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Erinnerungen Paris

Einige Tage mit dir – 3. Fühlt euch wie zuhause

„Habt ihr nicht Lust zu Weihnachten nach Paris zu kommen?“
Jean-Philippe wirkt am Telefon aufgeweckt und voller Energie.
Oh, wie sehr ich Lust hätte! Endlich Jean-Philippe wieder sehen. Aber – schlechtes Ge­wissen plagt mich. Bildet mit Sehnsucht eine eigenartige Melange.
Jean-Philippe lag in der Klinik, erst vor kurzem, Lungenentzündung. Und ich hab mich nicht getraut, ich feiger Hund. Ich hatte Tage gebraucht, bis ich auch nur halbwegs kapierte, welche Ängste mich da plagten, mir nicht nur dem Magen umdrehten – und als ich’s halbwegs gerafft hatte, nicht nur wusste, du kannst deinen Freund Jean-Philippe nicht im Stich lassen, sondern auch wusste, ja, du kannst das, du hältst das aus – da war er schon wieder entlassen.

„Geht leider nicht, wir sind schon bei Franks Eltern in Hamburg eingeladen. Die wä­ren bestimmt sauer, wenn wir da so kurzfristig absagen.“
Zu gerne würde ich ja nach Paris fahren ….
„Ja, und warum kommt ihr dann nicht hinterher, zum Beispiel zu Silvester? Dann könnten wir doch schön gemein­sam ins neue Jahr feiern!“
Ja – warum eigentlich nicht?

~

30. Dezember. Morgen ist Silvester, und Jean-Philuippe und Syriac haben immer noch nicht verlauten lassen, wie sie sich die Silvesternacht vorstellen.
„Habt ihr Lust, morgen abends zusammen essen zu gehen?“, frage ich Jean-Philippe schließlich nachmittags, „oder seid ihr schon verplant?“
Wir sitzen im Wohnzimmer, Frank mit einem Milchkaffee, ich einem Pfeffer­minztee, Jean-Philippe kramt gerade in seiner CD-Sammlung.
Langsam sind wir doch etwas irritiert, was wird das wohl für eine Silvester-Nacht ge­ben? Natürlich würden Frank und ich auch alleine losziehen, ver­mutlich sind die beiden ja eh zu irgend einer Party eingeladen. Aber nett wäre es ja doch, etwas zusammen zu unternehmen. Vielleicht ir­gendwo lecker essen gehen, da­nach in die Szene. Zum Beispiel eine Nacht im ‚Broad‘, das zu unserer Lieblings-Dis­kothek geworden ist, und in die die beiden auch gerne ge­hen. Nett tanzen, schöne Jungs sehen, und vielleicht das ein oder andere Ver­gnügen im Kellergeschoss.

Jean-Philippe lugt hinter seinem CD-Regal hervor. Sieht mich erstaunt an. „Nein, wir sind bei meiner Mutter morgen Abend, die feiert mit ihrer Freundin und einigen Ver­wandten. Ihr kommt doch mit, oder?“
Das ‚oder‘ klingt nicht wie eine Frage, eher so als sei dies doch selbstver­ständlich.
Ich sehe Frank fragend an. Ein abwartend-ratloser Blick von ihm, ein leichtes Schul­terzucken.
„Aber – wir kennen doch da niemanden“, wende ich ein.
Eine private Party ‚en famille‘, auf der wir niemanden kennen, uns doch nur als Ein­dringlinge fühlen würden? Eine seltsame Vorstellung. Sicher keine heiße Nacht, hört sich eher nach anstrengender Familienfeier an.
Wir überlegen ein wenig hin und her. Unausge­sprochene Gedanken und Bedenken. Lädt er uns nur aus Höflichkeit ein? Drin­gen wir da nicht in eine fa­miliäre Privatheit ein, in die wir nicht hinein gehören? Wollen wir überhaupt solch eine Situation, füh­len wir uns dort nicht unsicher, unwohl? Und – wollten wir nicht eigentlich ausgehen, zusammen Spaß haben?

„Ach komm, was soll denn das. Wir sind doch alle eine Familie. Wirst sehen, meine Mutter ist total nett!“
Das mag schon sein, heißt aber noch nicht, das es für uns ein schöner, ungezwunge­ner Abend wird.
Doch Jean-Philippe, inzwischen bei uns auf dem Sofa, lässt nicht locker. Nimmt mich in den Arm. Drückt mich an sich.
„Na komm. Mir zuliebe!“ Er schaut mir in die Augen. „Und überhaupt, wer weiß wann wir wieder zusammen feiern können!“
Ein entwaffnender Satz, irgendwo zwischen schalkhafter Clownerie und unterdrück­ter Sorge.
Eine trockene Bemerkung, die mich wehrlos macht. Ich schlucke. Muss irgendwie dieses plötzliche Gefühl von Bestürzung hinunter würgen. Ja, wie viel Zeit haben wir noch mit einander? Wie viel Zeit lässt uns dieses scheiß Virus? Wie viel Zeit zum Feiern, Zeit zum Leben, Zeit für Miteinander? Hat er doch solche Angst? Weiß er mehr als er mir er­zählt hat?

Jean-Philippe scheint meine Gedanken lesen zu können. Küsst mich auf die Wange, blickt mich an. Diese Augen, dieser Blick.
„Na also. Keine Widerrede, ihr kommt mit“, beschließt er. „Ich hab meiner Mut­ter eh schon Bescheid gesagt, für eine Absage wäre’s schon zu spät.“
Er grinst jungenhaft, offensichtlich aus seinem Spaß an der ge­lungenen Überraschung. Wie sexy ihn dieses Unschulds-Grinsen macht!
„Na okay, wenn wir eh nicht absagen können … Gut, dann kommen wir mit.“ Ich ka­pituliere nach einem Blick zu Frank, „Danke für die Einla­dung!“, küsse ihn auf die Wange. „Aber du musst mir sagen, wie wir uns am Fest beteiligen können, ja?“
Er nickt, nimmt nun uns beide beim Arm, freut sich sichtlich.
„Cheri, Frank und Ulli haben zugesagt, sie kommen mit zu meiner Mutter!“, ist das erste was Jean-Philippe abends ruft, als Syriac zur Tür herein kommt.

~

31. Dezember, Silvester. Später Nachmittag. Die meisten bereiten sich jetzt auf den Abend vor, eine Feier mit Freunden, den Besuch einer Party oder einer Disco. Und wir? Seit ungefähr einer Stunde fahren wir, dicht gedrängt in Jean-Philippes kleinem Renault, durch zunehmend grauer werdende Pariser Vorstädte. Nicht ohne die vorheri­ge übliche Kabbelei. „Ah, c’est un bordell, ta voiture“, stöhnte Syriac wieder einmal und nicht grundlos, als wir zum Wagen gingen.

Die grauen Vorstadtkulissen werden zaghaft, so langsam dass es fast schamhaft wirkt, ein wenig bunter. Hochhäuser weichen nach und nach Eigenheimen und Reihenhaus-Siedlungen. Alles hat immer noch diese bizarre Mischung aus fran­zösischem Charme und lieblos in die Landschaft gebauten Klötzchen, erinnert an diese typische Spießer-Idylle deutscher Siedlungen am Rande der Großstadt.

In einer Seitenstraße, niedrige Häuser und adrette Vorgärten entsprechen ganz der Vorstellung vom Idyll, parkt Sy­riac den Wagen. Wir sind da. Ein wenig beklommen steigen Frank und ich aus, halten uns hinter Syriac und Jean-Philippe. Unsicher, was uns erwartet.

„Salut, ich bin Annie, Jean-Philippes Mutter. Ihr seid also Frank und Ulli?“
Wir kommen kaum dazu zu antworten, schon hält sie uns ihre Wange entgegen für die obligatorischen Bussis.
„Kommt herein, fühlt euch wie zuhause.“
Das Haus ist schon gut gefüllt, die beste Freundin, die Schwester mit Mann und Kin­dern, jeder will mit Hallo und Küsschen begrüßt werden, möchte den von fern ange­reisten deutschen Besuch bestaunen.
Bevor Verlegenheit aufkommt angesichts noch fehlender Gesprächsthemen, zieht Jean-Philippe uns schon mit in die Küche. Ah, welch ein Duft. Riesige Töpfe auf dem Herd, irgend etwas schmurgelt im Ofen, auf dem Tisch stapeln sich Gemüse. Sei­ne Mutter und ihr Freund stehen am Herd.
„Ah, Topfgucker?“ Sie lacht uns an.
Wir bedanken uns nochmals für die Einladung, stellen die mitgebrachten Getränke ab.
„Ihr mögt doch Austern, hab ich gehört?“
„Ach ja, schon, durchaus“ grinst Frank.
„Na klasse, dann bin ich beruhigt.“ Frank strahlt, Annie lächelt verschmitzt, beinahe ein wenig verschwörerisch – ganz so wie Jean-Philippe mich manchmal so unwider­stehlich anschaut, denke ich.
„Hmmm, das riecht unglaublich lecker!“ Frank schaut durch das Ofenfenster. „Was gibt es?“
„Wird nicht verraten – und: Finger weg!“, erwidert Annies Freund streng dreinschau­end. Frank stutzt, Annies Freund lacht jedoch sofort, „kleiner Spaß.“ Er führt Frank von Topf zu Topf, alle Deckel werden kurz gelüftet, ein kleiner illustrierter Spazier­gang durch das für den Abend geplante Menu veranstaltet.

„Du bist also Ulli. Jean-Philippe hat mir schon viel von dir erzählt!“ Annie sieht mich aufmunternd an. Ich frage mich, was er wohl so alles erzählt, was hoffentlich ver­schwiegen haben mag.
Einige Höflichkeitsfloskeln werden gewechselt, die Jean-Philippe bald unter­bricht. „Ulli ist auch seropos“. Kurz und bündig, direkt. Seropos, die Verniedlichung des schön klingenden und doch so vernichtenden Wörtchens seropositiv. Es wirkt als hätte Frank gerade auf die Austern gekotzt. Kaltes Schweigen steht für Sekunden im Raum.
Erschreckt sehe ich auf. Überrascht. Nicht nur ob Jean-Philippes völlig unfranzösi­scher und unge­wöhnlicher Direktheit. Werde ich rot? Verlegen sehe ich erst Jean-Philippe an, dann Annie. Wie reagiert sie?

Annie blickt mich an, mustert mich, eindringlich, ohne ein Wort. Ist es eher traurig oder mitleidig, wie sie mich ansieht? Ist sie brüskiert, irritiert von der plötzli­chen Mitteilung in mitten des Smalltalks?
Sie erwidert Jean-Philippes Direktheit mit keinem Wort. Stattdessen höre ich sie nach einer kurzen, mir ewig scheinenden Pause sagen „Bis zum Essen dau­ert’s noch ein wenig. Phi-Phi, zeigst du deinem Besuch derweil das Haus?“

Phi-Phi also, ich grinse. Auch erleichtert darüber, dass nun keine Lektion in „warum du denn“, „wie konntest du nur“ und „warum hast du denn“ folgt. Schwalle interes­sierter und doch wenig verdeckt vorwurfsvoller Fragen, wie ich sie schon zu oft ge­hört habe.
PhiPhi, bestimmt sein Kindername. PhiPhi, wie melodisch das klingt aus ihrem Mund. Wie mag er wohl ausgesehen haben, mein Jean-Philippe, als Knirps, als klei­ner Junge, als Teenager? Ich muss ihn gelegentlich mal nach Photos aus seiner Ju­gend fragen.

Nach dem Aperitiv. Kleine Grüppchen haben sich gebildet, stehen beieinander, unter­halten sich angeregt. Frank und ich stehen etwas abseits zusammen, schauen in den Garten. Ein Blick, ja, wir fühlen uns beide unwohl. Seltsam, so in eine fremde Fami­lien-Feier zu platzen. Trotz der Einladung fühlen wir uns fremd, haben das Gefühl zu stören in dieser vertrauten Runde. Jean-Philippe ist längst ins Gespräch vertieft mit sei­ner Mutter und deren bester Freundin. Wir spielen ein wenig mit seinem klei­nen Bruder, der aufgeregt durch den Raum tobt, für ihn sind wir als Fremde die Attraktion des Abends.

Kurz nach neun. Annie lugt aus der Küche hervor, klatscht in die Hände. „Zu Tisch alle, wir können essen.“
Jean-Philippe kommt schon auf uns zu, „setzt ihr euch hier?“. Er weist auf zwei Stüh­le, zwar etwas abseits von Syriac und ihm, aber immerhin sitzen Frank und ich neben einander.
Annie und ihr Freund tragen die Vorspeise herein, eine große Platte – Berge von Aus­tern. Sie grinst Frank und mich an, „ich hab gehört, unser Besuch aus Deutschland ist so gerne Austern?“
Frank schaut erst ein wenig schüchtern, ein Blick Richtung Jean-Philippe, der un­schuldig in eine andere Richtung blickt. „Ja, schon. Sehr gerne!“
„Na, dann langt alle kräftig zu! Guten Appetit!“

Einige Stunden später. Berge leerer Austernschalen türmen sich auf dem klei­nen Tisch nebenan zwischen leeren Weiß- und Rotwein-Flaschen, auch der köstliche Bur­gunderbraten, der zuvor stundenlang im Ofen geschmort hat, ist längst verzehrt. Schüchternheit und Fremdeln sind gewichen, längst duzen wir uns mit allen am Tisch, mit Annies bester Freundin, ihrem Freund, einer Nachbarin, und natür­lich mit Annie selbst.
Frank stößt mich sachte unter dem Tisch an. „Du, ist schon zwölf durch“ höre ich ihn leise flüs­tern. Ich blicke unauffällig auf meine Uhr. Stimmt, zehn nach zwölf. Und nun? In Deutschland würden wir uns jetzt alle in den Armen liegen, ein Glas Sekt in der Hand, ein frohes neues Jahr wünschen, während ringsum langsam die Geräusch­kulisse der Feuerwerke immer infernalischer würde. Aber hier? Munteres Plaudern bei Tisch, niemand schaut auf die Uhr, nichts tut sich.
Ich zucke mit den Schultern, „ach, lass uns einfach abwarten“. Gebe ihm einen schnellen Kuss, „frohes Neues Jahr, mein Schatz!“. Niemand in der Runde be­merkt unseren stillen Neujahrsgruß.

Die Zeit vergeht. „Ach nicht, Mama!“, versucht Jean-Philippe seine Mutter gerade dar­an zu hindern, eine weitere amüsante Geschichte aus seiner Kindheit zu erzäh­len. „Na, lass mich doch,“ frotzelt sie zurück, „Ulli und Frank kennen die doch sicher noch nicht.“
Ihr Freund eilt Jean-Philippe zu Hilfe. „Na,“ er schaut auf die Uhr, „ich glaube wir stoßen mal an, was meint ihr?“ Er holt einige Flaschen Champagner aus der Küche.
Wenig später, Bussis hier, Bussis da mit Menschen, die uns noch wenige Stun­den zu­vor völlig fremd waren, „frohes neues Jahr!“.
„Na endlich doch noch“, grinst Frank, „um kurz vor eins“. Wir küssen uns, nun noch einmal ‚offiziell‘, „alles Gute für das neue Jahr, mein geliebter Schatz“. Jean-Philippe kommt auf mich zu, ich umarme ihn herzlich, küsse auch ihn. „Alles Gute für 1990, mein Lieber!“ „Dir auch, und – pass gut auf dich auf“. „Na, du auch auf dich“, erwi­dere ich grinsend. Er zwinkert vertraut, als wolle er sagen ‚wir passen schon beide auf einander auf, nicht wahr?‘

Annie, ganz gute Gastgeberin, klatscht in die Hände, „kommt, wir rücken die Tische beiseite. Jean-Philippe, machst du ein wenig lustigere Musik?“ Tische und Stühle wandern in eine Hälfte des Zimmers, so dass in der anderen rasch eine kleine Tanz­fläche entsteht. Jean-Philippe, seinen kleinen Bruder auf dem Schoß, sitzt in der Ecke, macht Musik, kramt in seinen CDs. Die Nacht wird lang …

„Na, das ist doch ein ganz amüsantes Silvester geworden, nicht wahr?“
Frank und ich sind der ausgelassenen Stimmung auf die Terrasse entflohen, ein wenig Ruhe, Luft schöpfen nach all der Tanzerei.
„Ja, hättest du aber anfangs auch nicht erwartet, oder?“
„Stimmt, mir war ganz schön unwohl zu Anfang. Ist aber doch ziemlich nett gewor­den, oder?“
Frank nickt nur, nimmt mich in den Arm.
„Ist das denn für dich auch okay hier? Ich meine auch so mit Jean-Philippe?“, frage ich ihn, während wir in den Sternenhimmel blicken.
Wieder nickt er nur. Gibt mir einen Kuss. „Ach, wir sind schon so ein Paar, mein Schatz! Ich liebe dich über alles!“

Kurz vor drei, die Stimmung ist ein wenig ruhiger geworden, in einer seltsamen Mi­schung von aufgekratzt, angeheitert und müde vom langen Abend sitzen alle in klei­nen Grüppchen im Wohnzimmer verteilt.
„Na, ihr Hübschen, geht’s euch gut?“ Jean-Philippe setzt sich zwischen uns, legt sei­ne Arme um Frank und mich.
„Ja, klasse Abend, ist echt schön bei euch!“
Er strahlt. „Sollen wir so langsam mal aufbrechen?“
Ich sehe Frank an, der nickt. „Ja gerne. Aber wie …“
Jean-Philippe ahnt schon meine Frage, „Syriac hat kaum was ge­trunken, er kann noch fahren.“
Nun ja, dieses ‚kaum was getrunken‘ ist recht relativ, aber was soll’s, wir sind ja in Frankreich, es ist gerade 1990, wir hatten einen schö­nen Abend, sind glücklich.
Müde fallen wir kurz nach vier Uhr morgens am 1. Januar 1990 ins Bett.

~

Wenige Tage später. Zurück in Köln. Zurück im Büro.
Was für eine kuriose Situation. Beinahe je­der der Kolleginnen und Kollegen erzählt von der geilen Sil­vester-Nacht in Berlin, an und auf der Mauer, die ganze Stadt eine riesige Party. Geschichten von Geschichte, Jahrhundertereig­nis, ‚das hättest du erleben müssen‘ und ‚da muss man einfach mit dabei gewesen sein‘.
Und ich? Verbringe zusammen mit meinem Freund den Jahres­wechsel bei einem Lover in Paris. Habe außer Verliebtheit, netter Vorstadt-Fa­milie und leckerem Essen kaum Erwähnenswertes zu berichten. Privates Glück statt Weltgeschichte. Nur kurz nehmen sie mehr oder minder offen desinteressiert meinen Paris-Bericht zur Kennt­nis, kehren bald zu ihren bewegenden Berliner Geschichten zurück, dem zentrale Gesprächsstoff der nächsten Tage.
Grotesk erscheint mir die Situation. Grotesk ihre alles andere ignorierende, vor Be­geisterung überbordende „Berlin Berlin“-Euphorie. Grotesk bis peinlich die immer wieder kolportierten Geschichten vom „Ossi im Glück“ oder „Wessi auf der Mauer“. Grotesk wohl aber auch mein Rückzug ins private Glück, in die Pariser Vorstadt-Idylle, während ringsum Geschichte geschrieben, gefeiert wird. Und dennoch, grotesk wie es scheinen mag, bin ich mir in diesen Tagen sicher, das beste Silvester erlebt zu haben. Dieses tie­fe Gefühl, ‚einen so schönen Jahreswechsel wie ich könnt ihr da gar nicht erlebt haben‘.

~

Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?

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Erinnerungen Paris

Einige Tage mit dir – 2. Sternenhimmel

„Seid ihr Ende September zuhause?“ Jean-Philippe ist am Telefon. „Da hab ich einige Tage Urlaub, und wenn du magst, könnte ich nach Köln kommen.“ Schon mehrfach habe ich ihm vor­geschlagen, uns gemeinsam mit Sy­riac in Köln zu besuchen. Seit unse­rem Kennenler­nen in Paris im Frühsommer haben wir oft mit einander telefo­niert, Briefe geschrie­ben. Immer wieder über­legt, wann wir uns wiedersehen könn­ten. Über seine unver­mittelte Ankündi­gung freue ich mich riesig.

Drei Wochen, zwei Briefe und einige Telefonate später steht Jean-Philippe ei­nes Nachmittags Ende September mit seinem Wagen vor dem Haus. Allein, denn Sy­riac muss noch arbeiten, kommt in zwei Tagen nach.

Abends zeigen Frank und ich ihm Köln, die Altstadt, den Dom, den Rhein. Viele Mo­tive, schöne Blicke, alles wird wieder mit seiner Videokamera festgehalten. Den morgigen Tag habe ich frei ge­nommen, angesichts des guten Wetters beschließen Jean-Phil­ippe und ich, für einen Tag nach Amsterdam zu fahren. Frank ist ein­verstanden, er muss eh arbeiten.

Amsterdam bietet seiner unvermeidlichen Videokamera fast noch mehr an Motiven als Köln, Jean-Philippe ist über­glücklich. Immer wieder bleibt er stehen, „das muss ich eben kurz aufnehmen“. So schlendern langsam durch die Stadt, bummeln an Grach­ten entlang, trinken Kaffee, fahren Tretboot. Das Homomonument begeistert ihn besonders, nein, sowas gebe es in Frankreich nicht, unvorstellbar. Bei uns in Deutschland auch nicht, kann ich nur trocken ergänzen, da sind die Nieder­lande eben weiter.

Irgendwann schauen wir erstaunt auf die Uhr, verdammt, es ist schon spät geworden. Das Hotel da drüben an der Gracht, da könnten wir doch mal fragen ob die was frei ha­ben. Nein, sorry, alles sei ausgebucht, erfahren wir. Zwei andere Hotels in der glei­chen Straße haben zwar Zimmer, allerdings bei weitem nicht in unserer Preisklasse. Auf diese Weise geht das Hotelzimmer-Suchen einige Zeit weiter, entwe­der kein Zimmer frei, oder zu teuer.

Schließlich suchen wir leicht entnervt Jean-Philippes Wagen, fahren aus der Stadt heraus. Vielleicht finden wir ein wenig außerhalb des Zentrums etwas Be­zahlbares? Nein, hier in diesen Vorstädten ist es zu hässlich, zwar sehen wir Hotels, die aber mehr an Übernach­tungsfabriken erinnern, fern unserer romanti­schen Vorstellungen. Weiter am Stadtrand zu suchen bringt offensichtlich auch nichts. Wir ent­schließen uns, die wenigen Kilome­ter an die Küste zu fahren, vielleicht findet sich ja noch ein nettes Strandhotel.

Eine knappe Stunde später stehen wir an der Rezeption eines kleinen Hotels, direkt an der Strandstraße. Ja, ein Zimmer sei noch frei, wir seufzen vor Glück. Und bezahl­bar ist es auch, unsere Suche hat ein Ende.

„Puh, bin ich verschwitzt. Ich muss als erstes unter die Dusche!“ Jean-Philippe, noch ein wenig entnervt von der langen Sucherei, schmeißt seine Tasche auf eines der Bet­ten. „Na – soll ich mitkommen?“ Zu verlockend der Gedanke, jetzt mit ihm unter der Du­sche zu stehen. Er grinst, winkt dann aber ab, „nee, lass mich eben kurz abduschen, dann kön­nen wir noch schnell versuchen, im Ort was zu essen zu bekommen.“ Er hat ja recht, es ist schon ziemlich spät geworden, und wir haben im­mer noch nicht zu Abend gegessen. „Okay, dann pack ich in der Zwischenzeit schon mal aus.“

Der pralle Luxus ist unser Zimmer nicht gerade, eher ein wenig zu klein, aber immer­hin mit Dusche und einem Fenster mit Blick auf die Nordsee. Die rechte Betthälfte ist meine, beschließe ich, schon aus reiner Gewohnheit, und werfe meinen Rucksack drauf. Seinen, der immer noch nahe dem Eingang steht, wer­fe ich auf die andere Bett­hälfte. Die obere Klappe öffnet sich, Mist, ich hat­te vergessen, dass er ja schon sein Waschzeug aus dem Rucksack geholt hat. Ein T-Shirt, eine Unterhose und eine Jeans fallen heraus, kullern auf’s Bett.
Ich will sie gerade wieder hinein stopfen, da schreit mich aus seinem verwa­schen oliv­grünen Rucksack eine knallblaue Packung an. Ein stiller scharfer Schrei, den ich bis in die letzte Gehirnwindung zu spüren glaube. Dieses Blau, dieses eklige be­schissene Blau. Genau dieses Blau, das es nur ein­mal auf solch einer beschisse­nen Packung gibt.

Ich brauche keinen zweiten Blick in seinen Rucksack zu werfen. Es kann nur AZT sein, das blaue Gift, die Pillen gegen Aids. Für einen Augenblick dreht sich al­les um mich herum, das Zimmer, das Bett, der Ausblick auf die See, sein Ruck­sack, seine Jeans, sein T-Shirt, in meinem Kopf quirlt alles durcheinander, ein­zig diese verfickte blaue Schachtel scheint still zu stehen. Es rauscht und dröhnt in meinem Schädel. Oder ist das nur die Dusche, unter der er nebenan den Schweiß des Spätsommertages abspült?

‚Du also auch‘, ist der erste bewusste Gedanke, den ich in mir wahrnehme, ‚du also auch positiv‘. Das ‚auch‘ unhörbar betont, sofort, spontan. Irgendwie mischen sich Er­schrecken, Entsetzen angesichts der blauen Schachtel, des ‚warum du?‘ und ‚warum immer wieder Aids?‘ mit einem Gefühl stiller Verbun­denheit, eines ‚wir also beide‘.

Tief Luft holen. Was nun? Er muss ja gleich schon wieder aus der Dusche kom­men! Spontan lege ich Unterhose, T-Shirt und Jeans wie­der in den Rucksack, dazu die giftig blaue Packung. Lasse den Rucksack auf dem Bett liegen. Räume mei­ne Tasche aus, nur das Nötigste für morgen früh. Die Dusche geht aus, kurze Zeit später kommt Jean-Philippe schon splitternackt aus dem Bad. Sein Lächeln, wie er mich ansieht, ich könnte schmelzen. Verliebtheit und Traurigkeit gehen eine bittersüße Mischung ein.

„Ach, hat das gut getan, endlich fühl‘ ich mich wieder frisch!“ Er reckt sich, kommt auf mich zu. „Ui, und wir haben ja sogar Strandblick!“
Sein Lachen, sein Gesicht, er so nackt vor mir – all meine Befangenheit ist so­fort verschwunden. Ich umarme ihn, spüre seinen noch nassen Arm um mich, sein Gesicht, seine Lippen, seine Zunge, seine feuchte Haut. Bin geil auf ihn, ziehe ihn zum Bett hin. Wir knutschen wild, kullern zwi­schen den Rucksäcken auf dem Bett herum. Sein Gesicht über mir, seine großen Augen lachen mich strahlend an. „Hey, ist das schön, hier zu sein, mit dir!“, er küsst mich auf die Nasenspitze. Ich sehe wie sei­ne Haare sich auf seinem Arm hochstellen, er be­kommt gerade eine Gänsehaut. „Geil? Oder ist dir kalt? Bist ja noch ganz nass!“ Ich rub­bele seinen Rücken. „Ja, ein wenig.“ Er schüttelt heftig den Kopf, wirbelt mir kleine Wassertropfen ins Gesicht, lacht. „Ich trockne mich erst mal eben ab, ich meine richtig.“ Er grinst. Steht auf, greift nach dem Handtuch, neben der Badezimmertür liegen geblieben ist.

Es ist ja spät geworden. Wir schlendern wir durch das abendliche Dorf. Die Straßen sind erstaun­lich leer, nur an wenigen Kneipen und Restaurants ist Licht. Bei einem Chine­sen essen wir, halbwegs gut, immerhin mit Meerblick.
Irgendwann während der klebrigen in Honig gebackenen Banane erzähle ich ihm recht unvermittelt, einem plötzlichen Impuls folgend, von meinen Positivsein. Von dem unge­wollten, ungefragten Test, dass nicht viele davon wissen, von mei­nem zwar strapazierten aber bisher noch leidlich funktionieren­den Immunsys­tem. Er schaut mich mit großen Augen an, sagt zunächst gar nichts. Irritiert stochere ich an meiner Banane herum, ‚war ich jetzt doch zu di­rekt?‘, ich bin verunsichert.

„Gehen wir noch ein wenig am Wasser spazieren?“ fragt er schließlich unver­mittelt.
Ich nicke, fühle mich aber ziemlich unsicher. Immer noch so gar keine Reaktion von ihm.
Als könnte er Gedanke lesen, nimmt er meine Hand, streichelt sie. „Können wir bitte zahlen?“ Der vorbei eilende Ober nickt.

Es ist inzwischen völlig dunkel geworden, leichter Dunst ist aufgezogen. Im gelbli­che Licht der Straßenlaternen spazieren wir Arm in Arm zum Wasser hinunter.

„Ich fand das unheimlich klasse, dass du von deinem Serostatus erzählt hast. Ich hätt mich das nicht getraut.“ Ganz entgegen seiner sonstigen eher zurückhaltenden Art kommt Jean-Philippe direkt zum Thema.
Ich schäme mich. ‚Ich ja auch nicht, wenn nicht …‘ schreit es in mir, und doch halte ich den Mund.
„Ich bin auch se­ropositiv, ich weiß es seit drei Jahren. Seit einem Monat nehm‘ ich AZT.“ Ich will etwas erwidern, nach dem AZT fragen, spüre aber sei­nen Finger auf meinem Mund. „Sag nichts.“
Spüre seinen Mund, seine Lippen.
Küssend stehen wir am Wasser. Das Meer rauscht. Würde es jetzt Stern­schnuppen regnen – es würde mich auch nicht wundern. Ich bin glücklich, ver­liebt, und dann auch noch in einen Positiven. Und der auch in mich! Ich könnte es laut in die Welt hinaus schreien.
Still stehen wir lange da, genie­ßen die Ruhe, uns, unser Glück, unsere Verbundenheit.

Wir setzen uns in den vom Tag noch warmen Sand, dicht aneinander ge­schmiegt.
„Schön, dass wir hier sind.“ Jean-Philippe legt seinen Kopf auf meine Schulter. „Schön, dass es dich gibt. Ich fühl‘ mich so frei, so glücklich wie schon lange nicht mehr.“ Er seufzt, drückt sich fester an mich.
„Und ich erst. Ich bin so froh, dich gefunden zu haben.“
Minutenlang sitzen wir wortlos nebeneinander. Sterne, der warme Sand, die Ruhe, das leichte Plätschern des Meeres. Die Welt gehört uns in diesem Mo­ment.

Irgendwann nachts. Ich spüre seinen warmen Körper neben mir im Bett, wie er sich dicht an mich kuschelt. Seinen Brustkorb wie er sich hebt und senkt, den leichten Luftzug seines Atems auf meinem Arm. Er scheint tief und fest zu schlafen. Ich selbst bin viel zu aufgeregt um schlafen zu können, zu glücklich. Aus der kleinen spontanen Sauna-Affäre in Paris ist so viel mehr, so viel größeres geworden. Und die­ses scheiß Virus, das immer nur trennt, aus­grenzt, Gräben aufreißt, dieses dämliche Virus ist zu etwas sehr Verbindendem zwischen uns geworden. Welcher Hohn, wel­ches Glück.

Nach einem späten und für niederländische Verhältnisse ausgiebigen Frühstück ma­chen wir uns am nächsten Vormittag auf den Rückweg nach Köln. Ähnlich ruhig wie die Landschaften, die wir durchqueren, ist unsere Stimmung – ein stilles, in sich ge­kehrte ruhiges Glück. Einige Stopps an schönen Ausblicken, immer wieder seine Vi­deokamera dabei.
Lächelnd, wenig sprechend sitzen wir im Wagen nebeneinander. Wohl beide mit dem Ge­fühl, etwas lange Gesuchtes und doch irgendwie altbekannt Vertrautes endlich ge­funden zu haben.

Am nächsten Morgen, Kölner Hauptbahnhof. Völlig übermüdet steigt Syriac aus dem Nachtzug. Wie wird die Situation nun? Ein wenig unsicher angesichts un­serer neuen Ver­trautheit ganz eigener Art beobachte ich Jean-Philippe und Syriacs Wiedersehen. War unsere Intensität dieses Abends an der See doch nur eine ‚affaire d’une nuit‘? Oder ist da wirklich mehr? Ge­hen die Pferde meiner Sehnsüchte mit mir durch, mache ich mir Illu­sionen, oder ist alles wahr? Jean-Philippe und Ulli, kann daraus überhaupt et­was ent­stehen, angesichts unserer beider Beziehungen, ange­sichts der annä­hernd 500 Kilo­meter, die Paris und Köln trennen?

All meine sorgenvollen Gedanken erweisen sich wieder einmal als völlig voreilig. Nach einigen Stunden Nickern kommen Jean-Philippe und Syriac aus unserem Gäste­zimmer, Arm in Arm, guter Laune. Einen Kaffee, einige Plaudereien später schlen­dern wir schon zusammen durch die Kölner Altstadt, wie zwei seit vielen Jahren be­freundete Pärchen. Glücklich und entspannt verbringen wir zu viert sehr amüsante, stress­freie Tage mit­einander. Syriac scheint längst Bescheid zu wissen über Jean-Philippe und mich, zu­mindest geht Jean-Philippe inzwischen auch in seiner Ge­genwart sehr locker und zu­traulich mit mir um.

In den folgenden Wochen telefonieren wir häufig. Erinnern uns an den schönen Tag letz­tens an der Nordsee, die Sommertage damals in Paris. Erzählen uns nach und nach gegenseitig von unserem Alltag HIV in Paris und Köln, vom Leben mit HIV, von Ärger und Problemen mit Ärzten und Arbeit, Freunden, von denen nur wenige, in der Re­gel selbst ‚be­troffen‘, wissen, dass wir positiv sind. Viele seiner Erfahrungen kom­men mir nur zu bekannt vor. In vielem begeg­nen wir uns, tauschen uns aus, ergänzen uns – in manchen sind wir auch unter­schiedlich, ohne uns jedoch fremd zu sein. Immer ist da eine Vertrautheit, unerklärlich, keiner Erklärung bedürfend.

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Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
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4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
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Einige Tage mit dir – 1. Conti & co.

Paris. Frühsommer 1989. Continental Opera. Halbdunkle Gänge in der Stadt der Liebe. Wir sind auf dem Rückweg von einem Urlaub an Frankreichs schwulen Strän­den. Frank und ich sind uns einig, erst auf den letzten Drücker zurück nach Köln zu fah­ren, auf der Rückreise lieber noch einige Tage in Paris zu verbrin­gen. Neben den Sehenswürdigkeiten besonders auch die Schwulenszene zu entdecken, zum wiederhol­ten Mal. Die Bars und Cafés, aufregende Discos, die Saunen. Besonders die ‚Conti­nental Opera‘, damals die wohl größte schwule Sauna die wir kennen. Nahe der ‚alten‘ Oper, noch weit vor deren späterem Um­zug an die Bastille.

Continental Opera - Türschild der längst nicht mehr existierenden legendären Pariser schwulen Sauna
Continental Opéra – Türschild der längst nicht mehr existierenden legendären Pariser schwulen Sauna (ehem. 32, rue Louis Legrand)

Eine Sauna, so groß dass Frank und ich uns beim Cruisen lange Zeit nicht be­gegnen. Ein Standard an Ausstattung, der die meisten deutschen Schwulen-Saunen damals alt aussehen lässt. Zudem ist die Sauna gut besucht, selbst tagsüber an einem Werktag viele junge, gut aussehende Gäste. Gäste, die wissen, aus welchem Grund sie in diese Sauna gegan­gen sind.

Einige Besuche in der Dampfsauna liegen hinter mir. Ich streife durch ein Laby­rinth ver­winkelter Gänge. Kabinen wie Karnickelställe über einander ge­stapelt lie­gen im Halbdunkel. Jungs und Männer streu­nen herum, schein­bar ziellos und doch offensichtlich ein klares Ziel vor Augen.

Viele Kabinen sind besetzt, die meisten mit offen stehender Tür. Ich beobachte die In­sassen, oftmals anmutig posierend an der Wand gelehnt, oder lasziv auf der mit einer Art Gummituch bezogenen Matratze ausgestreckt. Durch Bewe­gungen ihrer Augen signalisieren sie, ob an einem der vorbei schlen­dernden Männer Interesse besteht. Ganz wie in deutschen Großstädten scheint der Durchschnitts-Pariser einer Interes­senbekundung zunächst mit blasiertem Des­interesse zu begegnen. ‚Da kann ja jeder kommen‘, scheint der Blick zu sagen, oder abwei­sender ‚komm‘ mir ja nicht zu nahe!‘. Look, don’t touch.

Mir fällt ein junger Mann auf. Schlank, dunkle Haare, wir dürften ungefähr gleich alt sein. Ein wenig verschüchtert ob der bisherigen abweisend coolen Re­aktionen lächle ich ihn an. ‚Der sieht ja gut aus‘, geht mir durch den Kopf, ‚mit dem hätt’ste gerne was. Aber bestimmt ist der genauso zickig und arro­gant wie die anderen Bubis hier. Na, zumindest antesten, wer nicht wagt der nicht gewinnt.‘
Ich gehe mehrmals an seiner Kabine vorbei. Immerhin, gerade hat er gegrinst, mich angelächelt. Ich lehne mich schließlich an eine der Wände, so dass ich seine Kabine im Blick habe. Wir beobachten uns, schauen hin, schauen weg, nicht zu viel Interesse zeigen, oder doch? Schließlich,unsere Blicke begegnen sich. Er grinst wieder. Nein, eigentlich kein Grinsen, eher ein breites Lächeln, freundlich, aufmunternd. Ein Ni­cken seines Kopfes, als wolle er sagen ‚Na, komm doch rein‘. Er rückt beiseite, wie um zu signalisieren ‚Siehste, hier ist Platz für zwei‘. Ich klette­re zu ihm, schließe die Kabinentür.

So lerne ich Jean-Philippe kennen. Anschließend sitzen wir gemeinsam an der Bar, unterhalten uns. Über unseren Urlaub, das Leben in Paris und Köln, Bezie­hung. Tauschen schließlich unsere Adressen aus.

Irgend­wann stößt auch Frank zu uns, zu dritt sitzen wir eine Weile plaudernd bei ein­ander. „Warum kommt ihr eigentlich nicht zu uns, statt viel Geld für ein ödes Hotel zu zahlen?“, fragt Jean-Philippe überraschend. Wir schauen uns an. Lehnen zunächst ab, mehr aus Höflichkeit. Schließlich, wir kennen uns ja kaum. Obwohl, praktisch wär’s ja schon. Und eh nur für ein oder zwei Nächte, spä­testens für übermorgen ist eh die Rückfahrt nach Köln geplant. Fragend sehe ich Frank an, sein Blick signalisiert, wir denken ähnlich. Jean-Philippe beharrt unterdessen grin­send auf sei­nem Vorschlag, findet immer neue Argumente, dabei eine Hand auf mei­nem Knie. Wir willigen schließlich nur zu gerne ein. „Sag nur bitte meinem Freund nicht, dass wir uns in der Sauna kennen gelernt haben, ja? Der mag nicht, wenn ich so häufig hierher gehe.“ Ich sehe ihn et­was erstaunt an. „Wir haben uns einfach in einem Café kennen gelernt, okay?“ Klar, ich nicke. Er will auf­brechen, wir noch in der Sauna bleiben. Wir verabre­den abends miteinander zu telefonieren.

Rue de Vaugirard [1]. Fast mühelos haben wir die Straße nahe Odéon und dem Jardin du Luxembourg gefunden, ste­hen etwas unsicher vor der Wohnungstür. Jean-Philippe strahlt mich an, lacht. Ein braungebrannter junger Mann mit schwarzen Haaren und flammenden Augen lugt ihm von hinten über die Schul­ter. „Salut, ich bin Syriac, Jean-Phil­ippes Freund“, begrüßt er uns nach einem mus­ternden Blick herzlich, „kommt rein“. Ein wenig bange hatte ich diesem Au­genblick ent­gegen gesehen, schließlich – was wird sein Lover denken? Der kann doch auch eins und eins zusammenzählen. Aber ganz im Gegenteil, keine zicki­gen Eifer­süchteleien, Syriac erweist sich als der per­fekte Gastgeber – und als ein bild­schöner zudem. Aus dem französischen Baskenland stammend, markante Gesichtszü­ge, in denen über braunen Augen breite, beinahe schon buschige Augenbrauen thro­nen. ‚Was für ein attraktiver Mann‘, geht es mir durch den Kopf. Doch schon schaut mich Jean-Philippe wieder mit seinem ins Herz gehenden warmen Blick an …

Einen Kir in der Hand plaudern wir etwas, sehen uns um. Nicht ohne Erstaunen. Eine gemütliche Wohnung, nur – ein wenig klein. Wahrscheinlich keine 30 m². Wo sollen wir hier wohl schla­fen? Aber alles findet sich, die nächsten zwei Nächte verbringen Frank und ich auf einer großen Luftmatratze im Wohnzim­mer, ein wenig unbequem zum Lie­gen, aber umso herzli­cher bei Jean-Philippe und Syriac willkom­men.

Am nächsten Tag spaziere ich mit Jean-Philippe durch den nahen Jardin du Luxem­bourg. Ein ruhiger Nachmittag. Ein Eis in der Hand schlendern wir durch den ge­pflegten Park, setzen uns eine Zeit auf eine der Bänke. Unterhalten uns über ihn, mich, unsere Beziehungen, unsere Ar­beit. Entdecken einiges an Gemein­samkeiten, wechselseitigen Interessen. Selbst beruflich stellen wir Berührungs­punkte fest. Den ganzen Tag mit dabei: seine Video-Kamera, mit der er nicht nur beruflich unterwegs ist, sondern auch seinen Alltag filmisch doku­mentiert.

Bis zu unserer Abfahrt verbringen wir zwei Tage voller schöner Momente miteinan­der. Ich mag Jean-Philippe ziemlich gern, mer­ke ich bald. Auch Frank hat meine Ver­liebtheit früh bemerkt. Mit flauem Gefühl sitze ich neben ihm in einem Café, wir sprechen darüber, was geschieht, was geht und was nicht. Erleichterung. Welch ein Glück, einen solch wunderbaren Mann zu haben, der mir diese Freiheiten gibt!

Der Abschied von Paris, von Jean-Philippe ist ein wenig wehmütig, zu schön waren die gemeinsamen Tage. Schon bald, versprechen wir uns,sehen wir uns wieder.

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[1] Dass Michel Foucault, 1984 an Aids verstorbener französischer Philosoph , unweit seine Pariser Wohnung hatte, erfuhr ich erst später …
Hier ein Video, das einen Eindruck auch von Foucaults Wohnung in der Rue de Vaugirard gibt.

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Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?

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Erinnerungen HIV/Aids

Ulli im Interview, Juni 2011: 30 Jahre HIV – „Das Mittel hätte keinen Tag später kommen dürfen“ (Philip Eicker)

Ulli Würdemann (52) hat Aids in allen Facetten miterlebt: die ersten Meldungen in den 1980ern, HIV-Diagnose 1986, seither Engagement in der Aidshilfe. 1996 totgesagt von den Ärzten, rettet ihn einer der ersten Proteasehemmer. Derzeit renoviert er mit seinem Mann Frank das Häuschen seiner Schwiegermutter am Stadtrand von Hamburg. Dort wollen die beiden zusammen alt werden. Auf der Baustelle sprach er mit aidshilfe.de

Ulli, weißt du noch, wann du zum ersten Mal von Aids gehört hast?

Das war 1982 oder 1983, eine kleine Meldung in „Vermischtes“ der Süddeutschen Zeitung. Meine Reaktion war damals: Da sterben in Amerika ein paar Schwule an Krebs – was hat das mit mir zu tun? Irgendwann kam dann die Bezeichnung „Schwulenkrebs“ auf, HIV galt ja erst mal als reine Schwulenkrankheit. Seitdem war Sex für mich wieder mit Angst besetzt. Schon kurze Zeit später war es beinahe wie im Krieg: Fast jede Woche starben Freunde, Lover, Weggefährten. Ich dachte mir: Jetzt haben wir uns mit Müh und Not eine so große Freiheit erkämpft, auch eine große sexuelle Freiheit – und das nehmen sie uns nun alles weg!

Was genau drohte, verloren zu gehen?

In der Zeit vor Aids hatten wir ein „Ethos des Experimentierens“. Ich probierte damals wohl fast alles aus, wovon ich gehört und wozu ich Lust hatte. Schlimmeres als einen Tripper oder eine Syphilis gab es ja nicht. Wir erprobten die verschiedensten Lebensformen, zum Beispiel, was das Zusammenleben angeht. Dieses Ethos ist mit Aids den Bach runtergegangen. Heute gibt es relativ wenige Lebensstile, die unter uns Schwulen noch als gesellschaftlich konform gelten: irgendwo zwischen Safer Sex und Lebenspartnerschaft. Das empfinde ich als Rückschritt.

Wann hast du erfahren, dass du positiv bist?

Ich bin vor 25 Jahren gegen meinen Willen getestet worden. Mein Hausarzt meinte aus vermeintlicher Fürsorge, er müsse mal nachschauen, weil ich in diesem Jahr meine dritte Mandelentzündung hatte.

Wie bist du mit der Diagnose umgegangen?

Nach meinen ersten Erfahrungen mit Aidshilfe und Selbsthilfegruppen stellte ich es für mich beiseite. Ich wusste: Ich hab’s. Man konnte damals eh nichts machen. Ich ließ nur alle zwei Jahre meine Blutwerte checken, das war’s. Damals machte ich Karriere, kümmerte mich um mein Fortkommen. Das war eine Umgangsweise, die in mein Leben reingepasst hat. Für viele Positive ist das auch heute so: Verdrängung kann zu bestimmten Zeiten okay sein.

1995 und 1996 warst du dann wochenlang im Krankenhaus …

… wegen mehrerer Lungenentzündungen und einer Antibiotika-Allergie, die zu einem lebensbedrohlichen Lyell-Syndrom geführt hatte. Meine Haut warf große, entzündete Blasen und löste sich von meinen Beinen und Fußsohlen ab. Mein Immunsystem war völlig kaputt. Es war wirklich knapp bei mir. Es gab keine HIV-Medikamente mehr, die bei mir wirkten. Im Frühjahr 1996 sagte dann mein Arzt zu mir: Ich kann leider nichts mehr für dich tun. Ich spritz dich mit Cortison für zwei Wochen fit. Guck zu, dass du mit deinem Mann noch mal einen schönen Urlaub machst.

Hast du seinen Rat befolgt?

Ja, wir haben eine Kreuzfahrt im Mittelmeer gemacht und waren danach noch eine Woche in der Türkei, in einem Hotel direkt am Strand.

Wie ging es weiter?

Nach unserer Rückkehr wechselte ich die Klinik und kam zu einem tollen Arzt. Der hat sich dahintergeklemmt. Zuvor hatte ich selbst schon rausgefunden, dass in den USA gerade ein neues Medikament erprobt wurde: Crixivan, einer der ersten Proteasehemmer. Aber in eine Studie in Deutschland kam ich nicht rein, weil es mir schon zu schlecht ging. Mein Tod hätte den Forschern die Statistik versaut.

Wie bist du trotzdem an das Medikament rangekommen?

Mein Arzt besorgte es mir als Import, sobald es in den USA zugelassen war. Meine private Krankenkasse wollte das anfangs nicht zahlen. Sie übernahm die Kosten erst, nachdem Tex Weber von „Projekt Information“ – ihm ging es genauso schlecht wie mir – und ich beim Vorstand der Versicherung Druck gemacht hatten.

Crixivan hat dir das Leben gerettet.

Ja, schon nach drei Wochen hatte sich mein Befinden verbessert, und nach einiger Zeit zogen auch meine Blutwerte nach. Aber das Mittel hätte keinen Tag später kommen dürfen.

Als du wieder hoffen durftest, was waren deine ersten Ideen?

Ich glaube, ein toller Urlaub – Aquitaine oder Bretagne. Das ist eine sehr raue Landschaft, sie kommt meinem norddeutschen Naturell entgegen. Ich mag Frankreich und die Franzosen sehr. Sie haben schöne Strände und machen guten Sex (lacht). Das ist ein Klischee, aber es ist wirklich so.

Ab wann hast du es gewagt, wieder in die Zukunft zu planen?

Früher war ich ein Mensch, der weit vorausgeplant hat. Als Frank und ich uns kennenlernten, hatten wir beide schon Vorstellungen davon, wie unser Lebensweg aussehen könnte: ein Häuschen im Grünen, später vielleicht ein Umzug nach Südfrankreich, weil es dort wärmer ist. All das warf dieses Scheißvirus über den Haufen. Damals wurde mein gedanklicher Horizont immer enger. Heute fände ich es schick, wenn ich 70 Jahre alt würde. Aber ich plane nicht mehr so lange im Voraus. Gerade stecken wir viel Zeit und Energie in unser Haus, wo wir es uns gemütlich machen wollen. Aber sollten wir in einigen Jahren feststellen, dass das Haus zu klein oder Hamburg nicht unsere Stadt ist, dann machen wir halt was anderes! Wir planen viel flexibler als früher.

Was hat dir geholfen, die schwere Zeit durchzustehen?

Mein Mann, seine Mutter, mein bester Freund und natürlich mein Arzt. Ohne sie hätte ich gar nicht solange durchgehalten, bis die Pillen aus USA angekommen waren. Aber auch die Tatsache, dass ich mich immer selbst um mein Überleben gekümmert habe. Als ich merkte, dass meine Ärzte an Grenzen kamen und ich immer kränker wurde, fing ich an, Fachzeitschriften zu lesen und zu Kongressen zu fahren. Damals merkte ich, dass das auch andere interessiert. Deshalb machte ich selbst Veranstaltungen, zum Beispiel über neue Therapieansätze oder das Verhältnis zwischen Arzt und Patient.

Viele HIV-Patienten waren in den 90er Jahren besser informiert als ihre Ärzte.

Nicht unbedingt besser informiert, aber sehr gut. Es war und ist wichtig, informiert zu sein. Ein Patient sollte wissen, was Nebenwirkungen sind, und sollte kritisch nachfragen können. Nur so kann er zusammen mit dem Arzt eine gute Entscheidung treffen und sie dann auch richtig umsetzen.

Meinst du, die meisten HIV-Patienten machen das so?

Nein, aber die medizinischen Realitäten haben sich ja auch verändert. Bald stehen 30 verschiedene HIV-Medikamente zur Auswahl. Da ist es schwer, den Überblick zu behalten. Wer heute mit seiner Therapie anfängt, muss pro Tag vielleicht nur eine Pille schlucken. Patienten haben deshalb oft nicht den Bedarf, sich groß zu informieren. Aber später wird es dann schwierig, wenn zusätzliche Pillen kommen, wenn Resistenzen oder Nebenwirkungen wie Durchfälle auftreten.

Du lebst seit 29 Jahren mit deinem HIV-negativen Mann zusammen. Hast du manchmal noch Angst, Frank anzustecken?

Nein. Ich kann mich zwar an die ersten Zeiten erinnern, als wir uns fragten, ob wir dieselbe Zahnbürste benutzen dürfen. Aber solche Sorgen konnten uns die Ärzte schnell nehmen. Welche Alternative hätten wir denn gehabt? Wenn man weiß, dass man zusammen sein will, dann macht das keine Angst. Die Angst war eher: Was ist, wenn ich vor Frank sterbe?

Wenn du zurückblickst: hatten deine schlimmen Erfahrungen auch etwas Gutes?

Na klar, man wächst daran. Ich musste mich sehr früh mit Krankheit und Leid auseinandersetzen. Das war später hilfreich für mich. Ein Beispiel: Als meine Mutter an Krebs erkrankte, konnte ich mit ihr, aber auch mit ihrem Arzt umgehen. Ich hatte eine Ahnung, dass ich sie so annehmen musste, wie sie nun mal war. Bei ihr war es der klassische Fall: Jemand stirbt in ein paar Wochen, aber bekommt keine Morphiumpflaster gegen die Schmerzen, weil die süchtig machen könnten. Auf solche Situationen war ich damals vorbereitet: von den Fakten her, aber auch vom emotionalen Umgang damit.

Wie wichtig ist ein offener Umgang mit HIV?

Was das angeht, habe ich alles durch: vom Verdrängen übers Leugnen bis hin zum offensiven Umgang damit. Inzwischen ist das eine Selbstverständlichkeit für mich. Es gibt nur noch ganz wenige Situationen, wo ich es nicht sage.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Wenn ich anonymen Sex habe. Dann schaue ich, dass ich mein Verhalten vor mir und dem anderen verantworten kann. Aber ich muss nicht immer sagen, hallo, ich bin positiv. Oft kommt es sonst nicht zum Sex, sondern zu einer Fluchtreaktion oder zu einem Beratungsgespräch, und das ist in dem Moment von beiden Seiten nicht beabsichtigt. Auch in anderen Situationen erzähle ich es nicht ungefragt. Aber wenn es jemand wissen will, dann sage ich es. Auf Versteckspiele habe ich keine Lust mehr.

Hast du inzwischen Routine in Sachen „positives Coming-out“?

Mir hat es damals sicher geholfen, dass ich vorher schon mein schwules Coming-out hatte. Ich wusste ungefähr, wem ich es erzähle und wie ich es sage, dass ich positiv bin – bei Freunden, Lovern und am Arbeitsplatz. Aber die Angst vor den Reaktionen kommt immer wieder mal. Ich glaube nicht, dass man da eine Routine entwickeln kann.

Interview: Philip Eicker

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DAH-Blog 08.06.2011: 30 Jahre HIV – „Das Mittel hätte keinen Tag später kommen dürfen“
Das Interview erschien in gekürzter Form auch in Hinnerk 12/2011

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Erinnerungen Paris

Mauerfall 1989 – wo warst du am 9. November?

„Jubiläum Mauerfall“, unübersehbar, unüberhörbar ist dieses Thema immer wieder omnipräsent in den Medien. Berichte à la „wie ich die Wende erlebte“ oder „“wo warst du am 9. November?“ füllen Spalten und Sendeminuten.

Wo war ich in jenen Wochen? Was bewegte mich als in Berlin die Mauer fiel?

Berlin? Damals für mich weit weg, wenig interessant, es sei denn ich war beruflich dort. Viel näher war mir: Paris.

Dort, in Paris gab es einen jungen Mann, der es mir sehr angetan hatte. Mit dem bald eine große Nähe war, die in der Gemeinsamkeit des HIV Serostatus eine weitere Dimension fand.

Ein junger Mann, der im Herbst jenes Jahres 1989 erstmals ins Krankenhaus kam. Ein Ort, den er wegen Lungenentzündungen, bakterieller Infektionen, Toxoplasmose und was Aids und seine Folgen damals alles zu „bieten“ hatten in den folgenden Monaten nur zu oft sehen, erleben müssen sollte. An dem ich ihn so oft es möglich war besuchte, mich abwechselnd mit seinem Mann um ihn kümmerte.

Diese zwölf Monate vom Herbst 1989 bis zum Herbst 1990, sie sind in meiner Erinnerung eine Zeit vieler Aufenthalte in Paris. Wenige von ihnen mit einigen unbeschwerten, glücklichen Momenten. Viele hingegen voller Sorge, Ungewissheit, Angst.

Mauerfall, Wende – all das war weit weg für mich damals. Ein manchmal näheres, meist eher entferntes Grummeln, das ich wohl wahr nahm, das mich allerdings nicht wirklich erreichte.

Ich erinnere zum Beispiel Kollegen, die an den auf den Mauerfall folgenden Tagen und Wochen immer wieder aufgeregt erzählten, wie es in Berlin war, an und auf der Mauer, in den Straßen, in den Clubs. Wie ich, gerade wieder aus Paris zurück, nur hätte erzählen können von einem jungen Mann, der schwerer und schwerer erkrankte, dahin siechte, verfiel. Und den ich liebte. Dessen einst strahlendes jungenhaftes Lächeln zerbröselte zu einem Gesicht voller Trauer und Hoffnunglosigkeit. Ich hielt meist den Mund bei den Mauerfall – Erzählungen der Kolleg_innen. Zu wenig passten ihre aufgeregten, freundvollen, überschäumenden Geschichten mit meiner eigenen Realität zusammen.

Mein Bezug war in diesen Monaten 1989 / 1990 weniger Berlin, mein Horizont lag weiter westlich. Viele Stunden, Tage, Wochen verbrachte ich in Paris, bei Jean-Philippe.

Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer geöffnet. Der 3. Oktober 1990 ist der Tag des „Wirksamwerdens des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland“ – der ‚Tag der Deutschen Einheit‘.

An diesem 3. Oktober 1990 starb Jean-Philippe in Paris an den Folgen von Aids.

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Was ist von Bedeutung?
Was ist wirklich wichtig?
Eine bedeutende Situation so gespalten zu erleben, wie bei Mauerfall und Wiedervereinigung, es sollte sich noch einmal wiederholen für mich – am 11. September 2001, Nineleven.

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Erinnerungen

Claus Gillmann 13.9.1939 – 29.8.1994

Am 29. August 1994 starb der Kölner Theaterwissenschaftler Publizist und Schwulen-Aktivist Claus Gillmann, geboren am 13. September 1939.

Dr. Claus Gillmann (1939 - 1994)
Dr. Claus Gillmann (1939 – 1994)
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Erinnerungen

ronald m. schernikau (1960 – 1991)

Ich hab da wen kennen gelernt“, erzählte Jürgen so beiläufig, dass es bemerkt werden wollte. Jürgen war damals schon seit einigen Monaten ein „Ex“, einer der nicht wenigen, Anfang der 1980er. Einige Tage später war dieser „Neue“ in Hamburg, stolz präsentierte ihn Jürgen ebenso gewollt unauffällig wie seine Ankündigung. Ein etwas hagerer, zerbrechlich wirkender junger Mann stand neben ihm. Etwas schlaksig-schüchtern und doch strahlend, lange schwarze Haare. Nur wenige Worte mit einander, schon bald das Gefühl in meinem Bauch, nein, nicht dein Typ, mit dem tust du dich schwer. Das war meine einzige Begegnung mit Ronald M. Schernikau (1960 – 1991).

Einige Zeit vorher war dieser Schernikau mir bereits begegnet in Form seines aufwühlenden, mitreißenden Buches. Die „Kleinstadtnovelle“. Endlich ein schwules Buch, das nicht larmoyant war, nicht mitleidheischend. Sondern selbstbewusst, stolz und nicht klagend, mit Blick nach vorn, stolzem Blick nach vorn.

Vor einiger Zeit begegnete mir Schernikau wieder. Am 28. Februar, Matthias drückte ihn mir morgens in die Hand. Nicht in personam, Schernikau ist längst tot, 1991 gestorben wie so viele Hoffnungsvolle an den Folgen von Aids. Sondern in Form eines Buches, eines wundervollen Buches, das ich zum Lesen empfehlen möchte, „Der letzte Kommunist“ von Matthias Frings.

Wie bei der Politik fallen Beziehunsgformen nicht einfach vom Himmel. Sie werden gemacht – also sind sie veränderbar“, lautet einer der wundervollen Sätze in diesem schönen, lesenswerten Buch.

Grab Ronald M. Schernikau auf dem Friedhof der St.-Georgen-Parochialgemeinde Berlin, Friedenstraße (Foto Szymborski - gemeinfrei)
Grab Ronald M. Schernikaus auf dem Friedhof der St.-Georgen-Parochialgemeinde Berlin, Friedenstraße (Foto Szymborski – gemeinfrei)

Gedenktafel für Ronald M. Schernikau in Leipzig

In Leipzig wurd am Sonntag, 11. Juli 2010 eine Gedenktafel für den Dichter und Autor Ronald M. Schernikau enthüllt. Schernikau lebte 1986 bis 1989 in Leipzig.

‘leipzig ist die glücklichste zeit”, schrieb Ronald M. Schernikau in “die tage in l.”

Im September 1986 war Schernikau von West-Berlin nach Leipzig gezogen. Als erster Bürger der BRD hatte er am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ ein Studium aufgenommen. Seine Abschlussarbeit, vorgelegt im Mai 1988, wurde 1989 unter dem Titel “die tage in l.” publiziert.

Zuvor hatte der 1960 geborene Schernikau bereits 1980 in der BRD einen bemerkenswerten Erfolg mit seinem ersten Werk erzielt, der “Kleinstadtnovelle”. Das bei Rotbuch erschienene und nach kurzer Zeit vergriffene Buch berichtet von einem schwulen Coming-Out in einer westdeutschen Kleinstadt.

1989 wurde Schernikau Bürger der DDR und zog um September 1989 nach Berlin-Hellersdorf um. Er starb am 20. Oktober 1991 an den Folgen von Aids. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof der St. Georgen-Gemeinde in Berlin-Friedrichshain.

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Erinnerungen

Gestatten, mein Name ist Teddy

Nun gut, es ist also Teddybärenwoche …

Nun, mein Teddy heißt einfach “Teddy” und hatte nie einen besonderen Namen, meine Phantasie oder Sprachbegabung reichte damals wohl noch nicht sehr weit 😉 .

Allerdings – auch heute hat Teddy immer noch seinen Ehrenplatz in der Wohnung – auch wenn er normalerweise selten am Notebook sitzt ;-) .

Ob Teddy damals schon schwul war? Keine Ahnung, hab ihn nie gefragt, auch ohne es zu wissen war er heiß geliebt. Allerdings, im Gegensatz zum gut gekleideten ‘Martin‘ war Teddy immer schon nackt … und weist einige benutzungsbedingte Flick-Spuren auf …

Und – die Familiengeschichte berichtet, Teddy sei ein geborener ‘Bärenmarke’ – einer der Werbe-Teddys, die es wohl zu der Zeit damals gab …

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Erinnerungen

Plasticant – 60er und 70er Jahre Spielzeug

plasticant ®“ war ein auf Konstruktion angelegtes 70er Jahre Spielzeug – System aus Kunststoff-Teilen. Im wesentlichen bestand es aus blauen röhrenartigen Teilen, die mit gelben Kunststoff-‚Dübeln‘ verbunden wurden, sowie roten und gelben Flächen-Füllsteinen.

plasticant - Packungsbeilagen, 1960er Jahre
plasticant® – Packungsbeilagen, 1960er Jahre

„Erfunden“ wurde das Systemspielzeug von dem Ungar Jenö Paksy, der es sich auch am 18. November 1958 patentieren ließ (US-Patent eingereicht 1959).

Das Spielzeug kam in Deutschland 1961 erstmals auf den Markt, produziert vom Unternehmen ‚Franken Plastik‘ in Fürth (die Rechte wurden später an einen US-Spielzeugkonzern verkauft). Die Produktion wurde 1974 eingestellt, es gibt allerdings seit 2008 ein identisches Produkt eines ungarischen Unternehmens unter dem Namen ‚Jáva‘, das auch in Deutschland vertrieben wird.

Plasticant – Fotos

Plasticant Bausteine
Plasticant Bausteine
Plasticant Schachtel, 1960/70er Jahre
Plasticant Schachtel, 1960/70er Jahre
Plasticant Bausteine
Bausteine
Plasticant Schachtel, 1960/70er Jahre
Schachtel, 1960/70er Jahre
plasticant® Packungsbeilagen, 1960er Jahre

plasticant oder pastikant?

Auch wenn es gelegentlich anders zu sehen ist, plasticant wurde mit “c” geschrieben (nicht ‚ plastikant ‚) … und da es “plasticant 120″ hieß, vermute ich es gab auch plasticant 60 und plasticant 163³ ???

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Kindheitserinnerungen aus plasticant

Beim weihnachtlichen Besuch in Kindheitserinnerungen gewühlt. Unter anderem nach dem Kindheitstraum aus Plasticant gestöbert.

Nein, keinen knackigen jungen Kunststoff-Technologen gefunden (obwohl, die Verpackung …). Wohl aber viele blaue und gelbe Kunststoff-Bausteine, und die Entdeckung, dass es doch einiges mehr gab an Bausteinen als ich erinnerte.

Ich muss so etwa vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, als ich meine ersten ‘Plasticant’-Steine bekam. Sie wurden schnell mein Lieblings-Spielzeug, über Jahre. Und der Vorrat an Steinen wurde größer und größer. Irgendwann reichten all die Kartons nicht mehr, eine Waschpulver-Trommel (ja, Waschpulver wurde damals in riesigen runden Trommeln verkauft) wurde mit dc-fix beklebt, sah dann hübsch peppig aus (meinte mein Vater) – und hatte viel Platz für viele Bausteine.

Plasticant kennt heute leider kaum noch jemand. Plasticant war ein System aus verschiedenen Steinen, besser Bau-Elementen, die man zusammenstecken und damit alles mögliche bauen konnte.
Da gab es blauen Röhren in den verschiedensten Formen. Nun gut, groß war die Auswahl wohl nur für meine Kinder-Augen, es gab Röhren, Kreuze, T-Stücke, Ecken und Kurven, mehr (soweit ich mich erinnere) nicht. Diese Röhren konnte man mit Dübel-artigen Steckern miteinander recht stabil verbinden (hmmm, war das schon erotisch?).
Und es gab gelbe und rote Quadrate, mit denen man den Zwischenraum zwischen den Röhren, wenn man Flieger, Windmühle oder Haus fertig gebaut hatte, ausfüllen konnte.

Das Resultat war dann meist ein etwas arg bunt aussehendes ‘Etwas’ – aber immer mit viel Spaß und Spannung, denn – meiner kindlichen Phantasie waren mit Plastickant, so empfand ich es damals, wohl kaum Grenzen gesetzt. Mein Bruder hatte ‘Lego®’, das fand ich furchtbar langweilig. Und mochten andere Jungs sich später in ihrer ‘Fischer-Technik®’ austoben – ich hatte Plasticant und fand das viel toller!

Immer höher, immer gewagter konnte man bauen, das Zeug war recht stabil. Und robust – die zahlreichen Abstürze, die meine selbst entwickelten Flugzeuge und Raketen hatten, die Einstürze all der seltsamen Häuser, die Steine überlebten sie weitgehend unbeschadet.

Irgendwann wurde der Junge dann älter, die Bausteine doch langweiliger. Schließlich landeten die inzwischen zwei Waschtrommeln voll blauer, gelber und roter Steinchen erst hinten im Kleiderschrank, dann unten im Keller. Wo sie wohl heute noch stehen müssten – ich werd beim nachweihnachtlichen Elternbesuch mal kramen gehen …

Plasticant ist inzwischen meist nur noch Erinnerung, wenn überhaupt. Vielen fällt dazu nur noch der ‘Kunststoff-Technologe’ als Berufsbild ein, wie unromantisch ,-)

Plastikant übrigens gibt es heute noch – bei Ebay, als nostalgisches Spielzeug aus den 1960er Jahren. Aber ich werd meins wenn ich’s wiederfinde nicht verkaufen – zu viele schöne Kindheitserinnerungen … :-)

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Erinnerungen

Von der Nordwolle zur Bankenkrise

Wie es von der Nordwolle in Delmenhorst zur Bankenkrise kam …

Delmenhorst, ‘Tristesse in der Provinz‘. Und doch, einmal sollte Delmenhorst Geschichte machen. Eine Geschichte, die angesichts der jüngeren Entwicklungen an den Finanzmärkten (wieder) in die Zeit passt:

In Delmenhorst gab es einst ein blühendes Unternehmen, das sein Geld mit Wolle und Garnen verdiente, die 1884 von dem Bremer Kaufmann Martin Christian Leberecht Lahusen gegründete ‘Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarn-Spinnerei’ (NWK), genannt ‘Nordwolle’.

Nordwolle 2007
Nordwolle 2007

Die Besitzer, die Familie Lahusen, war (in der vierten Generation) auch äußerst geltungsbewußt – und ließ Anfang des 20. Jahrhunderts eine große Konzernzentrale in Bremen sowie ein pompöses Herrenhaus ‘Gut Hohehorst’ errichten. Beide Bauten strapazierten die Leistungsfähigkeit des Konzerns über Gebühr. Management-Fehler, Bilanzfälschungen (vorgetäuschtes Wachstum) und Weltwirtschaftskrise kamen hinzu – am 21. Juli 1931 ging die NWK in (betrügerischen) Konkurs.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Größter Geldgeber der NWK war die ‘Danat-Bank‘ (Darmstädter und Nationalbank). Heute ein beinahe vergessener Name, damals die zweitgrößte Bank Deutschlands. In Folge des Konkurses der NWK wurde die Danatbank zahlungsunfähig. Sie musste bereits am 13. Juli 1931 wegen Zahlungsunfähigkeit schliessen und später mit der Dresdner Bank fusionieren.

Dass die zweitgrößte Bank Deutschlands ‘einfach so’ pleite ging, erschütterte das Vertrauen der Bevölkerung in das gesamte Bankensystem massiv. Ein Run auf die Bankschalter wurde ausgelöst. Jeder wollte schnellstmöglich sein Guthaben abheben, sein mühsam erspartes Geld vor befürchteten weiteren Konkursen retten – und verstärkte dadurch die Zahlungsprobleme nur weiter. Die Bankenkrise nahm ihren Lauf …

Die Konzernzentrale der NWK in Bremen überstand die Pleite – und wurde bald zum sog. ‘Haus des Reichs‘. ‘Gute Hohehorst’ wurde unter dem Namen ‘Friesland’ eines der Heime des von der SS getragenen Vereines ‘Lebensborn‘. Auf Geltungswahn folgte noch fürchterlicherer Wahn.

Und Delmenhorst hatte seinen gehörigen Teil zur Inflationskrise beigetragen …

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