnlich und angepasst wie möglich sein zu ‚dürfen‘.
„Wir müssen nicht der Norm entsprechen, um ein wertvoller Teil der Gesellschaft zu sein„,
sagt 2012 das Programmheft für den CSD Nordwest. Sein Motto: „Alles außer gewöhnlich!“
Mögen einige über diesen Satz nachdenken . . . und das Potential, das in ihm steckt …
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Ich erinnere mich.
1980 / 81 begann mein schwules Leben – in Oldenburg, in eben jenen Oldenburg.
Gerade frisch zuhause ausgezogen, entdeckte ich hier erstmals, was so alles möglich war.
Dass manch untergründig schlummernde Sehnsucht durchaus erfüllbar war.
Hatte einen ersten Lover. Raphael.
Ein guter, liebevoller Start in’s schwule Leben, an den ich mich noch heute gern erinnere.
Und Erinnerung an eine Zeit, in der (in meinen Freundes- und Bekanntenkreisen) Maxime nicht war „wir wollen sein wie die“ [Heteros], sondern primäre Idee war, die Chancen und Möglichkeiten des Anderssseins kreativ für den eigenen Lebensweg zu nutzen. Wir wollten nicht der Norm entsprechen …
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NWZ online 13.06.2012: Oldenburg möchte Homosexuellen gute Heimat sein
CSD Nordwest, dort Link zum Programmheft (als pdf) mit dem Grußwort des Oberbürgermeisters
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Schwule Aktion Bremerhaven – wie kam es dazu? Das schwule Leben in Bremerhaven Anfang der 1980er Jahre war … nun ja, überschaubar, sehr beengt (um nicht zu sagen verklemmt), kurz gesagt für einen jungen Mann, der sein Schwulsein gerade entdeckt und zu akzeptieren gelernt hat, schwul leben will: deprimierend.
Seit 1979 lebte ich in Bremerhaven. Es gab dort drei Kneipen, besucht überwiegend von älteren Herren. Zwei Klappen am Deich. Sonst (an ‚Infrastruktur‘ für männerliebende Männer) nichts, außer – wegfahren, nach Bremen, Oldenburg und in das (bald mein ’schwules Paradies‘ werdende) Hamburg. Und dann: ein Pornokino, zwar überwiegend hetero, aber auch mit schwulen Filmen.
Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.
Alles begann 1981. Forscher beobachten eine seltsame Häufung von Pilzinfektionen und seltenen Lungenentzündungen bei Schwulen in Los Angeles, später auch in San Francisco und New York. Im Juni 1981 erscheint ein erster Bericht über das, was später ‚Aids‘ genannt wird, in der Fachpresse (dem ‚MMWR‘). Schon wenig später berichtet mit der New York Times auch die erste Publikums-Zeitung, im März 1982 schließlich berichtet in Deutschland erstmals der ‚Spiegel‘, unter dem Titel “Schreck von drüben”.
So beginnt ‚die Geschichte von Aids‘ (bzw. von der Wahrnehmung von Aids, denn die Anfänge von HIV liegen weit früher).
So beginnt Anfang der 180er Jahre die Geschichte einer Epidemie, die bald das Leben (nicht nur) der Schwulen dramatisch verändert. Die Geschichte einer Infektion, die sich – zunächst schleichend, bald jedoch mit massiver Wucht – in die Leben vieler Menschen drängt, auch in meines.
2012, gut dreißig Jahre später. Zahlreiche Feiern haben stattgefunden in den vergangenen Jahren, Jubiläen unzähliger Organisationen, die sich im Kampf gegen Aids engagiert haben. Was gab es zu feiern? 3 Jahre. Erinnern. Geschichte.
Geschichten.
Geschichten wie HIV sich mal schleichend langsam , mal überschlagend schnell in unsere, auch in mein Leben drängte, es aufzusaugen drohte.
Wie wichtig ist HIV in meinem Leben?
Ein weiter Bogen ließe sich spannen, von Ignoranz bis Dominanz, von Verharmlosen bis Hoffnungslosigkeit, von Liebestrunkenheit bis zu tiefstem Absturz.
Fast wäre es wohl möglich, eine Art ‚Typologie der HIV-Relevanz‘ in meinem Leben zu erstellen – von Null auf Hundert, mit allerlei Achterbahn mittendrin.
Geht es auch wieder zurück? Hört das irgendwann einmal auf?
Anfang der 1980er
An die ersten Berichte über diese „neue Schwulen-Seuche“, wie sie damals tituliert wurde, kann ich mich gut erinnern, und auch an meine Reaktionen. „Haben die jetzt wieder etwas Neues gefunden, um uns weiter zu unterdrücken?“ Die Schwulen der Generation vor mir hatten mühsam gekämpft, um die Freiheiten, auch die sexuellen Freiheiten, zu erreichen, die ich nun gerade in vollen Zügen genoss. Wollten die uns das alles wieder weg nehmen? War da überhaupt etwas dran? Oder übertreiben die wieder mal?
Mit HIV (das diesen Namen erst später erhielt) wollte ich damals zunächst nichts zu tun haben. Okay, an das mit den Kondomen, da musste ich mich wohl gewöhnen. Ein kleiner, hauchdünner Schritt war es, mit dem HIV in mein Leben drang.
In Urlauben, gern an Frankreichs schwulen Stränden, erleben wir – anders als in den Homoszenen zuhause – weiterhin ‚das pralle Leben‘. Sex, als sei Aids ein fernes Gespenst, safer Sex etwas für neurotische Großstädter (die genau hier ihren Urlaub machen). Es ist Urlaub, die Sorgen sind fern, Kondome bei Franzosen anscheinend noch unbeliebter als bei uns. Weitgehend sorgenfrei scheint das schwule Standleben hier weiter zu toben.
Mitte der 1980er
Irgendwann begann Aids, mehr Raum in meinem Leben einzunehmen. Ob ich wollte oder nicht (nein, ich wollte nicht), HIV drängte sich mehr in mein Leben. Nicht schleichend, sondern ganz rasant. Wegschauen war vorbei. Zunehmend mehr Freunde und Bekannte erkrankten. Die ersten sterben.
Ende der 1980er
Und es wurde nicht besser. Monatelang, jahrelang nicht. Im Gegenteil.
Kein Zeichen von Hoffnung.
Kein Lichtstreif am Horizont.
Immer mehr Freunde und Bekannte kamen an, sagten dieses traurige „du, ich hab’s auch“.
Hoffnungslosigkeit schwang bei jedem Test, jeder Diagnose sofort mit.
Zahle ich jetzt den Preis für mein liederliches Lotterleben, wie sie es uns einzureden versuchen? Hat ‚es auch mich erwischt‘? Und wenn ja – wie lange habe ich noch?
Immer mehr Lover, Weggefährten, Mitstreiter starben.
Die Zahl der Trauerkarten und Einladungen zu Begräbnissen in unserem Briefkarten nahm irgendwann ein Maß an, für das mir nur ein Wort in Erinnerung bleibt: ‚unerträglich‘
Um HIV kam ich nicht mehr herum. Aids war längst tief drin in meinem Leben.
Anfang der 1990er
Im Sommer 1989 lernte ich in Paris einen jungen Mann kennen. Eine ‚große Liebe‘ meines Lebens.Wir verbrachten traumhaft schöne Momente mit einander, positive Momente. Irgendwann in den 1980ern hatte ich selbst die Diagnose ‚HIV-positiv‘ bekommen. Auch er war positiv. Seelenverwandte waren wir, Gefährten. (Ich habe über die Zeit mit ihm auf unserem privaten Blog 2mecs geschrieben „Einige Tage mit dir“.)
HIV hatte sich wieder weiter voran in mein Leben gedrängt, wieder eine Stufe mehr auf der Leiter der Aids-Eskalation, eine unerträgliche. Nicht nur waren große Teile meines persönlichen Umfelds HIV-positiv, nicht nur hatte ich selbst längst mein Testergebnis in der Tasche. Nein, nun war auch einer der Menschen, die mir am nächsten sind, einer den ich liebe, positiv – und erkrankte, erkrankte schwer.
Ich erlebte mit ihm, mit uns nicht nur ’sein‘ HIV, sei fortschreitendes Erkranken. Mir war nur zu bewusst: du erlebst hier auch dein HIV. Du erlebst auch dich selbst – in irgend einer nicht allzu fernen Zukunft. So wie ihm wird es bald auch dir ergehen.
Im Herbst 1990 starb Jean-Philippe.
Selten habe ich mein Leben elendiger empfunden.
Und lange hinterher stand immer wieder eine Frage im imaginären Raum meiner stillen Gedanken: Warum er? Warum ich nicht? Eine Frage, die heute nur schwer verständlich erscheinen mag. Eine Frage, auf die es keine ‚vernünftige‘ Antwort gibt. Keine Antwort die erträglich ist.
Mitte der 1990er
Irgendwann konnte ich auch meiner eigenen HIV-Infektion nicht mehr so locker umgehen wie zuvor viele Jahre lang. Ich ging regelmäßig zum Arzt, ließ Werte kontrollieren, versuchte halbwegs auf eine gesunde Lebensführung zu achten. Nahm erste Medikamente gegen HIV, als sie verfügbar wurden. Bemühte mich aber, mein ich, mein Sein nicht von HIV bestimmen zu lassen.
Doch das funktionierte irgendwann nicht mehr. HIV drängte sich noch weiter vor in mein Leben, nahm nun eine zunehmend wichtigere Rolle ein. Ich erkrankte oft, vielfach an ‚harmlosen‘ Dingen, doch zunehmend häufiger, schwerer.
Bis mein Körper irgendwann ’nein‘ sagte, nicht mehr wollte. Ich wachte eines Morgens auf, im Krankenhaus, unter Sauerstoff. PcP – eine der Erkrankungen, die damals Horror-Gefühle bei jedem Positiven auslösten. Eines der untrüglichen Zeichen: nun ist es soweit.
HIV begann, mein Leben zu dominieren.
1996
„Wir können nichts mehr für Sie tun.“ Die Worte des Arztes waren eindeutig. Und sie überraschten meinen Mann und nicht, nicht mehr. Zu viel war passiert in den vergangenen Wochen und Monaten.
Mein eigener Horizont war immer enger geworden. Reichte nur mit großer Mühe noch über mich, mein kleines beschissenes Leben, das pure Über-Leben bis zum nächsten Morgen hinaus
Die maximale Eskalationsstufe schien erreicht. HIV hatte sich so massiv in mein Leben gedrängt, das kaum noch Raum für anderes war. HIV hatte mein Leben okkupiert. Zu einhundert Prozent. Es fraß mich auf.
Immer noch 1996
„Es gibt da ein neues Medikament. Noch nicht in Europa zugelassen, aber gute Studiendaten.“ Wenige Wochen später. Der Arzt kann mir zaghaft Hoffnung machen.
Einige Wochen, einige Probleme mit der Krankenkasse, einen Arztwechsel später: plötzlich macht es ‚peng‘. Plötzlich, einige Wochen nachdem ich mit der neuen ‚Kombi‘ begonnen hatte. Eines Tages merkte ich ‚da ist ja doch noch Leben in dir‘. Wachte auf, fühlte mich. Fühlte mich – ein klein wenig kräftiger. Ein Wort, ein Gedanke, der mir sehr lange nicht mehr gekommen war.
Es war ein kleiner Hoffnungsschimmer – aber er sagte: vielleicht kannst du doch die Hoheit über dein Leben zurück gewinnen, zumindest für einige Wochen, einige schöne Tage noch.
In den 2000ern
Ein Auf und Ab folgte. Wirken die Pillen? Und wie lange? Wann versagen sie wieder? Trotz aller neuen Hoffnungen, HIV war immer da, ganz vorne im Bewusstsein. Die Drohung des Sterbens war immer präsent.
Mein Leben mit HIV, mit den Pillen ist zu dieser Zeit nicht immer einfach. Die eine Kombi macht so massive Nebenwirkungen, dass ich mich kaum ohne Unterhose zum Wechseln aus dem Haus traue. Die andere führt zu Taubheit an den Füßen, Neuropathien. Irgendwann werden die Arme und Beine immer dünner, Löcher schleichen sich ins Gesicht – Lipodystrophie.
Und doch: ich lebe. Und ich lebe zunehmend besser. Lerne mit Neben- und Wechselwirkungen umzugehen. Therapiewechsel. Irgendwann auch Kombi-Therapien, die ich ruhigen Gewissens als ‚verträglich‘ empfinde.
HIV ist noch da, nimmt zuerst weiter einen sehr großen Raum in meinem Leben ein. Aber der Raum wird kleine. Schleichend reduziert sich der Einfluss, den HIV auf mein Leben hat, dem ich ihm gewähren muss.
Und doch – HIV und Aids haben Wunden hinterlassen in mir, die nur sehr langsam heilen (tun sie das?). Schmerzen, die immer wieder aufbrechen. Schaue ich (was ich vermeide) in alte Adressbücher, schreit mich eine Einsamkeit des Zurückgelassenen an. Erinnere ich mich an früher, an Menschen, die ich liebe, mit denen ich mich engagierte, die mich durch mein, durch unsere Leben begleiteten – ist da eine unendliche Traurigkeit. Leere.
2012
Inzwischen, und schon seit einigen Jahren, kann und soll Aids wieder weit weniger Raum in meinem Leben einnehmen, deutlich weniger. Ja, es gibt noch die täglichen Pillen, die dreimonatigen Arztbesuche. Gelegentliche Positiventreffen. Meine Site ondamaris.
In meinem Fühlen, in dem was mich persönlich beschäftigt, nimmt Aids hingegen seit Jahren weniger Raum ein. HIV okkupiert nicht mehr mein Leben. Ich versuche, ihm ständig weniger Raum zuzugestehen. Eine kleine, ganz private ‚Normalisierung‘.
Das Leben ist längst zurück gekehrt, mit all seinen Freuden, Banalitäten und Alltagssorgen.
HIV – ist noch da, und wird es wohl, so keine Wunder geschehen, auch mein Leben lang bleiben.
Aber HIV dominiert nicht mehr mein Leben. Ist ein Teil davon, ein kleiner. Bestimmt es nicht mehr.
Im Gegenteil, in den letzten Jahren verliert es an Bedeutung, für mich, in meinem Leben, wird HIV zunehmend – unwichtiger.
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Was ich mir für die Zukunft wünsche?
Dass HIV und Aids wieder dorthin verschwinden, wo sie hingehören: in die Bedeutungslosigkeit.
Hier, und überall auf der Welt, unabhängig von Industrialisierung oder ‚Wohlstand‘.
Und dass der Weg, die Menschen die diesen Weg gegangen sind, die diesen Weg nicht überlebt haben, erinnert werden.
Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.
Geschichten haben für gewöhnlich ein Ende.
Auch die Geschichte von Aids.
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Diesen Text habe ich als Gast-Beitrag für den ‚Teilzeitblogger‘ verfasst, der ihn am 14. Mai 2012 veröffentlicht hat.
Übernommen hat den Text auch thinkoutsideyourbox.
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Text 21. April 2017 von ondamaris auf 2mecs
Schwusel – 1982/ 83
Seit 1981 gab es in Hamburg eine Gruppe für junge Lesben und Schwule: SCHWUSEL. Ich erinnere mich an schöne Zeiten bei Schwusel in den Jahren 1982 und 1983 – die Gruppe war eine Zeit lang einer der Mittelpunkte meines schwulen Lebens damals – von politischem Engagement bis zu Gruppentreffen, privaten Feiern und schönen Freundschaften.
Im schwulen Stadtführer Hamburg ahoi! (1. Auflage, 1981) stellt Schwusel sich u.a. folgendermaßen vor:
„Wir, Schüler, Studenten und Azubis im Alter bis ca. Mitte 20, haben uns seit Mitte 1980 zusammengefunden. Als junge Homoexuelle haben wir uns bewußt von den bestehenden Gruppen abgesetzt und als eigene Gruppe gegründet, weil wir meinen, daß unsere Situation sich von der ‚erwachsener‘ Schwuler und Lesben noch unterscheidet.“

Schwusel hatte auch eine eigene (kleine) Zeitung „SCHWUSEL – unabhängige Zeitung der schwul-lesbischen Jugend Hamburgs“ . In der erste Ausgabe 1983 wurde die Gruppe so vorgestellt:
„SCHWUSEL – aus SCHWU von SCHWUl und SEL von LESbisch – ist eine Selbsthilfegruppe schwuler und lesbischer Jugendlicher im Alter bis ca. 25 Jahre, die es seit Mai 1981 gibt. … SCHWUSEL hat im Januar 1983 ca. 50 Mitglieder. Einige von uns arbeiten im Forum Hamburger Lesben und Schwule mit.“
Koordiniert wurde Schwusel von einem ‚Kollektiv‘ (in dem ich zeitweise Mitglied war). Die Gruppe traf sich im JuZ St. Georg (Stiftstr.), später dann in den Räumen in der ersten Etage über dem ‚Tuc Tuc‘ in der Oelkersallee 5, wie auch das Titelbild der „SCHWUSEL-Zeitung Nr. 2/83“ zeigt:

Schwusel bestand vor allem auch aus zahlreichen Unter-Gruppen. So vermeldet die Schwusel-Zeitung 2/83 neben dem Kollektiv eine Coming-Out-Gruppe, eine Kennenlern-Gruppe, eine Provinz-Gruppe, die Freizeitgruppe, hinzu kam später z.B. eine Schul-Gruppe, eine Lesbengruppe, verschiedene Geprächskreise. Schwusel unterhielt zudem ein zwei Stunden pro Woche erreichbares „Schwusel Telefon“ – und war somit eine der ersten regelmäßig für junge Lesben und Schwule erreichbaren Anlaufstellen.
Eines der am leidenschaftlichsten innerhalb von Schwusel diskutierten Themen war übrigens … die Altersgrenze (ja, diese Debatte gab es ‚damals‘ auch schon …). Eigentlich war Schwusel ja für Menschen bis 25 Jahre gedacht. Je mehr sich einige Mitglieder jedoch dieser Grenze näherten, desto mehr kamen einige ins Nachdenken … und Debattieren, um die Altersgrenze.
SCHWUSEL und das Magnus-Hirschfeld-Zentrum MHC
Schwusel plante, sich auch aktiv am (damals noch in Planung befindlichen) MHC Magnus-Hirschfeld-Centrum zu beteiligen. Vertreter/innen der Gruppe nahmen an entsprechenden Gesprächen teil (hier lernte ich erstmals Hans-Georg Stümke kennen, damals einer der sehr aktiven Menschen in der UHA) – die Mitarbeit von Schwusel im MHC scheiterte letztlich, in meiner Erinnerung vor allem daran, dass die UHA von ihrer dominierenden und allein-entscheidenden Position nicht abweichen wollte.
Die Beschäftigung mit und Auseinandersetzungen um das Magnus-Hirschfeld-Zentrum und die UHA kosteten Schwusel viel Energie – sehr zum Leidwesen einiger Mitglieder, die der Ansicht waren, diese Energien seien besser für die Gruppe eingesetzt.
Die Schwusel-Zeitung Nr. 4 vermeldet schließlich (in einem Beitrag von ‚Intervention‘ angesichts des Auszugs des Beratungs-Vereins ‚Intervention‘ aus dem MHC):
„Wieder geht eine Illusion kaputt. Zwar gibt es weiter ein schwull-lesbisches Zentrum in Hamburg, und der UHA wird es sicher auch gelingen, in Kürze das Beratungs-Angebot des MHC zu gewährleisten. Aber der Traum, in diesem Zentrum auch die verschiedenen Strömungen der Szene zu einigen, ist wohl endgültig dahin. Eher haben sich die Gräben noch weiter vertieft, hat sich die UHA noch weiter isoliert.
Und viele engagierte Menschen haben im Laufe der 1 ½ Jahre Auseinandersetzungen viel Kraft verschleudert und Mut verloren. Von der verschwendeten Kraft an unserer gemeinsamen Sache selbst mal ganz zu schweigen.“
Willi Klinker, damals UHA, zog im gleichen Heft Bilanz:
„Der Sinn und Zweck des MHC ist es, sozusagen ein Forum für alle denkbaren schwulen, lesbischen und sexualpolitischen Aktivitäten zu sein. …
Klar gibt es Unterschiede in der Arbeitsweise zwischen der UHA und anderen Gruppen; dazu gehören auch Mentalitäts- und Stilunterschiede. Die UHA hat in ihrer Arbeit das Hauptaugenmerk auf dem „G.H.“, wie Bea T[…] vor kurzem ironisch formulierte – auf dem gewöhnlichen Homosexuellen.“
Vielleicht waren wir, waren einge Hamburger Lesben und Schwule, damals einfach „nicht gewöhnlich genug“ …
Das MHC, die UHA und die anderen Hamburger Lesben- und Schwulengruppen – es war eine leidige Geschichte, aber auch eine, die Erfahrungen lehrte.
Froh war ich einige Jahre später, dass es in Köln gelang, das dortige neu entstehende Schwulen- und Lesbenzentrum SchULZ um einen Trägerverein (‚Emanzipation e.V.) herum entstehen zu lassen, in dem nahezu alle damals in Köln aktiven Schwulen- und Lesbengruppen und -strömugen vertreten waren.
Im Frühsommer 1989 lernte ich Jean-Philippe kennen. Einen der Menschen, die ich liebe. Im Herbst 1990 starb Jean-Philippe in Paris an den Folgen von Aids. Dazwischen liegen viele intensive Erlebnisse mit- und füreinander. Über einige, einen kleinen Ausschnitt, erzähle ich in der kleinen Mini-Serie „Einige Tage mit dir“.
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Einige Tage mit dir – die Mini-Serie:
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?
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Zwei Nachbemerkungen:
1. Über Jean-Philippe und unsere gemeinsame Zeit habe ich viel geschrieben, seit Jahren. Privat, rein für mich. Viele Seiten sind gefüllt, viele Gefühle und Erinnerungen versucht festzuhalten. Viele Bilder im Kopf versucht in Worte zu fassen. Nur einige wenige sehr enge Freunde und Bekannte kennen den gesamten Text. Nun, das wurde mir im Dezember 2011 klar, ist es für mich an der Zeit, zumindest einen kurzen Auszug zu erzählen.
2. Den Titel der Mini-Serie „Einige Tage mit dir“ habe ich entliehen in Annäherung an den wunderbaren Film (1988) von Claude Sautet „Quelques jours avec moi“ (Einige Tage mit mir) mit Daniel Auteuil und Sandrine Bonnaire.
„Hey.“
Ich fühle eine Hand auf meiner Schulter. Einen Arm, der sich um mich legt.
„Hey.“
Irgendjemand wischt mir Tränen aus dem Gesicht. Erschöpfte lehne ich mich an ihn. Weine. Eine Hand legt sich auf meinen Kopf.
„Ich weiß.“
Er rüttelt mich.
„Hey.“
Wieder rüttelt er mich. Wo bin ich? Leicht schlägt er mir mit der Hand auf die Wange. Ich reibe mir die Augen. Blicke in die Augen von Sylvain, einem der besten Freunde Jean-Philippes. Ich verstehe nicht. Wo bin ich? Was ist hier los?
„Hey, wir müssen langsam los.“
Los, wohin? Ich schaue mich um. Steine, überall Steine. Da hinten, die Treppe, die Kuppel. Langsam erinnere ich mich. Die Halle, diese Halle. Wir sitzen auf den Stufen des Columbariums. Keine Ahnung, wie spät es ist.
„Hey, Ulli. Wir haben dich alle gesucht. Was machst du denn.“
Ich muss lange hier gesessen haben. Versuche zu sprechen. Mehr als gurrendes Gestotter, sinnlose Laute, will nicht aus meinem Mund kommen.
„Ich weiß. Ich weiß“, höre ich Sylvain auf mein Gestammel antworten. „Ich weiß.“
Er streicht mit seiner Hand durch mein Haar. „Ich weiß. Mir geht es ja ähnlich wie dir.“
Ich sehe ihn an. Wortfetzen fallen aus meinem Mund, aber ich weiß nicht welche.
„Ich weiß“, höre ich immer wieder.
Wie beruhigend plötzlich Sylvains Stimme auf mich wirkt, wie warm sein Arm auf meiner Schulter, wie vertraut, obwohl wir uns nie sehr nahe waren. Er fasst mich, zieht mich hoch. Ohne Gegenwehr, wie willenlos folge ich seiner Bewegung.
„Wir müssen jetzt los. Die anderen sind schon vor einiger Zeit gefahren. Dominique und ich haben noch weiter hier nach dir gesucht.“ Ich sehe ihn auf die Uhr blicken.
~
Irgendwann Stunden zuvor.
Frühmorgens fährt der Zug in den Gare du Nord ein. Da drüben, in dem Café habe ich gesessen, als ich zu früh morgens ankam, damals, als ich Jean-Philippe zum ersten Mal in der Klinik besucht habe. Damals. Wie weit entfernt das klingt, dabei sind seitdem nur Monate vergangen. Ein verdammt trostloser, sorgenvoller Morgen damals. Nichts gegen das, was mir jetzt wohl bevor steht. Keine Idee was mich erwartet. Gefühl ich will das alles nicht. Möchte abhauen, fliehen, mit dem nächsten Zug zurück. Oder besser noch, zwei drei Bier und dann ab in die nächste Sauna, mir alle Sinne aus dem Leib ficken lassen. Kann man Situationen, Momente ungeschehen machen? Klar nein, und doch wünschte ich mir nichts mehr als diese Situation, diesen beschissenen Tag einfach aus der Realität tilgen zu können. Ich will nicht hier sein, ich will nicht erleben was gleich geschieht, ich will nicht dass es geschieht. Ich will nicht. Ich kann nicht.
Manisch schleppen mich meine Beine gen Metro-Station. ‚Du kannst jetzt nicht kneifen, jetzt nicht! Das bist du Jean-Philippe schuldig, das zumindest!‘, sagt eine Stimme in mir. Eine Stimme, die irgendwie die Oberhand gewinnt, mich steuert, mich in die Metro setzt, in irgendeinen Zug, mit irgendwelchen Leuten, igendwelchen Gesichtern Stimmen Launen. Irgendwann lässt die Stimme mich aussteigen machen.
Unverfrorenerweise scheint die Sonne an diesem Tag. Ungläubig tappse ich aus dem Dunkel der U-Bahn-Station, blinzele. Sonne, das ist einfach unmöglich. Die größte Frechheit. Wie kann an diesem Tag die Sonne scheinen? Deine Sonne? Oder bist du das? Bist du schon da oben, in der Sonne, schaust zu, was wir hier Absonderliches treiben?
Die Trauerhalle ist nicht zu übersehen. Vor Jahren bin ich auf dem ‚Père Lachâise‘ mit Frank spazieren gegangen, geschlendert auf der Suche nach den Gräbern von Jimmy Morrison, Edith Piaf und Co. Heute weiß ich nicht was ich hier will, was ich hier soll, und bin doch nur zu dem einen Zweck hier. Zwei drei Leute nicken mir zu. Ich fliehe schnell in die Trauerhalle. Jetzt bloß nicht mit irgend jemandem reden müssen.
Dunkel, warm, seltsam feucht-moderig ist die Halle. Und viel größer als erwartet. Manche Stadt hat sowas nicht als Theater, geht es mir durch den Kopf. Eine Art Bühne vorne, Blumenschmuck, ein Pult für einen Redner. Reihen von Stühlen. Vorne sehe ich Syriac mit einigen Freunden. Er bemerkt mich nicht. Hinten, dort ist ein Balkon, beinahe wie in einem dieser alten französischen Kinosäle. Ich verkrieche mich dort, in einer der oberen Reihen. Erst jetzt sehe ich mitten auf der Bühne, ein wenig im Hintergrund, den Sarg, in dem du jetzt liegst. Will dir nahe sein, und doch so weit weg wie irgend möglich von dem, was hier geschieht. Kaum jemand sitzt hier oben, unten hingegen drängen sich langsam Menschen in die Reihen. Annie sitzt ganz vorne, neben Syriac, bei ihr Jean-Philippes kleiner Bruder. Immer mehr Menschen kommen. Was wollen die hier, kannten die alle Jean-Philippe? Könnt ich mich nur irgendwo allein verkriechen.
Ein Gong, fast wie aus dem Off eines großen alten Kinos. Nein, kein Vorhang öffnet sich, kein Film. Ein orange gekleideter Mensch den ich nicht kenne ist auf die Bühne gegangen, hat wortlos einen kleinen messingfarbenen Gong geschlagen. Stille. Musik vom Band. Irgendwann reden irgendwelche Menschen in fremder Sprache salbungsvolle Worte, die ich kaum verstehe. Dicke Nebelschwaden ziehen vor meinen Verstand, dunkel schwant mir noch, dass das hier eine Trauerfeier nach dem Ritus des buddhistischen Ordens sein wird, dem du dich zuletzt so nahe fühltest. Die Neben werden dicker, dunkler, dräuender. Nacht, ich versinke in tiefschwarzer beängstigender Nacht. Nichts mehr, nicht einmal Gedanken. Nur solch ein seltsamer, Ekel erregender Geruch. Und Leere, kalte schwarze Leere. Wie festgeklebt sitze ich hier, auf immer gefangen in dieser schwarzen klebrigen Leere. Kein Wille kann meinen Augen Ohren Beinen Befehl geben sich abzuwenden. Wie schwarz-grauer Schleim dringt kalte klebrige Leere überall hin, verklebt Augen Ohren Hände.
Irgendwie dringt durch all das gewaltige Nichts ein seltsames Gongen an mein Ohr. Noch einmal. Ein wenig lichten sich die grauen Nebelschwaden. Ich sehe Menschen dort unten zurück zu ihren Plätzen gehen, die letzten werfen gerade ein Räucherstäbchen in eine bereit gestellte Schale auf der Bühne. Noch ein Gong. Wie in einem schlechten Film senkt sich plötzlich langsam der Sarg ab. Verschwindet irgendwo in den Tiefen der Bühne. Fremdartige Musik füllt die schwarze Stille. Einer der Orangegewandeten beginnt noch fremdartiger klingende Mantras zu beten. Riten. Meditationen. Ich versinke tief im ewigen schwarzen Schlund.
Wieder so ein seltsamer Gong. Wie viel Zeit ist vergangen? Bin ich immer noch hier? Ein kleines, schwarz gekleidetes Männchen kommt rechts neben der Bühne aus dem Vorhang getreten. Geht hinunter, zur ersten Reihe. Sieht sich kurz ratlos um, bis Syriac aufsteht. Einen seltsamen Karton entgegen nimmt, den ihm der Mann reicht.
Ich sehe Menschen dort unten aufstehen, dem Ausgang zustreben. Das Licht auf der Bühne wird gelöscht. Irgendwie folge ich dieser Herde. Die Treppe hinunter, raus, nur raus hier, hämmert es in meinem Kopf. Wie betäubt trotte ich dem Ausgang entgegen. Kein Laut. Keine Stimme. Kein Geräusch. Unendliche Kälte. Mit wird schwindelig. Filmriss.
~
Dominique lenkt den Wagen durch den dichten Pariser Verkehr. Ich blicke durch die Scheiben, sehe nichts was Sinn macht. Dichte milchig-weiße Nebelschwaden hängen tief in meinem Kopf. Irgendwann stolpere ich hinter Dominique und Sylvain aus dem Fahrstuhl. 13. Etage, 19. Arrondissement.
„Da bist du ja endlich, wir haben uns schon Sorgen gemacht.“ Liebevoll nimmt Syriac mich lange in den Arm, gibt mir einen Kuss. Jean-Philippe steht in seiner Urne auf der Fensterbank, neben der Balkontür. Umrahmt von zwei Blumenarrangements. Die Sonne scheint. Auf dem Boden liegt der Pappkarton.
Etwa 20 Gäste mögen da sein, ich erkenne Annie, die zu mir herüber nickt, ihren kleineren Sohn im Arm. Syriac drückt mir einen Teller in die Hand. „Hier, du musst jetzt was essen.“ Er sieht mich bestimmt an. Wie ferngesteuert greife ich nach irgendwelchen Dingen, die da auf Tabletts auf dem Tisch liegen. Der zähe klebrige Alptraum geht weiter. Ich verkrieche mich in eine Ecke, hinten in dem Zimmer, das so oft in den letzten Monaten mein Zimmer gewesen ist. Nein, auch hier mag ich jetzt nicht sein. Verkriechen. Alleinsein. Nur weg hier.
„Entschuldige bitte, aber ich möchte jetzt lieber allein sein. Und langsam muss ich ja auch zurück nach Köln, mein Zug …“.
Immerhin, mein Verstand funktioniert scheinbar wieder so weit, dass ich mich in sinnvollen Worten ausdrücken kann.
„Ich weiß.“
Syriac sieht mich liebevoll an.
„Sylvain fährt dich. Damit du auch wirklich am Bahnhof ankommst.“
Wir geben uns Küsse auf die Wangen, nehmen uns so intensiv in den Arm als würden wir uns auf immer voneinander verabschieden.
„Pass auf dich auf. Und – danke nochmal für alles!“
„Gerne“, kann ich noch antworten, bevor sich die Fahrstuhltür schließt.
Eine unsichtbare Regie übernimmt wieder. Tiefgarage Wagen Bahnhof Zug. Fremde Menschen Bewegung Trostlosigkeit Leere. Irgendwann komme ich in unserer Wohnung in Köln wieder zu mir.
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Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?
September 1990. Auf dem Rückweg aus dem Urlaub an Frankreichs Stränden verbringen wir wieder einige Tage bei Jean-Philippe und Syriac. Heute ist unser letzter Tag in Paris, morgen geht es zurück nach Köln. Spazieren gehen in der Stadt, dann mit Frank in die Sauna, in die ‚Conti‘, die ‚Continental Opéra‘. Noch ein wenig Spaß, bevor bald wieder die Arbeit losgeht.
Nachmittags rufe ich Jean-Philippe aus der Sauna an. Schon nach einigen Sätzen gibt er an Syriac weiter. Zu müde, er will noch schlafen. Ich solle mit Syriac absprechen, wann und wo wir uns heute Abend treffen.
Der ist gut gelaunt und aufgeweckt wie fast immer. Er habe da eine Idee, eine schöne Brasserie, leckeres Essen. Ob uns das recht sei? Frank nickt, als ich ihm kurz erzähle. Brasserie, ja, das klingt gut. Brasserien haben meist gutes Essen, sind dabei aber einfacher eingerichtet und preisgünstig. Ich notiere mir den Namen, Adresse und Wegbeschreibung. Direkt gegenüber der Börse, es sei kaum zu verfehlen. Um 8 Uhr könnten wir uns ja dort vor dem Eingang treffen.
Zwei oder drei Stunden später. Von der ‚Conti‘ ist es nicht all zu weit bis zur Börse, wir haben noch Zeit, gehen zu Fuß. Dennoch werden wir wohl zu früh da sein, und überhaupt, pünktlich werden Jean-Philippe und Syriac vermutlich eh‘ nicht sein.
Gut gelaunt verlassen wir die Sauna, stromern langsam durch die Straßen, grob Richtung Börse. Statt leidlich bürgerlich zu bleiben wie um die Sauna herum, zeigen die Nebenstraßen, Autos, die wenigen Fußgänger immer mehr distinguierte Vornehmheit, je näher wir der Börse kommen. ‚Kannst du dir vorstellen, dass hier eine günstige Brasserie sein soll?‘, fragt Frank unterwegs ein wenig irritiert. Nein, eigentlich nicht, dazu sieht es in diesem Viertel doch zu chic aus.
Etwas zu früh kommen wir dort an, wo die Brasserie sein müsste. Die Szenerie mutet uns ein wenig bizarr an. Immerhin, wir haben doch Spätsommer, was machen all die wohlgekleideten Damen im Pelz hier? Und dazu dicke Limousinen, aus denen gern Herren im zurückhaltend modernen Anzug steigen. Man zeigt sich, grüßt und wird begrüßt. Nein, irgendwie müssen wir uns verlaufen haben, das hier kann nicht die Brasserie sein, und das hier ist definitiv nicht unsere Welt.
Nur seltsam, dass dieses große luxuriöse Restaurant doch den gleichen Titel trägt, ‚Le Vaudeville‘. Vorne am Eingang, die Tür wird von einem Ober geöffnet, dahinter wird den Gästen die Garderobe abgenommen. Irgendwas läuft hier seltsam. Sollten wir hier doch richtig sein? Aber dann hätte Syriac doch sicher vorher etwas gesagt. Schließlich, Frank in seiner zerrissenen Jeans, wir beide nur mit T-Shirt und Jacke, alles nach dem Urlaub nicht gerade frisch und sauber – hier sind wir deplaziert, hier kommen wir nicht einmal am Entrée vorbei.
Schon steuert grinsend Syriac auf uns zu, „ach wie schön, ihr seid ja pünktlich da! Jean-Philippe kommt gleich, ist so schwierig hier einen Parkplatz zu finden.“
Erstaunt sehen Frank und ich erst einander, dann Syriac an. Wir sind hier doch richtig? Wie soll das gehen, in den Klamotten, und, nebenbei, mit der Geldbörse? Das hier dürfte schließlich nicht unsere Preisklasse sein. Doch Syriac ignoriert unseren irritierten Blick, steuert zielsicher auf den Eingang zu, „wir gehen schon mal rein“, sagt er mehr als dass er fragt, ist schon am Entree.
Wie belämmert folgen Frank und ich. Was mag nun geschehen, zwei Jeans-Boys aus Deutschland neben all den aufgehübschten edlen Pelzträgerinnen?
„Sie haben reserviert? Ah ja, ich sehe, Ja Monsieur E., 5 Personen. Leider, ich bitte das vielmals zu entschuldigen, Ihr Tisch ist noch nicht frei. Vielleicht möchten Sie und Ihre Gäste schon einmal Ihre Garderobe ablegen? Und wegen der Unannehmlichkeit des Wartens, darf ich Sie auf Kosten des Hauses auf ein Glas Champagner einladen?“
So kann ein Restaurant-Besuch auch beginnen, nun sind wir erst recht irritiert. Unsere arg unpassende Kleidung völlig ignorierend, werden wir wie selbstverständlich mit einer versnobt-gelassenenen Aufmerksamkeit und Höflichkeit behandelt, die mir in Deutschland kaum bisher begegnet ist.
Endlich, als gerade die Champagnergläser zum ChinChin klirren, kommt auch Jean-Philippe. Ein wenig mürrisch dreinschauend, „ich musste dreimal um den Block fahren, c’est un bordel, kein Parkplatz zu finden hier!“. Schließlich doch ein Lächeln, er nimmt mich in den Arm, küsst mich, schaut mir in die Augen wie lange nicht mehr. „Tisch noch nicht frei?“
Ein wenig Plauderei, bald ist unser Tisch frei, wir werden platziert. Frank hat unterdessen schon die Speisekarte studiert, kommt mit einem „oh, ich weiß schon was ich essen werde“ freudig strahlend zurück. Ich kenne diesen Blick, dieses „ich weiss schon“, das bedeutet „Schatz, ich möchte die Austern“. Verstohlen fragt er mich „Schatz, du hast doch deine Kreditkarte mit?“ Ich nicke unauffällig und denke sorgenvoll an unseren Kontostand.
Wir haben längst gewählt, nein, besser, wir haben weitgehend Syriac für uns entscheiden lasse, bis auf Frank, der unbedingt ‚überbackene Austern an Spinat mit Champagner‘ probieren möchte.
Jean-Philippe kann sich nicht entscheiden, ist nörgelig, „was soll ich denn nehmen, groß ist die Auswahl hier ja nicht …“. Dies schmeckt ihm nicht, jenes bekommt ihm nicht. Spannung liegt in der Luft, aus flüchtigen Bemerkungen zwischen den beiden schließe ich, dass es auf der Fahrt hierher wieder einmal Streit gegeben haben muss.
Syriac ist wie fast immer ein guter Gastgeber, wir haben einen amüsanten Abend, einzig beeinträchtigt von einem zunehmend zickiger werdenden Jean-Philippe. Bald haben wir unser anfängliches Gefühl von Irritation, Deplaziertheit angesichts Ort und Publikum völlig vergessen, fühlen uns wohl und fast ein wenig zu hause, so locker und ungezwungen ist die Atmosphäre. Das da drüben, zwei Tische weiter, sei der bekannte Rennfahrer, streut Syriac nebenbei in die Unterhaltung ein. Der sei auch nur hier, weil die Austern so gut seien. Was wir, überbacken oder roh, nun nicht bestreiten können.
Jean-Philippe beteiligt sich nur wenig an der Unterhaltung. Ich bemerke, wie er sich immer weiter in sich zurück zieht. Zu gern möchte ich neben ihm sitzen, ihn in den Arm nehmen. Allein, in dieser Konstellation, an diesem Ort, unmöglich. Ich versuche ihm mit Blicken Wärme zu geben.
Die Stimmung zwischen ihm und Syriac kocht unterdessen langsam aber stetig hoch, zunehmend verzickt und abweisend reagiert Jean-Philippe auf jeglichen noch so liebenswerten Versuch Syriacs, die Situation, nein seine Laune ins Bessere zu wenden.
Als die Situation zu eskalieren droht, herrscht Syriac in leise aber deutlich an. „Nun reiß dich bitte zusammen, es ist doch der letzte Tag“, er blickt Jean-Philippe in selten gesehener Strenge an. Ja, schade dass der letzte Abend unseres Urlaubs, der Besuch in diesem für uns außerordentlichen Restaurant etwas anstrengend verläuft, Jean-Philippe so gar nicht entspannt ist. Nun denn, ich kenne ihn ja, so ist er halt manchmal,.
Unvermittelt steht Jean-Philippe auf, ruhig und beherrscht, aber sichtlich erschöpft und genervt. „Ich fahr schon mal nach hause. Nehmt ihr euch nachher ein Taxi?“
Syriac nickt, ein flüchtiger Kuss, ein „ciao Jungs, wir sehen uns morgen früh noch?“, schon ist Jean-Philippe verschwunden.
Der Abend geht locker und deutlich entspannter weiter, Syriac bleibt gut aufgelegt als wäre nichts geschehen. Irgendwann weit nach dem Dessert kommt dezent auf seine Frage ein Tellerchen mit der Rechnung, die er fast unbemerkt mit der Karte begleicht. Kein Protest hilft, nicht einmal die Summe mag er verraten, nein, wir seien eingeladen, dies sei doch der letzte Urlaubstag, das müsse man feiern. Immerhin, auf ein Glas im ‚Piano Zinc‚, einer unserer gemeinsamen Lieblingsbars dürfen wir ihn hinterher noch einladen.
Spät nachts kommen wir heim; Jean-Philippe schläft längst. Was für ein schöner, überraschender Abend. Ein Abend, an den wir wohl noch lange denken werden. Müde und mit dem Gefühl ’schade dass wir morgen fahren müssen‘ schlafen Frank und ich ein.
Am nächsten Morgen, nicht zu spät aufstehen, schließlich wollen wir am Nachmittag zurück in Köln sein. Gegen 10 Uhr, die Taschen sind schon gepackt, frühstücken wir gemeinsam. Jean-Philippe sieht eingefallen und müde aus. Ich frage nicht nach, auch nicht nach dem Streit gestern Abend. Syriac ist munter und gut gelaunt wie fast immer, Jean-Philippe zwar noch ein wenig knurrend aber doch besserer Stimmung als am Vorabend. Außer einem ‚habt ihr gut geschlafen‘ erwähnt auch er den Abend und sein frühzeitiges Verschwinden mit keinem Wort.
Kurz vor 12 verabschieden wir uns. Ein herzliches in den Arm Nehmen, ein von einem Zwinkern begleitetes ‚Danke für den schönen Abend‘, ein Kuss zum Abschied.
„Ich bin sehr erschöpft, seid mir bitte nicht böse, wenn ich nicht mit hinunter kommen. Ich bin sehr müde, möchte mich noch etwas hinlegen.“
Wir nehmen uns noch einmal in die Arme, „bis bald, mein Lieber“ – „Pass auf dich auf“ – „Ruft an, wenn ihr in Köln angekommen seid, ja?“.
Immer wieder berührt es mich, ihn sagen zu hören ‚Pass auf dich auf‘. Ein letzter Kuss, wir müssen los, müssen beide morgen schon wieder arbeiten.
Syriac begleitet uns im Lift in die Tiefgarage, hilft uns beim Einladen. Öffnet das Tor, ein letzter Kuss auf die Wangen.
Oben an der Ausfahrt, im Hintergrund ist schon das große PCF-Gebäude an der ‚Place Colonel Fabien‘ zu sehen. Wir blicken noch einmal zurück, sehen Jean-Philippe winkend auf dem Balkon stehen. Winken zurück, ich sehe wie er ‚danke‘ gestikuliert, werfe ihm einen Kuss zu. Dann mal los, Richtung Autobahn.
~
Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?
April 1990, wenige Tage nach Ostern. Wir sitzen beim Abendessen, als das Telefon klingelt. „Allooo, isch Jean-Philippe Muutti“, meldet sich eine weibliche Stimme. Es klickt sofort. Ich höre ihr erleichtertes Seufzen, als ihr anbiete französisch zu sprechen. Ihr Sohn, nein, der andere, Jean-Philippes kleiner Bruder lerne in der Schule deutsch und habe ihr einige Sätze aufgeschrieben. So wie sie es aussprechen solle. Aber sie verstehe kein deutsch. Jean-Philippe sei wieder in der Klinik. Ob ich kommen könne? Er würde sich freuen. Ein kurzes Telefonat, keine drei Minuten.
Zwei Tage später bin ich in Paris. Das tägliche Pendeln zwischen Klinik und Wohnung wiederholt sich. Syriac kommt jeweils am frühen Abend, nach seiner Arbeit, bleibt inzwischen meistens die ganze Nacht bei Jean-Philippe, zumindest jedoch bis er eingeschlafen ist. Morgens gegen 11 fahre ich dann wieder in die Klinik, bis zum erneuten abendlichen ‚Schichtwechsel‘.
Es ist erst wenige Wochen her, dass wir zu viert einige gemeinsame Tage in der Bretagne verbracht haben, ruhige und entspannte Tage. Ich bemerke erschrocken , wie sehr Jean-Philippe sich verändert seitdem, oder – nein, nicht er, sondern sein Gesundheits-Zustand. Oft ist er so erschöpft, dass wir kaum miteinander sprechen, er schläft oder döst, ich sitze neben ihm am Bett, halte seine Hand, sehe ihn an, oder sitze einfach neben ihm, lese. Manchmal plärrt der Fernseher im Hintergrund.
Besuch kommt wenn überhaupt dann meistens nachmittags, Freunde und Freundinnen, seine Mutter, sein kleiner Bruder. Sein Vater ist zwar informiert, ignoriert aber weiterhin jede Notwendigkeit ihn zu besuchen. Ein einziger Anruf.
Triste Tage, triste Abende. Das Minitel erweist sich als verlockendes, und doch auch deprimierendes Werkzeug, die leeren Stunden des Abends zu füllen. Chatten, Kontakte, Phantasien – und doch grenzenlose Einsamkeit.
Un poste de Minitel 2. –
Nach einer Woche fahre ich wieder nach Köln, ausgepowert. Am folgenden Tag solle er entlassen werden, hat Jean-Philippe, nur wenig mehr zu Kräften gekommen als eine Woche zuvor, strahlend verkündet.
~
Juni 1990. Es beginnt Sommer zu werden, wir planen gerade, wie und wo wir unseren Urlaub verbringen wollen. Wieder Frankreich, die schwulen Strände? Oder spontan etwas last minute buchen?
Das Telefon klingelt.„Salut Ulli, c’est Syriac. Wie geht es dir?“
Ich wundere mich, normalerweise ruft Jean-Philipp an, gibt höchstens zwischendurch den Hörer kurz an Syriac weiter. Schon nach wenigen Höflichkeitsfloskeln erzählt Syriac, Jean-Philippe sei wieder im Krankenhaus. Wieder in der Clinique Henner, die ich ja von Februar und April schon recht gut kenne. Ob ich kommen könne? Jean-Philippe habe nach mir gefragt, würde sich sehr freuen mich zu sehen. Es gehe ihm ziemlich schlecht, erzählt Syriac nach einigen Rückfragen noch. Toxoplasmose, vermuten die Ärzte. Natürlich könne ich wieder bei ihnen wohnen, wie die letzten Male schon, kein Problem. Ich sage zu, direkt am nächsten Tag auf der Arbeit zu prüfen, wann und wie viele Tage ich frei nehmen kann. „Kannst auch gern auf meiner Arbeit anrufen“, sagt Syriac noch kurz vor dem Abschied. Es scheint ziemlich ernst sein, die Arbeit war bisher tabu, die Büro-Nummer gab er mir im Februar nur für den absoluten Notfall. Schon am nächsten Tag sehr früh morgens sitze ich erneut im Zug nach Paris.
~
Toxoplasmose. Eines dieser Worte, die noch vor einigen Jahren kaum ein Schwuler kannte, nicht einmal von deren Existenz wusste – und nun sind sie der Inbegriff des Horrors für uns. Eine Infektionskrankheit, ein Parasit,für Menschen mit gesundem Immunsystem meist unproblematisch und symptomlos. Mit HIV, mit einem beschädigten, vielleicht ziemlich kaputten Immunsystem sieht es anders aus. Toxoplasmose bedeutet dann schiere Angst – Angst vor Entzündungen im Gehirn, vor Krämpfen und Lähmungen, vor Wesensveränderungen. Wohl beinahe jeder Positive weiß in dieser Zeit um die tiefere Bedeutung des Wortes Toxoplasmose. Jetzt ist es ernst geworden. Jetzt kann es unangenehm werden, sehr unangenehm.
Viele Gedanken wirren mir durch den Kopf, während der Fahrt durch nordostfranzösische Landschaften. Angst schleicht sich ein.
In der Klinik wird schnell klar, Jean-Philippes Stimmungslage hat sehr verändert. Noch im März, während unseres kurzen gemeinsamen Urlaubs, war er meist der immer gut gelaunte Sonnyboy. Manchmal mit einem kleinen Hang zur Zickigkeit, meist aber schwankte seine Stimmung höchstens ins Exaltierte, wenn eine Sache, ein Gedanke, ein Gefühl ihn wieder einmal völlig mit riss vor Begeisterung. Vor Begeisterung, die er dann unbedingt mit allen und jedem teilen wollte.
Und nun? Immer noch gibt es diese Momente völliger Begeisterung bei ihm, gelegentlich zumindest. Sie werden seltener. Wirken wie Leuchttürme, einzelne Masten, an denen sich seine Hoffnungen festmachen, an denen er sich immer wieder aufrichtet. Nur um kurze Zeit später auf’s Neue abzustürzen in tiefe Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, manchmal Depression.
Erschreckend ist, wie klar und mit welcher Traurigkeit er diese depressiven Abstürze selbst hinterher wahrnimmt.
„Irgendwas verändert sich bei mir. Ich versteh mich manchmal selbst nicht mehr.“ Jean-Philippe sieht mich mit einer ratlosen Traurigkeit an.
Ich lege mich zu ihm aufs Bett. Sofort rollt er sich an mich.
„Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Hilf mir.“
Wir schweigen beide; ich kraule die dünnen Haare in seinem Nacken. Er schließt die Augen. Seine Worte hallen wie ein Faustschlag nach in meinem Magen. Noch nie hat er das gesagt. So deutlich, so offen ausgesprochen hilflos habe ich ihn noch nie erlebt.
~
Einige Tage später. „Kannst du morgen schon früher da sein?“
Ich kann Jean-Philippe eh nichts abschlagen. Auch heute nicht, und was heißt es schon, mal etwas früher aufzustehen. Nichts, außer abends ein oder zwei unbedeutende Stunden weniger allein vor dem Minitel zu sitzen, elektronisch zu cruisen und doch nichts zu machen.
Seine schüchtern-zurückhaltenden Art, in der er gestern Nachmittag fragte, dabei mit einem Blick voll Zaghaftigkeit, Unsicherheit, ob er nicht doch zu viel verlange. Sein Gesicht, in dem mich trotz aller Schwierigkeiten, trotz Klinik, Nervereien und langsam stärker durchscheinendem Gefühl von Hoffnungslosigkeit immer noch dieser liebevolle, sehnsüchtige Junge anblickt, mit Augen die mir bis tief in meine Eingeweide zu reichen scheinen. Abschlagen könnte ich ihm wahrscheinlich nichts.
„Ich hab morgen so ein Tomo … Tomodingsda. Werd schon früh morgens abgeholt und dahin gefahren.“
Computer-Tomograpie. Seine Ärzte sind wohl zunehmend ratlos, befürchten immer noch eine Toxoplasmose, wollen zur Sicherheit sein Gehirn untersuchen lassen.
Morgens kurz vor acht bin ich auf seinem Zimmer. Er sitzt aufrecht im Bett, schickes kurzärmeliges Hemd an, darüber eine leichte Jacke, dazu Jogginghose. Eine eigenwillige Mischung zwischen alltäglichem Jean-Philippe und Krankenhaus-Mode,.
Küsschen links, Küsschen rechts, „willst du auch einen Tee?“ Er zeigt auf den dampfenden Becher, der auf seinem Nachttisch steht. „Der Wagen ist eh noch nicht da.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, klingelt er schon nach der Schwester.
Die Clinique Henner hat selbst kein CT, die Untersuchung findet in einer anderen Klinik der gleichen Gruppe statt. Der Krankenwagen, mit dem er dorthin gefahren werden soll, lässt allerdings auf sich warten. Um halb elf endlich kommt ein Pfleger ins Zimmer, holt Jean-Philippe in einem Rollstuhl ab. Sieht mich irritiert an, als ich mit in den Lift steige. Unten im Keller, in der Tiefgarage, die ich bisher überhaupt nicht wahrgenommen habe, kurzes Wortgeplänkel zwischen Jean-Philippe und dem Fahrer. Nach einigem Debattieren und Telefonaten darf ich schließlich doch mitfahren.
Durch irgendwelche Seitenstraßen geht die Fahrt etwa dreißig Minuten quer durch Paris. Ich sitze still neben Jean-Philippe, er sucht immer wieder nach meiner Hand. Seine dünne, knöchrige Hand. Kalter Schweiß, er hat Angst. Von der Stadt draußen ist durch die Milchglas-Scheiben kaum etwas zu sehen.
„Meinst du, ich bekomm‘ dafür ’ne Spritze?“ Wir fahren über eine enge Kehre in eine Tiefgarage. Ich merke wie Jean-Philippe immer nervöser wird. Versuche ihn zu beruhigen, die Untersuchung diene ja dazu, ihm bessere Therapien geben zu können. Es gelingt mir kaum, seine aufsteigende Angst zu lindern.
„Hier ist aber Schluss. Hier müssen Sie jetzt warten.“
Definitiv, in barschem Tonfall betont der Pfleger das ‚müssen‘. Noch mehr Ausnahme gibt’s nicht, scheint er signalisieren zu wollen. Jean-Philippes Proteste helfen nichts, er wird alleine in seinem Rollstuhl durch eine automatisch beiseite fahrende breite Tür navigiert. Ich bleibe in einem karg eingerichteten Raum zurück. Kahle schmucklose Wände, krankenhausgrün lackiert. Neonlicht, zwei Reihen orangefarbener Hartschalen-Sitze. Vergeblich versuche ich mir die nächsten zwei Stunden die Zeit zu vertreiben mit irgendwelchen französischen Friseurs-Zeitschriften.
Plötzliches Surren. Die große Tür schiebt sich beiseite. Eine Schwester schiebt Jean-Philippe in seinem Rollstuhl ins Zimmer, er scheint zu schlafen. Ich schiebe seinen Rollstuhl an die eine Reihe der Hartschalen-Sitze heran, auf der ich die letzten zwei Stunden verbracht habe. Nehme seine Hand, streichle seine Wange. Er atmet ruhig, scheint tief zu schlafen.
Nach einer dreiviertel Stunde kommt ein Fahrer, holt uns ab. Durch unterirdische Klinikgänge geht es wieder zur Tiefgarage. Als sein Rollstuhl in den Transportwagen verladen wird, beginnt Jean-Philippe sich langsam etwas zu regen. Zurück in der Clinique Henner, kommt er auf seinem Zimmer wieder zu sich. Kann sich an nichts erinnern, wundert sich, dass ich da bin. „Ich hab wohl geschlafen?“ Ich lasse ihn weiter dösen, bis nachmittags Syriac kommt.
~
26. Juni 1990.
„Ich bin sehr erschöpft. Lasst ihr mich ein wenig dösen?“ Jean-Philippe sieht erst seine Mutter, dann mich mit leeren Augen an.
„Alors, mein Kleiner, dann ruh dich aus. Wir können ja was essen gehen, sind in einer guten Stunde wieder hier.“
Annie lächelt ihn an. Blickt dann auffordernd zu mir herüber. Ja, ich versteh schon. Obwohl, was soll ich denn jetzt mit ihr? Ich würde viel lieber allein sein, meinetwegen still neben seinem Bett sitzen, was lesen. Das stört ihn nicht, all die vergangene Tage hier hatte ich oft ein Buch in der Hand. Auch wenn ich meist kaum lesen konnte, eher in grauen Gedanklen gefangen war.
Aber Annie steht schon auf, legt mir ihre Hand auf den Rücken. „Komm, Ulli, so lernen wir uns auch einmal etwas besser kennen.“ Mir ist ein wenig flau. Überrumpelt kapituliere ich, werfe ihm einen Kuss zu, „bis gleich“. Er nickt müde.
„Wohin möchtest du denn gehen?“
„Ach, ist doch egal.“
Ganz offensichtlich will Annie nur raus aus der Klinik. Noch offensichtlicher ist, dass sie mit mir sprechen will.
„Siehst du? Da vorn steht doch schon ein Schild ‚Restaurant’. Da gehen wir jetzt einfach rein, irgendwas wird’s da schon zu essen geben.“Wir gehen einige Schritte die Straße entlang. An der Einmündung der nächsten Querstraße, genau auf der Ecke, ein kleines Restaurant. Ein Blick durch’s Fenster, scheinbar eher ein recht einfaches Resto. Ich bin mir nicht sicher, wohin sie will.
„Hier?“
„Ja klar, ist doch egal wo. Ist doch eh alles egal.“
Wir gehen hinein. Der Wirt hinter der Theke blickt verwundert auf. Er scheint um dies Zeit normalerweise keine Kunden zu erwarten. Einige Gäste, ihrem jovialen Benehmen zufolge eher Nachbarn oder vielleicht Freunde des Patrons, sitzen an der Theke. Fast alle haben ein Glas Bier vor sich stehen. Keiner von ihnen blickt sich um, als wir zur Tür herein kommen.
Alle starren sie in eine Ecke des Raums. Ach ja, die Glotze. Sie erklärt ihre seltsame Abwesenheit. Die Übertragung eines Fußballspiels läuft. Einige der Gäste an der Theke gestikulieren ab und an, argumentieren heftig.
Ohne weitere Worte suchen Annie und ich uns einen Tisch nahe dem Eingang. Möglichst weit von dem in großer Lautstärke plärrenden Fernseher, weit weg von den anderen Gästen. Wieder dieses Gefühl einer seltsamen Parallelwelt.
Der Wirt kommt zu unserem Tisch. Wirsch blickt er Annie an. Ja, wir stören, ganz offensichtlich seine kleine private Fußball-Party.
„Guten Tag, was darf’s sein?“
Annie blickt zu ihm auf, sagt nichts. Verschluckt sie ein Schluchzen?
Sofort verändert sich das Verhalten des Wirts, er blickt sie an, erstaunt, aber mit einer Spur warmen Mitgefühls in seinen Augen.
„Wir möchten gerne etwas essen. Und zwei Glas trockenen Rotwein bitte.“ Annie hat keine Anstalten gemacht auf den Wirt zu reagieren, so dass ich für uns bestelle.
„Gerne, ich bring Ihnen die Karte.“ Er sieht, während er antwortet, weiterhin Annie an. „Wenn der Fernseher Sie stört?“ Mit fragendem Ausdruck lässt er seinen Satz unbeendet, deutet an, er könne das Gerät eventuell etwas leiser stellen. „Obwohl, ist Niederlande gegen Deutschland, Fußball-Weltmeisterschaft.“ Er zuckt mit den Schultern wie als wolle er sagen ‚was soll man da machen’.
„Nein, ist schon gut“, Annie antwortet ihm ohne ihn anzuschauen, die Augen irgendwo weit in die Ferne gerichtet. Ratlos geht er.
Annie sitzt immer noch mit leerem Gesichtsausdruck vor mir, sieht in die unendliche Tiefe des grauen Resopaltischs zwischen uns.
„Es ist alles so sinnlos. So hoffnungslos.“ Sie blickt mich an.
„Was soll ich denn jetzt noch machen?“ Tränen laufen über ihr Gesicht.
Nach kurzem Zögern kramt sie in ihrer Handtasche nach Taschentüchern, wischt sich nachlässig das Gesicht. Meine Gedanken sind wie gelähmt. Kein Wort will sich in meinem Hirn bilden, geschweige denn über meine Lippen kommen.
Der Wirt kommt zurück, die Speisekarten in der Hand. Er sieht Annie, ihr Gesicht. Er wirkt ratlos, aber offensichtlich auch bemüht hilfreich zu sein.
„Die Toiletten sind da hinten“, er zeigt auf eine Tür neben der Theke.
„Vielen Dank“, sagt Annie tonlos zu ihm. Zögert einen Augenblick, sieht mich an, „bestellst du irgendwas für mich, ’ne Pizza oder so? Ich geh mal eben“.
Kurze Zeit später kommt sie von der Toilette zurück. Keine Idee, was ich sagen soll. Mit verheulten Augen sitzt sie mir gegenüber. Nimmt meine Hand. Schweigend sitzen wir da.
„Schön, dass du so für ihn da bist. Du tust ihm sehr gut.“
Erstaunt schaue ich sie an.
„Wenn ich nur irgendwas tun könnte. Aber so?“
Ich schaue wahrscheinlich immer noch ratlos drein. Rat-los. Welchen Rat sollte ich ihr auch geben? Der Arzt, erfahre ich schließlich, habe ihr vorhin gerade gesagt, dass er nur noch wenig Hoffnung habe, nichts wesentliches mehr für Jean-Philippe tun könne. Dass er sich nicht sicher sei, ob Jean-Philippe die Klinik noch einmal lebend verlasse.
Es erschreckt mich nicht wirklich, das zu hören. Zu offensichtlich waren die letzten Tage. Eher lähmt es mich noch mehr als eh schon.
Was tun? Nichts, nichts kann man mehr tun.
Was tue ich hier?
Schweigen. Ratloses, trostloses Schweigen.
Mühsam knabbern wir beide an dem zähen Quadrat namens ‚Pizza‘, das der Wirt vor uns gestellt hat.
Hinterher bringe ich Annie zurück zur Klinik. Nein, sie solle allein zu Jean-Philippe hochgehen, sage ich ihr, sicher wolle sie doch auch einige Momente allein mit ihm haben. Ich wolle ein wenig spazieren gehen, dann nach hause.
Nur weg, abhauen. Ich fühle mich hilflos, ratlos, beschissen. Völlig ausgequetscht, alle, leer. Wie tief kann es noch bergab gehen? Was kommt noch alles?
Ich könnte kotzen, heulen, schreien. Der Tour Montparnasse hätte jetzt die richtige Höhe, sich herunter zu stürzen. Diese verfickte Klinik hier hat nur vier Etagen. Der Abgrund schreit dennoch kilometertief.
~
Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?
Ein kalter Tag im Februar 1990. Jean-Philippe ist seit gestern wieder in der Klinik. Abends erreiche ich nur Syriac am Telefon, der kurz angebunden ist, aufgeregt wirkt, von der Arbeit kommend gerade zur Klinik aufbrechen will als ich anrufe. Diesmal sei Jean-Philippe jedoch in einer Privatklinik, die städtische Klinik vorher habe ihm so gar nicht gefallen.
Ich möchte ihn sehen, zu ihm fahren, ist mir sofort klar, diesmal ohne Bauchschmerzen, ohne Ängste, ohne Hin- und Hergerissensein. Selbstverständlich könne ich solange im Gästezimmer wohnen, Syriac ist unkompliziert wie meist. Und wohl auch froh angesichts einer möglichen Entlastung. Sechs Tage die Woche arbeitet er tagsüber in einer Immobilien-Agentur, kann sich weniger um Jean-Philippe kümmern als er gerne würde. Am Abend des nächsten Tages sitze ich im Nachtzug nach Paris. Habe mit irgendeiner fadenscheinigen Begründung kurzfristig einige Tage frei genommen.
~
Unerträglich langsam quält sich der Nachtzug durch Belgien. Wir kommen kaum voran, scheint mir.
Die französische Grenze muss scheinbar schon passiert sein, der Zug ist endlich schneller geworden. Ich bin wohl etwas eingenickt. Müde reibe ich mir die Augen, halte beide Hände neben meinem Gesicht an die Scheibe, vielleicht lässt sich so etwas vom ‚draußen‘ erahnen. Nein, außer gelegentlichen vorbeihuschenden Lichtern nichts zu sehen. Wir rasen durch anonyme nordost-französische Landschaften. Der Wagen rattert. ‚Paris, Paris‘ scheint seine Melodie zu sein.
Irgendwann zwischen fünf und sechs Uhr am Morgen. Zermartert komme ich am Gare du Nord an. Immerhin, ich kann mich nicht an die letzten zwei drei Stunden erinnern, keinen Halt, keine Station. Irgendwann muss ich wohl doch vor Müdigkeit eingeschlafen sein. Meine Gelenke schmerzen. Bequem ist es nicht, billig mit Sitzplatz statt im Liegewagen nach Paris zu fahren.
Noch ist es viel zu früh, um in die Klinik zu fahren. Zwei oder drei der Touristen-Cafés gegenüber dem Bahnhof haben bereits geöffnet. Ich kaufe mir eine Tageszeitung, setze mich in eines der Cafés. Einen Tee, ein Croissant, erstmal richtig wach werden. Ein angenehmes Ankommen in der Stadt sieht anders aus. Müde dreinschauende Menschen auf der Straße, zügig zur U-Bahn-Station oder zum Bahnhof eilend. Durch riesige Eingänge verschlingt sie der graue, heute morgen besonders trist dreinschauende Bahnhof.
Weiter hinten im Café röhrt es unruhig, eine farbige Putzfrau schiebt ein Reinigungsgerät hin und her. Der Geruch starker Putzmittel zieht leise durch den Saal. Was tue ich hier? Klar, warten. Warten dass die Zeit vergeht, dass die Uhr endlich sagt dass ich zur Klinik, zu Jean-Philippe aufbrechen kann. Ungeduld. So unruhig wie die Fahrt im Nachtzug sind auch meine Gedanken, Ängste, Gefühle. Was kommt gleich auf mich zu? Wie mag es Jean-Philippe wohl gehen? Wie wird es sein, ihn im Krankenhaus wiederzusehen?
Die Zeiger der Bahnhofsuhr gegenüber gehen gemächlich auf sieben Uhr zu. Ich lege einige Franc auf den Bistrotisch, nehme meinen Rucksack. Zurück zum Bahnhof gegenüber, hinunter in den Schlund, der nun auch mich verschluckt, auf der Suche nach der richtigen U-Bahn-Linie.
Schon wenige Minuten später wirft mich die Metro wieder aus. ‚Pigalle‘, Assoziationen an französische Chansons, Filmszenen flackern auf, Ideen und Bilder eines Viertels von Paris, das ich bisher kaum kenne.
Place Pigalle, Paris IXe, France –
Erste Blicke, oben angekommen, irritieren. So sieht also eine Lasterhöhle aus? Eine dreckige Straßenkreuzung, Passanten strömen auf die Metrostation zu, andere aus ihr hinaus. Karge, abweisende Häuser, die meisten im Erdgeschoss mit hinunter gelassenen Rollläden, nur ein ‚Bar Tabac‘ und ein Café haben bereits geöffnet. An der Ecke gegenüber alte Neonreklamen, aussehend als hätten sie ihr letztes Licht schon vor Jahren von sich gegeben. Eine schmuddelige, heruntergekommen wirkende Ecke, die so gar nichts mit den Bildern meiner Phantasie gemein hat.
Syriac hat mir den Weg zur ‚Clinique Henner‘ beschrieben. Die Rue Henner ist eine kleine ruhigere Seitenstraße an Pigalle. Eng stehen vier- und fünfgeschossige Wohnhäuser des 18. und 19. Jahrhunderts nebeneinander, bürgerlicher, wohliger als an der prominenten Kreuzung. Wo hier eine Klinik sein soll scheint mir unklar. Nirgends ein größeres, moderneres Gebäude zu sehen. Schließlich finde ich die Adresse, die Syriac mir genannt hat. Allein, hier ist weit und breit kein Krankenhaus. Kein großes Eingangsportal, keine Krankenwagen-Auffahrt, keine Taxis, nichts. Mehrmals gehe ich die Straße suchend auf und ab. Eher zufällig entdecke ich schließlich an einem dieser beige-braunen Wohnhäuser einen Hinweis. Ein Messingschild ‚Clinique Henner‘, nicht größer als ein Hinweisschild für eine Arztpraxis, sagt mir dass ich tatsächlich richtig bin. Ich wundere mich ein wenig, kann das seriös sein, so eine kleiner Eingang? Wenn die ganze Klinik so mickrig ist, wie wollen die dann auf Aids-Patienten spezialisiert sein? Nun denn, erstmal hinein.
So leer und ruhig wie die Straße ist auch der Eingang der Klinik. Wenig mehr als ein etwas breiterer Hausflur. Hinten rechts entdecke ich ein Glasfenster, dahinter scheint sich die Rezeption zu verbergen. Irritiert sieht mich die junge Frau an, als ich zaghaft an die Scheibe klopfe. Zimmer 314, dritter Stock, da drüben sei der Lift, erfahre ich. Und einen mahnenden Hinweis, es sei allerdings noch sehr früh. „Ich weiß“, entgegne ich ihr, „ich komme gerade aus dem Nachtzug.“ Als sei das eine Erklärung für die frühe Störung. Achselzuckend nimmt sie meine Antwort zur Kenntnis, schließt das Fenster wieder.
Dritte Etage. Leise öffnen sich die Türen des kleinen Lifts. Lange Flure zu beiden Seiten, Linoleum-Boden, mehrere gläserne Türen teilen einzelne Bereiche ab. Am Ende des Flurs in einer Ecke finde ich Zimmer 14. Soll ich schon hinein gehen? Schließlich, es ist gerade einmal halb acht, reichlich früh für einen Krankenbesuch. Andererseits, ich kann ja mal leise schauen. Ich klopfe zaghaft. Klopfe, nachdem keine Reaktion kommt, noch einmal. Nichts zu hören. Schläft er noch? Wahrscheinlich.
Ich versuche, leise die Klinke zu drücken. Sie quietscht, als wolle sie meinen Versuch sabotieren. Die Tür gibt den Blick frei in ein kleines Einzelzimmer, in der gegenüber liegenden Ecke ein zweiflügeliges Fenster, auf einen Innenhof zeigend. Davor ein Bett. Erst jetzt sehe ich ihn, tief eingemummelt in seiner Bettdecke, nur sein Kopf lugt auf der dem Fenster zugewandten Seite heraus. Jan-Philippe scheint noch zu schlafen.
Leise stelle ich meinen Rucksack neben dem Bett ab. Schaue mich um, gibt es hier einen Stuhl, irgend etwas wo ich warten kann, bis er wach wird? Das Bett knarrt, er bewegt sich, dreht sich um. Öffnet verschlafen die Augen, nur ganz wenig, als würde die morgendliche Sonne ihn blenden.
Eine Sekunde, dann ein Grinsen, ein Lächeln um seine Lippen, „Ulli, c’est toi? C’est vrai? Tu est là …“. Ungläubig, voller Freude strahlt sein müdes Gesicht mich an.
„Hey, schön dich wieder zu sehen!“ Ich gehe an sein Bett, gebe ihm einen Kuss auf die Stirn.
Er greift nach einem Haken, der an einem verchromten Arm seitlich am Bettgestell angebracht ist, zieht sich daran im Bett hoch, bis er beinahe aufrecht sitzt. „Hey, wieso bist du denn hier? Und dann um diese Uhrzeit?“ Er ist plötzlich ganz aufgeregt, völlig wach trotz seiner verschlafenen Augen.
Überraschung gelungen, Syriac hat ihm anscheinend nichts von unserem Telefonat und meinen spontanen Reiseplänen erzählt. „Na, dachtest du ich lass dich hier mutterseelenallein, und dann mitten im Nutten-Viertel Pigalle?“
Er muss lachen, fasst sich aber gleich an die Brust, scheint Schmerzen zu haben. Wir umarmen uns. Er legt seinen Kopf an meine Brust, fast wie damals an der Nordsee. ‚Mein Gott, dieses ‚damals‘, das ist doch erst Wochen her‘, schießt es mir durch den Kopf.
„Mensch, was freu ich mich, dass du hier bist!“ Er schaut mir in die Augen, und ich versinke in seinem Blick.
„Hab ich dich geweckt?“
„Ach Quatsch. Ich verbring doch eh den halben Tag mit Schlafen und Dösen, was soll man denn hier schon mehr machen.“
Immer noch grinst mich Jean-Philippe breit an. „Ja! Und? Wie war die Fahrt?“ Ich muss auch grinsen. Welche Frage. Als gäbe es nichts wichtigeres.
„Und, willst du gar nicht frühstücken?“ Ich deute auf das Tablett auf dem Nachttisch.
„Keinen Hunger.“ Das Grinsen weicht aus seinem Gesicht.
„Du siehst ziemlich eingefallen aus, wenn ich ehrlich sein soll. Meinst du nicht, es wär‘ gut, zumindest ein wenig zu essen? Kraft kannst du jetzt gut gebrauchen.“ Ich versuche, ihm möglichst sanft das Essen etwas näher zu bringen.
„Ich weiß, ich weiß“, sagt er zu meiner Überraschung. „Ich hab schon zu hause auf der Wage gesehen, dass ich wieder einige Kilo verloren habe. Aber das?“, er zeigt auf den Teller.
Auf dem Tablett sehe ich die halb leer getrunkene Tasse Tee, einen zerquetschten Teebeutel daneben. Einen Apfel, einen Teller, darauf einige Stücke getoastetes Baguette und zwei Portionspackungen Marmelade. Zwar nicht viel für meinen Geschmack, aber sieht doch eigentlich ganz lecker aus. Ich sehe ihn ahnungslos an.
„Das da“, und nebenbei lerne ich so das französische Wort für Zwieback, „kann ich nicht essen. Kratzt viel zu sehr im Hals.“
Er macht seinen Mund weit auf. Zeigt mit seinem Zeigefinger auf seine Zunge.
Ein Blick, und ich verstehe. Beinahe alles ist weiß, Zunge und Gaumen sind von einer pelzigen weiß-grauen Schicht überzogen. „Du hast Pilz!“
„Im Rachen auch“, ergänzt er.
Kein Wunder, dass er das knochentrockene getoastete Baguette nicht essen kann. Zwieback geht gar nicht, nicht mit Pilz im Rachen. Gedankenlosigkeit des Personals? Unerfahrenheit?
„Bekommst du Medikamente dagegen?“
Er zeigt auf die Nachttisch-Schublade, in der einige Pillen in einem großen Plastik-Schieber liegen. „Wirkt aber nicht. Soll heut Nachmittag was anderes bekommen, angeblich ganz neu zugelassen.“
„Aber trotzdem musst du doch jetzt was essen“, beharre ich.
„Ich weiß“, nickt er still. „Aber das war gestern auch schon so. Da hab ich das Frühstück gleich wieder zurück gehen lassen, hab nur den Tee getrunken.“
„Moment mal, da muss es doch was anderes zu essen gehen.“
Er schaut mich verunsichert an, während ich aufstehe.
Einige Zimmer weiter treffe ich auf eine der Stationsschwestern. Eine nette farbige sehr korpulente Frau, wohl etwa in unserem Alter.
‚Champignon‘, das französische Wort, das wir für einen bestimmten Speisepilz verwenden, in Frankreich bezeichnet es auch diverse Pilzerkrankungen. Welche bittere Ironie, Nahrung und Unmöglichkeit zu essen so nahe in einem Wort bei einander. Ich schiebe meine Gedanken beiseite. Versuche ihr in meinem nicht allzu guten Französisch zu erklären, dass er mit einem Rachen voller Pilz wohl unmöglich trockenen Zwieback essen könne.
Zunächst sieht sie mich ungläubig an, lacht aber immer wieder, als würden sie meine lebhafter werdenden Gesten erheitern. War das mit dem ‚Champignon‘ doch verkehrt? Nein, plötzlich grinst sie. Ich muss wohl sehr ratlos dreingeschaut haben.
„Ist schon gut, ich glaub ich hab verstanden, der Zwieback kratzt so, dass er ihn nicht mag.“
Erleichtert atme ich auf.
„Geben Sie mal her“, sie nimmt mir das Tablett ab, „ich werd mal sehen was ich machen kann.“
Nach einer halben Stunde, Jean-Philippe kommt gerade von der Morgenwäsche aus dem Bad, klopft sie an die Zimmertür. Bringt ein neues Tablett herein. Darauf ein Teller mit einigen Scheiben ungetoastetem Weißbrot, etwas Marmelade, eine kleine Packung Obst-Kompott, ein Becher Joghurt, eine Tasse Kraftbrühe.
„Speziell für Sie!“ Sie lacht Jean-Philippe über ihr ganzes Gesicht an. „Und alles aufessen!“ Sie versucht streng zu wirken und muss doch selbst lachen.
„Ich hab Ihrem Bekannten gleich einen mitgebracht.“ Sie zeigt auf einen zweiten Becher. „Muss dann mal weiter, viel zu tun heute Morgen!“
„Klasse, vielen Dank“ rufe ich ihr hinterher, während sie schon wieder durch die Tür entschwindet.
~
In den nächsten Tage pendele ich fast nur zwischen der Wohnung von Syriac und Jean-Philippe und der Place Pigalle. Syriac arbeitet tagsüber, so dass wir schon am ersten Abend gemeinsam mit Jean-Philippe eine Art Aufgabenteilung vereinbaren. Morgens, nach dem Frühstück, fahre ich in die Klinik, um zusammen mit Jean-Philippe den Tag zu verbringen. Abends, nach seiner Arbeit, kommt dann Syriac, bleibt in der Klinik bis Jean-Philippe einschläft. Am nächsten Morgen übernehme ich wieder.
So vergehen die Tage. Jean-Philippe bekommt erstaunlich wenig Besuch. Seine Mutter, sein kleiner Bruder. Einige wenige Freunde, die ich teils bereits kenne. Sein Vater nicht, ‚um Himmels Willen‘ bekomme ich zur Antwort, als ich danach frage.
Die meiste Zeit verbringt Jean-Philippe im Bett; er hat nur wenige Untersuchungen oder Arzt-Visiten. Vertreibt sich die Zeit, hofft auf Besserung, darauf dass die Medikamente zu wirken beginnen.
Wir unterhalten uns viel in diesen Tagen, über sein Leben, seine Arbeit, wie er Syriac kennen gelernt hat. Über mein Leben, Frank, meinen Job. Über mein Engagement bei ACT UP Köln, das er nicht verstehen kann, ablehnt. Zu aggressiv, findet er. Militantes Auftreten, das versucht er mir in teils heftigen Diskussionen klar zu machen, das bringe doch gar nichts, lohne sich nicht, das sei der falsche Weg die Dinge zu ändern. Klar, auch in Frankreich werde bei weitem nicht genug für Infizierte und Kranke unternommen. Mit Gesprächen, Petitionen, Diskussionen, damit könne man doch viel mehr erreichen. Aber ACT UP? Das sei doch viel zu radikal. Wir würden doch gerade die verprellen, deren Hilfe wir bei der Lösung der Probleme benötigten.
Die Abende verbringe ich meist zuhause. Zuhause, dazu ist die Wohnung von Syriac und Jean-Philippe geworden, wenn auch nur zeitweise, behelfsmäßig, und ohne das Gefühl des Zuhauseseins.
Rosalie, Jean-Philippe und Syriacs Katze, streift um meine Beine, schnurrt zufrieden, während ich sie vorsichtig kurz kraule. Hatte Rosalie mich in den ersten Tagen noch misstrauisch beäugt, Abstand gehalten, so hat sie inzwischen längst vorsichtig, jeden Tag ein wenig mehr, Vertrauen zu mir gefasst. Liegt nun abends oft zu meinen Füßen, wenn ich im Sessel sitze, irgendein französischer Fernsehkanal läuft, oder ich am Minitel mit wildfremden Männern chatte. Jean-Philippe, der einige Tage später aus der Klinik entlassen wird, grinst, als er hört wie ich die Katze ‚Toxe‘ rufe.
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Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?