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Erinnerungen Oldenburg

Oldenburg möchte 2012 ‚Heimat für Homosexuelle‘ sein

Als Mittel- und Bezugspunkt einer großen ländlichen Region hat Oldenburg den Anspruch und die Aufgabe, eine Heimat für Homosexuelle zu sein„,

sagt – der Oberbürgermeister von Oldenburg.

Nun, „Heimat für Homosexuelle„, die Formulierung klingt für mich befremdlich. Möchte ich das?

Allein, hinter der mir befremdlich klingenden Formulierung steckt für die Provinz immer noch Bemerkenswertes.

Prof.Dr. Gerd Schwandner, der Oberbürgermeister Oldenburgs, begründet:

Zu einer aufgeklärten Gesellschaft gehört ein Toleranzbegriff, der Vielfalt als Normalität begreift. Und wir können nicht genug dafür tun, diesen Gedanken weiterzutragen und mit Leben zu füllen.

Und ergänzt

Der hohe Anteil von Lesben und Schwulen an unserer Bevölkerung verdeutlicht das; wir verstehen ihn als Kompliment. Und zwar als eins, das immer wieder neu verdient sein will.

Ob in Oldenburg Homosexuelle nun besser leben?

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Eine Aussage, die man sich von so manchen Bürgermeister auch größerer Städte wünschen würde.

Schon in Deutschland, umso mehr in einigen Nachbar-Staaten (erinnert sie nur daran, dass andere gerade glauben den CSD für 100 Jahre verbieten zu können).

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Alles außer gewöhnlich.“
Ein schönes Motto für einen CSD – wo sich viele doch gerade danach recken, so gewöhnlich und angepasst wie möglich sein zu ‚dürfen‘.

Wir müssen nicht der Norm entsprechen, um ein wertvoller Teil der Gesellschaft zu sein„,

sagt 2012 das Programmheft für den CSD Nordwest. Sein Motto: „Alles außer gewöhnlich!“

Mögen einige über diesen Satz nachdenken . . . und das Potential, das in ihm steckt …

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Ich erinnere mich.
1980 / 81 begann mein schwules Leben – in Oldenburg, in eben jenen Oldenburg.
Gerade frisch zuhause ausgezogen, entdeckte ich hier erstmals, was so alles möglich war.
Dass manch untergründig schlummernde Sehnsucht durchaus erfüllbar war.
Hatte einen ersten Lover. Raphael.
Ein guter, liebevoller Start in’s schwule Leben, an den ich mich noch heute gern erinnere.

Und Erinnerung an eine Zeit, in der (in meinen Freundes- und Bekanntenkreisen) Maxime nicht war „wir wollen sein wie die“ [Heteros], sondern primäre Idee war, die Chancen und Möglichkeiten des Anderssseins kreativ für den eigenen Lebensweg zu nutzen. Wir wollten nicht der Norm entsprechen …

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NWZ online 13.06.2012: Oldenburg möchte Homosexuellen gute Heimat sein
CSD Nordwest, dort Link zum Programmheft (als pdf) mit dem Grußwort des Oberbürgermeisters

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Nachdenkliches

Mein Unwort des Jahres 2012: “Menschenrechtist”

Unwort des Jahres 2012 – mein Kandidat: ‚Menschenrechtist‘.
Der Eurovision Song Contest 2012 ist vorbei. Langsam kehrt wieder Ruhe ein – oder? Wächst jetzt Gras über jede Peinlichkeit der letzten Tage, über jeden Lapsus,  das Gras des Vergessens, eilt die Aufmerksamkeit zum nächsten Hype weiter? Oder erinnern wir uns an sprachliche Entgleisungen der besonderen Art? Eine der in meinen Augen bemerkenswertesten sprachlichen Entgleisungen: Feddersens Wortschöpfung „Menschenrechtist“.

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Feddersen berichtet und kommentiert für taz und NDR aus Baku. In seiner taz-Kolumne „Bitches in Baku #6: Indezent und dabei gut aussehen“ prägt er den Begriff „Menschenrechtist“:

„Sogar das westliche Gerücht, dass in Aserbaidschan Schwule – von Lesben ist nie die Rede – drakonisch unterdrückt werden, darf als Gräuelpropaganda von, nennen wir sie: Menschenrechtisten genommen werden.“

Schwulen- und Lesbenverfolgung und -unterdrückung in Aserbaidschan – einzig ein „Gerücht“? „Gräuelpropaganda“? Zahlreiche Publikationen (nicht nur in schwulen Medien) haben bereits heraus gearbeitet, dass die Unterdrückung Homosexueller in Aserbaidschan weit mehr ist als „ein Gerücht“.
Mir geht es hier um eine andere Formulierung.
„Menschenrechtist“.
Ein Wort, das man sich auf der Zunge zergehen lassen kann.
Wonach schmeckt es?
Welchen Beigeschmack hat es?
Was will es bewirken?

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„Menschenrechtist“ – das erinnert (und soll es wohl auch) an Extremist, Fundamentalist …

„Menschenrechtist“ – ein solcher Mensch wäre wohl ‚Vertreter des Menschenrechtismus‘.
‚-ismus‘-Formulierungen werden auch „verwendet, um sich mental von etwas zu distanzieren“, weiß wikipedia. „Außerdem wird das Suffix verwendet, um jemanden zu charakterisieren oder zu klassifizieren.“

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Gibt es einen Grund, einen neuen Begriff zu prägen?
Menschen, die sich für Menschenrechte einsetzen, nennt man gemeinhin ‚Menschenrechts-Aktivisten‘.
Ein Grund einen neuen Begriff einzuführen für sie ist mir nicht ersichtlich.
Es sei denn, man wolle ihrer Arbeit eine negative Konnotation anhängen, sie diffamieren, verächtlich machen.

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„Menschenrechtisten“ – ist Feddersen einfach, wie der Titel seiner Kolumne suggeriert, bitchy?

Bitchy – das meint etwa: gemein, gehässig, zickig.
Ist es nur einfach bitchy, Menschenrechts-Aktivisten als „Menschenrechtisten“ zu diffamieren? Ist die Entgleisung des Herrn Feddersen damit zu erklären, gar zu entschuldigen?

Stefan Niggemeier betont (in der taz vom 24.5.2012, „ESC-Berichterstattung -Zwischen Heuchelei und Anteilnahme“)

„Jan Feddersen hat die Menschen, die darüber berichten, in vielfacher Weise verunglimpft. Er hat den Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung eine „Spaßbremse“ genannt und Kritiker als „Menschenrechtisten“ verspottet.“

Konnte man eigentlich beruhigt nach Baku fahren, über den ESC berichten, trotz der Situation hinsichtlich der Menschenrechte im Land?

Ist doch alles nicht so schlimm. Die Menschenrechtisten übertreiben maßlos„, meint Herr Feddersen.

Auch ansonsten findet Herr Feddersen deutliche Worte für (oder sollte man sagen gegen?) das Engagement für Menschenrechte. So zitiert Stefan Niggemeier Feddersens Antwort auf die Frage einer Springer-Zeitung „Was sagen die Sänger zur politischen Lage?“

„Für Polit-Sperenzchen haben die meisten Künstler gerade keinen Sinn“

Engagement, Äußerungen zur politischen Lage in Aserbaidschan – das sind für Herrn Feddersen nur ‚Polit-Sperenzchen‚?

Und wenn der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Menschenrechtsskandale in Aserbaidschan angreift – ist er dann mit Feddersen „eine Spaßbremse sondergleichen„?

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Der von Feddersen geprägte Begriff „Menschenrechtist“ ist ein übler Missgriff. Er ist weit mehr als „nur“ übliche Ironie oder Spott.

Geht es Feddersen (mit dieser Wort-Schöpfung) darum, Raum für differenzierte Debatten zu eröffnen? Zwischentöne zuzulassen? Neue, andere Blicke auf die Menschenrechts-Situation in Aserbaidschan zu ermöglichen?

Nein – mir scheint nicht. Ein Begriff wie „Menschenrechtist“ macht verächtlich, deklassiert, wertet ab. Diffamiert Menschen, die sich für Menschenrechte einsetzen.

Auch wenn Feddersens Begriffs-‚Schöpfung‘ im Kontext seiner Äußerungen über den Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung sowie im Kontext seiner Antwort auf die Frage nach Künstler-Äußerungen zur Menschenrechts-Frage gelesen wird, wird greifbar, was er mit diesen Formulierungen intendieren mag: die Verächtlichmachung des Einsatzes für Menschenrechte.

Zeigt der Autor hier – wenig verborgen – gar seinen Ekel vor diesen Aktivisten, diesem Engagement – das ihm seinen (ESC-) Spaß verdirbt?

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Ginge es allein im sprachliche Missgriffe, könnte man Feddersens Fehltritt(e) als ‚hedonistische Markussiade‚ abtun („Ich will Spaß! Ich will Spaß!“). Aber es geht nicht um irgendwelchen Spaß, es geht um Menschenrechte, und um Menschen, die sich – oftmals unter Eingehen erheblicher Risiken – für deren Einhaltung einsetzen.

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Feddersen arbeitet unter anderem als Journalist für taz und NDR.
Laut ihrem Redaktionsstatut tritt die taz ein „für die Verteidigung und Entwicklung der Menschenrechte und artikuliert insbesondere die Stimmen, die gegenüber den Mächtigen kein Gehör finden.“ (§2(3))
Zu den Programmgrundsätzen des NDR gehört „die Würde des Menschen zu achten und die Verständigung der Menschen untereinander in allen Bereichen des Lebens zu fördern“.
Wie sich Feddersens Äußerungen mit dem Redaktionsstatut der taz oder den Programmgrundsätzen des NDR vertragen – dies wird mir immer schleierhaft bleiben.

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„Die Aktion »Unwort des Jahres« möchte auf öffentliche Sprachgebrauchsweisen aufmerksam machen und dadurch das Sprachbewusstsein und die Sprachsensibilität in der Bevölkerung fördern. Sie lenkt den Blick auf sachlich unangemessene oder inhumane Formulierungen, um damit zu sprachkritischer Reflexion aufzufordern.“
Die Kriterien für das „Unwort des Jahres“ lauten

„weil sie gegen das Prinzip der Menschenwürde verstoßen,
weil sie gegen Prinzipien der Demokratie verstoßen,
weil sie einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminieren,
weil sie euphemistisch, verschleiernd oder gar irreführend sind.“

Herrn Feddersen ‚Wortschöpfung‘ „Menschenrechtist“ käme wohl als Kandidat infrage …

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Und sonst?

Der Ex- taz-Kolumnist und Satiriker Wiglaf Droste spricht (in der ‚Jungen Welt‘ vom 26.5.2012) vom „Menschenfedder“ und stellt fest

„Auch politisch ist das Alt-mao-am Feddersen vollrohr im Niente­capirismus angekommen.“

Christian Scheuß bittet auf queer.de (am 24.5.2012, „ESC in Baku – Jan Feddersen, zero points!„) Jan Feddersen trocken

„Das Mindeste, das du jetzt tun könntest, aus Solidarität zu denjenigen, die ein anderes Verhältnis zu den Realitäten haben: Konzentriere dich auf die schönen Trick-Kleider und den tollen Promo-Tand, schau dir so lang du willst die händchenhaltenden Männer mit den „hautengen T-Shirts“ und den „eingebauten Gemächtbeulen“ an, aber halt in Sachen Menschenrechte doch einfach die Klappe. Danke schön…“

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Deutsche Post: Briefmarke '50 Jahre Erklärung der Menschenrechte' (1998)

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Deutsche Post: Briefmarke ’50 Jahre Erklärung der Menschenrechte‘ (1998)

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Anmerkung:
14.12.2012 Titel geändert von „Unwort: „Menschenrechtist““ in „Mein Unwort des Jahres 2012: “Menschenrechtist”“
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siehe auch
Steven Milverton 31.05.2012: ESC-Nachlese
Elmar Kraushaar „Der homosexuelle Mann …“, in: Männer (online), 04.06.2012
Stefan Niggemeier 04.06.2012: Der homosexuelle Mann… und die Grenze der Toleranz bei der »taz«
queer.de 04.06.2012: Der homosexuelle Mann in Aserbaidschan
aufrechtgehn.de 04.06.2012: Jan Feddersen: der Expertist
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vorwärts 13.06.2012: Der Eurovisions-Frieden in Baku ist vorbei – Blogger Mehman Huseynov verhaftet
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Erinnerungen

Schwule Aktion Bremerhaven SAB – 1981 / 82

Schwule Aktion Bremerhaven  – wie kam es dazu? Das schwule Leben in Bremerhaven Anfang der 1980er Jahre war … nun ja, überschaubar, sehr beengt (um nicht zu sagen verklemmt), kurz gesagt für einen jungen Mann, der sein Schwulsein gerade entdeckt und zu akzeptieren gelernt hat, schwul leben will: deprimierend.

Seit 1979 lebte ich in Bremerhaven. Es gab dort drei Kneipen, besucht überwiegend von älteren Herren. Zwei Klappen am Deich. Sonst (an ‚Infrastruktur‘ für männerliebende Männer) nichts, außer – wegfahren, nach Bremen, Oldenburg und in das (bald mein ’schwules Paradies‘ werdende) Hamburg. Und dann: ein Pornokino, zwar überwiegend hetero, aber auch mit schwulen Filmen.

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Erinnerungen HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.

Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.

Alles begann 1981. Forscher beobachten eine seltsame Häufung von Pilzinfektionen und seltenen Lungenentzündungen bei Schwulen in Los Angeles, später auch in San Francisco und New York. Im Juni 1981 erscheint ein erster Bericht über das, was später ‚Aids‘ genannt wird, in der Fachpresse (dem ‚MMWR‘). Schon wenig später berichtet mit der New York Times auch die erste Publikums-Zeitung, im März 1982 schließlich berichtet in Deutschland erstmals der ‚Spiegel‘, unter dem Titel “Schreck von drüben”.

So beginnt ‚die Geschichte von Aids‘ (bzw. von der Wahrnehmung von Aids, denn die Anfänge von HIV liegen weit früher).

So beginnt Anfang der 180er Jahre die Geschichte einer Epidemie, die bald das Leben (nicht nur) der Schwulen dramatisch verändert. Die Geschichte einer Infektion, die sich – zunächst schlei­chend, bald jedoch mit massiver Wucht – in die Leben vieler Menschen drängt, auch in meines.

2012, gut dreißig Jahre später. Zahlreiche Feiern haben stattgefunden in den vergangenen Jahren, Jubiläen unzähliger Organisationen, die sich im Kampf gegen Aids engagiert haben. Was gab es zu feiern? 3 Jahre. Erinnern. Geschichte.

Geschichten.
Geschichten wie HIV sich mal schleichend langsam , mal überschlagend schnell in unsere, auch in mein Leben drängte, es aufzusaugen drohte.

Wie wichtig ist HIV in meinem Leben?
Ein weiter Bogen ließe sich spannen, von Ignoranz bis Dominanz, von Verharm­losen bis Hoff­nungslosigkeit, von Liebestrunkenheit bis zu tiefstem Absturz.
Fast wäre es wohl möglich, eine Art ‚Typologie der HIV-Relevanz‘ in meinem Leben zu erstellen – von Null auf Hundert, mit allerlei Achterbahn mittendrin.
Geht es auch wieder zurück? Hört das irgendwann einmal auf?

Anfang der 1980er

An die ersten Berichte über diese „neue Schwulen-Seuche“, wie sie damals tituliert wurde, kann ich mich gut erinnern, und auch an meine Reaktionen. „Haben die jetzt wieder etwas Neues gefunden, um uns weiter zu unterdrücken?“ Die Schwulen der Generation vor mir hatten mühsam gekämpft, um die Freiheiten, auch die sexuellen Freiheiten, zu erreichen, die ich nun gerade in vollen Zügen genoss. Wollten die uns das alles wieder weg nehmen? War da überhaupt etwas dran? Oder übertrei­ben die wieder mal?

Mit HIV (das diesen Namen erst später erhielt) wollte ich damals zunächst nichts zu tun haben. Okay, an das mit den Kondomen, da musste ich mich wohl gewöhnen. Ein kleiner, hauchdünner Schritt war es, mit dem HIV in mein Leben drang.

In Urlauben, gern an Frankreichs schwulen Stränden, erleben wir – anders als in den Homoszenen zuhause – weiterhin ‚das pralle Leben‘. Sex, als sei Aids ein fernes Gespenst, safer Sex etwas für neurotische Großstädter (die genau hier ihren Urlaub machen). Es ist Urlaub, die Sorgen sind fern, Kondome bei Franzosen anscheinend noch un­beliebter als bei uns. Weitgehend sorgenfrei scheint das schwule Standleben hier weiter zu toben.

Mitte der 1980er

Irgendwann begann Aids, mehr Raum in meinem Leben einzunehmen. Ob ich wollte oder nicht (nein, ich wollte nicht), HIV drängte sich mehr in mein Leben. Nicht schleichend, sondern ganz ra­sant. Wegschauen war vorbei. Zunehmend mehr Freunde und Bekannte erkrankten. Die ersten ster­ben.

Ende der 1980er

Und es wurde nicht besser. Monatelang, jahrelang nicht. Im Gegenteil.

Kein Zeichen von Hoffnung.
Kein Lichtstreif am Horizont.
Immer mehr Freunde und Bekannte kamen an, sagten dieses traurige „du, ich hab’s auch“.
Hoffnungslosigkeit schwang bei jedem Test, jeder Diagnose sofort mit.
Zahle ich jetzt den Preis für mein liederliches Lotterleben, wie sie es uns einzureden versuchen? Hat ‚es auch mich erwischt‘? Und wenn ja – wie lange habe ich noch?

Immer mehr Lover, Weggefährten, Mitstreiter starben.
Die Zahl der Trauerkarten und Einladungen zu Begräbnissen in unserem Briefkarten nahm irgend­wann ein Maß an, für das mir nur ein Wort in Erinnerung bleibt: ‚unerträglich‘

Um HIV kam ich nicht mehr herum. Aids war längst tief drin in meinem Leben.

Anfang der 1990er

Im Sommer 1989 lernte ich in Paris einen jungen Mann kennen. Eine ‚große Liebe‘ meines Lebens.Wir verbrachten traumhaft schöne Momente mit einander, positive Momente. Irgendwann in den 1980ern hatte ich selbst die Diagnose ‚HIV-positiv‘ bekommen. Auch er war positiv. Seelenver­wandte waren wir, Gefährten. (Ich habe über die Zeit mit ihm auf unserem privaten Blog 2mecs ge­schrieben „Einige Tage mit dir“.)

HIV hatte sich wieder weiter voran in mein Leben gedrängt, wieder eine Stufe mehr auf der Leiter der Aids-Eskala­tion, eine unerträgliche. Nicht nur waren große Teile meines persönlichen Umfelds HIV-positiv, nicht nur hatte ich selbst längst mein Testergebnis in der Tasche. Nein, nun war auch einer der Menschen, die mir am nächsten sind, einer den ich liebe, positiv – und erkrankte, erkrankte schwer.

Ich erlebte mit ihm, mit uns nicht nur ’sein‘ HIV, sei fortschreitendes Erkranken. Mir war nur zu bewusst: du er­lebst hier auch dein HIV. Du erlebst auch dich selbst – in irgend einer nicht allzu fernen Zukunft. So wie ihm wird es bald auch dir ergehen.

Im Herbst 1990 starb Jean-Philippe.

Selten habe ich mein Leben elendiger empfunden.
Und lange hinterher stand immer wieder eine Frage im imaginären Raum meiner stillen Gedanken: Warum er? Warum ich nicht? Eine Frage, die heute nur schwer verständlich erscheinen mag. Eine Frage, auf die es keine ‚vernünftige‘ Antwort gibt. Keine Antwort die erträglich ist.

Mitte der 1990er

Irgendwann konnte ich auch meiner eigenen HIV-Infektion nicht mehr so locker umgehen wie zu­vor viele Jahre lang. Ich ging regelmäßig zum Arzt, ließ Werte kontrol­lieren, versuchte halbwegs auf eine gesunde Lebensführung zu achten. Nahm erste Medikamente gegen HIV, als sie verfügbar wurden. Bemühte mich aber, mein ich, mein Sein nicht von HIV bestimmen zu lassen.

Doch das funktionierte irgendwann nicht mehr. HIV drängte sich noch weiter vor in mein Leben, nahm nun eine zunehmend wichtigere Rolle ein. Ich erkrankte oft, vielfach an ‚harmlosen‘ Dingen, doch zu­nehmend häufiger, schwerer.

Bis mein Körper irgendwann ’nein‘ sagte, nicht mehr wollte. Ich wachte eines Morgens auf, im Krankenhaus, unter Sauerstoff. PcP – eine der Erkrankun­gen, die damals Horror-Gefühle bei jedem Positiven auslösten. Eines der untrüglichen Zeichen: nun ist es soweit.

HIV begann, mein Leben zu dominieren.

1996

„Wir können nichts mehr für Sie tun.“ Die Worte des Arztes waren eindeutig. Und sie überraschten meinen Mann und nicht, nicht mehr. Zu viel war passiert in den vergangenen Wochen und Monaten.
Mein eigener Horizont war immer enger geworden. Reichte nur mit großer Mühe noch über mich, mein kleines beschissenes Leben, das pure Über-Leben bis zum nächsten Morgen hinaus

Die maximale Eskalationsstufe schien erreicht. HIV hatte sich so massiv in mein Leben gedrängt, das kaum noch Raum für anderes war. HIV hatte mein Leben okkupiert. Zu einhundert Prozent. Es fraß mich auf.

Immer noch 1996

„Es gibt da ein neues Medikament. Noch nicht in Europa zugelassen, aber gute Studiendaten.“ We­nige Wochen später. Der Arzt kann mir zaghaft Hoffnung machen.
Einige Wochen, einige Probleme mit der Krankenkasse, einen Arztwechsel später: plötzlich macht es ‚peng‘. Plötzlich, einige Wochen nachdem ich mit der neuen ‚Kombi‘ begonnen hatte. Eines Tages merkte ich ‚da ist ja doch noch Leben in dir‘. Wachte auf, fühl­te mich. Fühlte mich – ein klein wenig kräftiger. Ein Wort, ein Gedanke, der mir sehr lange nicht mehr gekommen war.

Es war ein kleiner Hoffnungsschimmer – aber er sagte: viel­leicht kannst du doch die Hoheit über dein Leben zurück gewinnen, zumindest für einige Wochen, einige schöne Tage noch.

In den 2000ern

Ein Auf und Ab folgte. Wirken die Pillen? Und wie lange? Wann versagen sie wieder? Trotz aller neuen Hoffnungen, HIV war immer da, ganz vorne im Bewusstsein. Die Drohung des Sterbens war immer präsent.

Mein Leben mit HIV, mit den Pillen ist zu dieser Zeit nicht immer einfach. Die eine Kombi macht so massive Neben­wirkungen, dass ich mich kaum ohne Unterhose zum Wechseln aus dem Haus traue. Die andere führt zu Taubheit an den Füßen, Neuropathien. Irgendwann werden die Arme und Beine immer dün­ner, Löcher schleichen sich ins Gesicht – Lipodystrophie.

Und doch: ich lebe. Und ich lebe zunehmend besser. Lerne mit Neben- und Wechselwirkungen um­zugehen. Therapiewechsel. Irgendwann auch Kombi-Therapien, die ich ruhigen Gewissens als ‚ver­träglich‘ empfinde.

HIV ist noch da, nimmt zuerst weiter einen sehr großen Raum in meinem Leben ein. Aber der Raum wird kleine. Schleichend reduziert sich der Einfluss, den HIV auf mein Leben hat, dem ich ihm gewähren muss.

Und doch – HIV und Aids haben Wunden hinterlassen in mir, die nur sehr langsam heilen (tun sie das?). Schmerzen, die immer wieder aufbrechen. Schaue ich (was ich vermeide) in alte Adressbücher, schreit mich eine Einsamkeit des Zurückgelassenen an. Erinnere ich mich an früher, an Menschen, die ich liebe, mit denen ich mich engagierte, die mich durch mein, durch unsere Leben begleiteten – ist da eine unendliche Traurigkeit. Leere.

2012

Inzwischen, und schon seit einigen Jahren, kann und soll Aids wieder weit weniger Raum in mei­nem Le­ben einnehmen, deutlich weniger. Ja, es gibt noch die täglichen Pillen, die dreimonatigen Arztbesu­che. Gelegentliche Positiventreffen. Meine Site ondamaris.

In meinem Fühlen, in dem was mich persönlich beschäftigt, nimmt Aids hingegen seit Jahren weni­ger Raum ein. HIV okkupiert nicht mehr mein Leben. Ich versuche, ihm ständig weniger Raum zu­zugestehen. Eine kleine, ganz private ‚Normalisierung‘.
Das Leben ist längst zurück gekehrt, mit all seinen Freuden, Banalitäten und Alltagssorgen.

HIV – ist noch da, und wird es wohl, so keine Wunder geschehen, auch mein Leben lang bleiben.
Aber HIV dominiert nicht mehr mein Leben. Ist ein Teil davon, ein kleiner. Bestimmt es nicht mehr.

Im Gegenteil, in den letzten Jahren verliert es an Bedeutung, für mich, in meinem Leben, wird HIV zunehmend – unwichtiger.

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Was ich mir für die Zukunft wünsche?
Dass HIV und Aids wieder dorthin verschwinden, wo sie hingehören: in die Bedeutungslosigkeit.
Hier, und überall auf der Welt, unabhängig von Industrialisierung oder ‚Wohlstand‘.
Und dass der Weg, die Menschen die diesen Weg gegangen sind, die diesen Weg nicht überlebt ha­ben, erinnert werden.

Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.
Geschichten haben für gewöhnlich ein Ende.
Auch die Geschichte von Aids.

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Diesen Text habe ich als Gast-Beitrag für den ‚Teilzeitblogger‘ verfasst, der ihn am 14. Mai 2012 veröffentlicht hat.
Übernommen hat den Text auch thinkoutsideyourbox.

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Text 21. April 2017 von ondamaris auf 2mecs

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Nachdenkliches

Gedanken zu ‚Erkenne dich selbst‘

Erkenne dich selbst. Gnôthi seautón (Γνῶθι σεαυτόν). Einer der Kern-Gedanken griechischen Denkens.

Zurückgeführt wird ‚gnôthi seautón‚ ( Erkenne dich selbst ) als Urheber auf den griechischen Gott Apollon (Gott der sittlichen Reinheit und Mäßigung). Bekannt geworden durch das Orakel von Delphi (dort stand ‚gnôthi seautón‘ auf einer der Säulen der Vorhalle). Später im Lateinischen übernommen als ‚nosce te ipsum‚.

Erkenne dich selbst – Aufforderung zur Selbsterkenntnis, und doch so viel mehr.

Ai Weiwei ‚Know Thyself‘ (2022), De-/Rekonstruktion in Lego, nach einem an der Via Appia entdeckten Mosaik, heute Diokletianstherme

Gedanke, der mich seit frühester Zeit begleitet, zunächst ganz im persönlichen, im Entwicklungs- Sinn (die philosophische(n) Bedeutung(en), Fragen und Chancen noch gar nicht erfassen könnend). Motiv, an das ich mich erinnern kann, seit ich begann, mich als eigenes Wesen wahrzunehmen, nicht nur als ‚Klon meiner Eltern‘.

“ Erkenne dich selbst „. Sei du selbst. Kopiere nicht, eifere nicht nach. Finde heraus, was ‚du selbst sein‘ bedeutet, probiere es, dich, dein Leben aus, deine Möglichkeiten, deine Grenzen. Sei, werde. Werde Mensch.

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„In diesem Spruch ist nicht etwa die Selbsterkenntnis der Partikularität seiner Schwächen und Fehler gemeint, sondern der Mensch überhaupt soll sich selbst erkennen.“
(Hans-Georg Pott, ‚Kurze Geschichte der Europäischen Kultur‘)

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Es gibt (ganz für mich persönlich) Orte, an denen ich Aspekte dieses ‚gnôthi seauthón‘ sehr intensiv erlebe. Wie einst bei der ersten Begegnung mit dem großen steinernen Buddha im Wat Mahathat von Sukhotai. Oder immer wieder am Strand von Lacanau oder Le Porge

erkenne dich selbst

Orte, an denen ich tief zu mir finden kann, zu Momenten großer innerer Ruhe. In denen klar wird, was bedeutend ist in meinem Leben, für mich.

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Delphi liegt am Süd-Fuß des Parnass. Wohnsitz des Apollon wie auch seines ‚Widersachers‘ Dionysos
Apollon – Gott des Lichts, der Heilung, der sittlichen Reinheit, der Mäßigung. Und Gott der Weissagung. Ihm ist das Heiligtum von Delphi gewidmet.
Dionysos – Sohn des Zeus, Vater des Priapos. Gott der einfachen Leute, des Weines, der Fruchtbarkeit, des Rausches, der Exstase. Hingabe. Im Gefolge des Dionysos oft: Dämonen, die Satyrn (nicht unähnlich den römischen Faunen). Dargestellt (als Fruchtbarkeitssymbole) oft mit übergroßem Phallus (siehe Darstellungen in ‚Das ‚Geheime Kabinett‘ von Neapel‚).

In Dionys und Apoll kehren Seth und Horus wieder.
Im alt-ägyptischen Mythos von Seth und Horus steht Seth, symbolisiert durch Hoden, für Gewalt, verbunden mit Sexualität, Zeugungskraft. Ihm gegenüber steht der Lichtgott Horus als Verkörperung des Gesetzes. Seth und Horus sind Gefährten – und geraten in Streit mit einander um den ägyptischen Thron (Osiris-Mythos). Eine versuchte Versöhnung scheitert. Mit allen Mitteln versucht Seth, Horus zu besiegen. Letztlich obsiegt Horus, der Lichtgott.

Bemerkenswert: in der alt-ägyptischen Kultur wird Seth nicht etwa (wie in unserem oft schwarz-weißen, bipolar geprägten Denken zu erwarten) verteufelt und abgelehnt, ausgegrenzt. Vielmehr wird er ambivalent dargestellt, letztlich wird er integriert.

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„Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der Gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt zu schreiben.“
Michel Foucault, Archäologie des Wissens

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Rausch und Wollust. Hingabe. Mäßigung und Reinheit. Gegensätze? Versöhnen? Eine Utopie?
Rausch, Sexualität, Lust sind Bestandteile des Menschen. Versöhnbar mit Mäßigung, Schönheit, höherer Wahrheit.

Apollon und Dionysos.
Seth und Horus.
‚Gnôthi seautón‘ kann nicht verabsolutiert gelten, immer hat es den Satyr an die Seite gestellt …

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Erinnerungen Homosexualitäten

Schwusel – 1982/ 83

Seit 1981 gab es in Hamburg eine Gruppe für junge Lesben und Schwule: SCHWUSEL. Ich erinnere mich an schöne Zeiten bei Schwusel in den Jahren 1982 und 1983 – die Gruppe war eine Zeit lang einer der Mittelpunkte meines schwulen Lebens damals – von politischem Engagement bis zu Gruppentreffen, privaten Feiern und schönen Freundschaften.

Im schwulen Stadtführer Hamburg ahoi! (1. Auflage, 1981) stellt Schwusel sich u.a. folgendermaßen vor:

„Wir, Schüler, Studenten und Azubis im Alter bis ca. Mitte 20, haben uns seit Mitte 1980 zusammengefunden. Als junge Homoexuelle haben wir uns bewußt von den bestehenden Gruppen abgesetzt und als eigene Gruppe gegründet, weil wir meinen, daß unsere Situation sich von der ‚erwachsener‘ Schwuler und Lesben noch unterscheidet.“

Schwusel Aufkleber ca. 1981
Schwusel Aufkleber ca. 1981 (Dank an A.R.!)

Schwusel hatte auch eine eigene (kleine) Zeitung „SCHWUSEL – unabhängige Zeitung der schwul-lesbischen Jugend Hamburgs“ . In der erste Ausgabe 1983 wurde die Gruppe so vorgestellt:

„SCHWUSEL – aus SCHWU von SCHWUl und SEL von LESbisch – ist eine Selbsthilfegruppe schwuler und lesbischer Jugendlicher im Alter bis ca. 25 Jahre, die es seit Mai 1981 gibt. … SCHWUSEL hat im Januar 1983 ca. 50 Mitglieder. Einige von uns arbeiten im Forum Hamburger Lesben und Schwule mit.“

Koordiniert wurde Schwusel von einem ‚Kollektiv‘ (in dem ich zeitweise Mitglied war). Die Gruppe traf sich im JuZ St. Georg (Stiftstr.), später dann in den Räumen in der ersten Etage über dem ‚Tuc Tuc‘ in der Oelkersallee 5, wie auch das Titelbild der „SCHWUSEL-Zeitung Nr. 2/83“ zeigt:

Schwusel trifft sich über'm Tuc Tuc (Schwusel Nachrichten 2/1983, Grafik Martin D.)
Schwusel trifft sich über’m Tuc Tuc (Schwusel Nachrichten 2/1983, Grafik Martin D.)

Schwusel bestand vor allem auch aus zahlreichen Unter-Gruppen. So vermeldet die Schwusel-Zeitung 2/83 neben dem Kollektiv eine Coming-Out-Gruppe, eine Kennenlern-Gruppe, eine Provinz-Gruppe, die Freizeitgruppe, hinzu kam später z.B. eine Schul-Gruppe, eine Lesbengruppe, verschiedene Geprächskreise. Schwusel unterhielt zudem ein zwei Stunden pro Woche erreichbares „Schwusel Telefon“ – und war somit eine der ersten regelmäßig für junge Lesben und Schwule erreichbaren Anlaufstellen.

Eines der am leidenschaftlichsten innerhalb von Schwusel diskutierten Themen war übrigens … die Altersgrenze (ja, diese Debatte gab es ‚damals‘ auch schon …). Eigentlich war Schwusel ja für Menschen bis 25 Jahre gedacht. Je mehr sich einige Mitglieder jedoch dieser Grenze näherten, desto mehr kamen einige ins Nachdenken … und Debattieren, um die Altersgrenze.

SCHWUSEL und das Magnus-Hirschfeld-Zentrum MHC

Schwusel plante, sich auch aktiv am (damals noch in Planung befindlichen) MHC Magnus-Hirschfeld-Centrum zu beteiligen. Vertreter/innen der Gruppe nahmen an entsprechenden Gesprächen teil (hier lernte ich erstmals Hans-Georg Stümke kennen, damals einer der sehr aktiven Menschen in der UHA)  – die Mitarbeit von Schwusel im MHC scheiterte letztlich, in meiner Erinnerung vor allem daran, dass die UHA von ihrer dominierenden und allein-entscheidenden Position nicht abweichen wollte.

Die Beschäftigung mit und Auseinandersetzungen um das Magnus-Hirschfeld-Zentrum und die UHA kosteten Schwusel viel Energie – sehr zum Leidwesen einiger Mitglieder, die der Ansicht waren, diese Energien seien besser für die Gruppe eingesetzt.

Die Schwusel-Zeitung Nr. 4 vermeldet schließlich (in einem Beitrag von ‚Intervention‘ angesichts des Auszugs des Beratungs-Vereins ‚Intervention‘ aus dem MHC):

„Wieder geht eine Illusion kaputt. Zwar gibt es weiter ein schwull-lesbisches Zentrum in Hamburg, und der UHA wird es sicher auch gelingen, in Kürze das Beratungs-Angebot des MHC zu gewährleisten. Aber der Traum, in diesem Zentrum auch die verschiedenen Strömungen der Szene zu einigen, ist wohl endgültig dahin. Eher haben sich die Gräben noch weiter vertieft, hat sich die UHA noch weiter isoliert.
Und viele engagierte Menschen haben im Laufe der 1 ½ Jahre Auseinandersetzungen viel Kraft verschleudert und Mut verloren. Von der verschwendeten Kraft an unserer gemeinsamen Sache selbst mal ganz zu schweigen.“

Willi Klinker, damals UHA, zog im gleichen Heft Bilanz:

„Der Sinn und Zweck des MHC ist es, sozusagen ein Forum für alle denkbaren schwulen, lesbischen und sexualpolitischen Aktivitäten zu sein. …
Klar gibt es Unterschiede in der Arbeitsweise zwischen der UHA und anderen Gruppen; dazu gehören auch Mentalitäts- und Stilunterschiede. Die UHA hat in ihrer Arbeit das Hauptaugenmerk auf dem „G.H.“, wie Bea T[…] vor kurzem ironisch formulierte – auf dem gewöhnlichen Homosexuellen.“

Vielleicht waren wir, waren einge Hamburger Lesben und Schwule, damals einfach „nicht gewöhnlich genug“ …

Das MHC, die UHA und die anderen Hamburger Lesben- und Schwulengruppen – es war eine leidige Geschichte, aber auch eine, die Erfahrungen lehrte.
Froh war ich einige Jahre später, dass es in Köln gelang, das dortige neu entstehende Schwulen- und Lesbenzentrum SchULZ um einen Trägerverein (‚Emanzipation e.V.) herum entstehen zu lassen, in dem nahezu alle damals in Köln aktiven Schwulen- und Lesbengruppen und -strömugen vertreten waren.

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Nachdenkliches

Dämonen am Kiosk – ein nicht veröffentlichter Post

Ein Blick am Kiosk wühlte mich sehr auf. Erschrecken, Erinnerungen, und viele Fragen.

Gedanken sortierten sich, immer wieder neu. Worte fanden zusammen, und passten doch nicht. Textfetzen entstanden in Gedanken, auf Papier, im Rechner. Und fanden doch nicht zu einander.

Unaussprechliches. Unfassbares. Mangelnde persönliche, emotionale Distanz verhindert Schreiben. Gedanken zu inneren Dämonen, und Chancen und Risiken, sich ihnen zu nähern – sie scheitern derzeit.

Unfassbares bleibt ungenügend durchdacht. Gedachtes bleibt ungeschrieben. Geschriebenes bleibt unveröffentlicht.

Deswegen bliebt dies ein Post über einen unveröffentlichten Post.

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Erinnerungen Paris

1989 / 90: Einige Tage mit dir – Jean-Philippe

Im Frühsommer 1989 lernte ich Jean-Philippe kennen. Einen der Menschen, die ich liebe. Im Herbst 1990 starb Jean-Philippe in Paris an den Folgen von Aids. Dazwischen liegen viele intensive Erlebnisse mit- und füreinander. Über einige, einen kleinen Ausschnitt, erzähle ich in der kleinen Mini-Serie „Einige Tage mit dir“.

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Einige Tage mit dir – die Mini-Serie:

1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?

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Zwei Nachbemerkungen:
1. Über Jean-Philippe und unsere gemeinsame Zeit habe ich viel geschrieben, seit Jahren. Privat, rein für mich. Viele Seiten sind gefüllt, viele Gefühle und Erinnerungen versucht festzuhalten. Viele Bilder im Kopf versucht in Worte zu fassen. Nur einige wenige sehr enge Freunde und Bekannte kennen den gesamten Text. Nun, das wurde mir im Dezember 2011 klar, ist es für mich an der Zeit, zumindest einen kurzen Auszug zu erzählen.

2. Den Titel der Mini-Serie „Einige Tage mit dir“ habe ich entliehen in Annäherung an den wunderbaren Film (1988) von Claude Sautet „Quelques jours avec moi“ (Einige Tage mit mir) mit Daniel Auteuil und Sandrine Bonnaire.

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Erinnerungen Paris

Einige Tage mit dir – 7. Wo bin ich?

„Hey.“
Ich fühle eine Hand auf meiner Schulter. Einen Arm, der sich um mich legt.
„Hey.“
Irgendjemand wischt mir Tränen aus dem Gesicht. Erschöpfte leh­ne ich mich an ihn. Weine. Eine Hand legt sich auf meinen Kopf.
„Ich weiß.“

Er rüttelt mich.
„Hey.“
Wieder rüttelt er mich. Wo bin ich? Leicht schlägt er mir mit der Hand auf die Wan­ge. Ich reibe mir die Augen. Blicke in die Augen von Sylvain, einem der besten Freunde Jean-Philippes. Ich verstehe nicht. Wo bin ich? Was ist hier los?
„Hey, wir müssen langsam los.“
Los, wohin? Ich schaue mich um. Steine, überall Steine. Da hinten, die Treppe, die Kuppel. Langsam erinnere ich mich. Die Halle, diese Halle. Wir sitzen auf den Stufen des Columbariums. Keine Ahnung, wie spät es ist.

„Hey, Ulli. Wir haben dich alle gesucht. Was machst du denn.“
Ich muss lange hier gesessen haben. Versuche zu sprechen. Mehr als gurrendes Ge­stotter, sinnlose Laute, will nicht aus meinem Mund kommen.
„Ich weiß. Ich weiß“, höre ich Sylvain auf mein Gestammel antworten. „Ich weiß.“
Er streicht mit seiner Hand durch mein Haar. „Ich weiß. Mir geht es ja ähnlich wie dir.“
Ich sehe ihn an. Wortfetzen fallen aus meinem Mund, aber ich weiß nicht welche.
„Ich weiß“, höre ich im­mer wieder.
Wie beruhigend plötzlich Sylvains Stimme auf mich wirkt, wie warm sein Arm auf meiner Schulter, wie vertraut, obwohl wir uns nie sehr nahe waren. Er fasst mich, zieht mich hoch. Ohne Gegenwehr, wie willenlos folge ich seiner Bewegung.
„Wir müssen jetzt los. Die anderen sind schon vor einiger Zeit gefahren. Dominique und ich haben noch weiter hier nach dir gesucht.“ Ich sehe ihn auf die Uhr blicken.

~

Irgendwann Stunden zuvor.
Frühmorgens fährt der Zug in den Gare du Nord ein. Da drüben, in dem Café habe ich gesessen, als ich zu früh morgens ankam, damals, als ich Jean-Philippe zum ersten Mal in der Klinik besucht habe. Damals. Wie weit entfernt das klingt, dabei sind seitdem nur Monate vergangen. Ein verdammt trostloser, sorgen­voller Morgen damals. Nichts gegen das, was mir jetzt wohl bevor steht. Keine Idee was mich erwartet. Gefühl ich will das alles nicht. Möchte abhauen, flie­hen, mit dem nächsten Zug zurück. Oder besser noch, zwei drei Bier und dann ab in die nächste Sauna, mir alle Sinne aus dem Leib ficken lassen. Kann man Situationen, Momente ungeschehen machen? Klar nein, und doch wünschte ich mir nichts mehr als diese Si­tuation, diesen beschissenen Tag einfach aus der Realität tilgen zu können. Ich will nicht hier sein, ich will nicht erleben was gleich geschieht, ich will nicht dass es ge­schieht. Ich will nicht. Ich kann nicht.

Manisch schleppen mich meine Beine gen Metro-Station. ‚Du kannst jetzt nicht knei­fen, jetzt nicht! Das bist du Jean-Philippe schuldig, das zumindest!‘, sagt eine Stimme in mir. Eine Stimme, die irgendwie die Oberhand gewinnt, mich steuert, mich in die Metro setzt, in irgendeinen Zug, mit irgendwelchen Leuten, igendwelchen Gesichtern Stimmen Launen. Irgendwann lässt die Stimme mich aussteigen machen.

Unverfrorenerweise scheint die Sonne an diesem Tag. Ungläubig tappse ich aus dem Dunkel der U-Bahn-Station, blinzele. Sonne, das ist einfach unmöglich. Die größte Frechheit. Wie kann an diesem Tag die Sonne scheinen? Deine Son­ne? Oder bist du das? Bist du schon da oben, in der Sonne, schaust zu, was wir hier Absonderliches treiben?

Die Trauerhalle ist nicht zu übersehen. Vor Jahren bin ich auf dem ‚Père Lachâise‘ mit Frank spazieren gegangen, geschlen­dert auf der Suche nach den Gräbern von Jimmy Morrison, Edith Piaf und Co. Heute weiß ich nicht was ich hier will, was ich hier soll, und bin doch nur zu dem einen Zweck hier. Zwei drei Leute nicken mir zu. Ich fliehe schnell in die Trauer­halle. Jetzt bloß nicht mit irgend jemandem reden müssen.
Dunkel, warm, seltsam feucht-moderig ist die Halle. Und viel größer als erwartet. Manche Stadt hat sowas nicht als Theater, geht es mir durch den Kopf. Eine Art Büh­ne vorne, Blumenschmuck, ein Pult für einen Redner. Reihen von Stühlen. Vorne sehe ich Syriac mit einigen Freunden. Er bemerkt mich nicht. Hinten, dort ist ein Bal­kon, beinahe wie in einem dieser alten französischen Kinosäle. Ich ver­krieche mich dort, in einer der oberen Reihen. Erst jetzt sehe ich mitten auf der Bühne, ein wenig im Hintergrund, den Sarg, in dem du jetzt liegst. Will dir nahe sein, und doch so weit weg wie irgend möglich von dem, was hier geschieht. Kaum jemand sitzt hier oben, unten hingegen drängen sich langsam Menschen in die Reihen. Annie sitzt ganz vor­ne, neben Syriac, bei ihr Jean-Philippes klei­ner Bruder. Immer mehr Menschen kom­men. Was wollen die hier, kannten die alle Jean-Philippe? Könnt ich mich nur irgend­wo allein verkriechen.

Ein Gong, fast wie aus dem Off eines großen alten Kinos. Nein, kein Vorhang öffnet sich, kein Film. Ein orange gekleideter Mensch den ich nicht kenne ist auf die Bühne gegangen, hat wortlos einen kleinen messingfarbenen Gong geschlagen. Stille. Musik vom Band. Irgend­wann reden irgendwelche Menschen in fremder Sprache salbungs­volle Worte, die ich kaum verstehe. Dicke Nebelschwaden ziehen vor meinen Ver­stand, dunkel schwant mir noch, dass das hier eine Trauerfeier nach dem Ritus des buddhistischen Ordens sein wird, dem du dich zuletzt so nahe fühltest. Die Ne­ben werden dicker, dunkler, dräuender. Nacht, ich versinke in tiefschwarzer beängstigen­der Nacht. Nichts mehr, nicht einmal Gedanken. Nur solch ein seltsa­mer, Ekel erre­gender Geruch. Und Leere, kalte schwarze Leere. Wie festgeklebt sitze ich hier, auf immer gefangen in dieser schwarzen klebrigen Leere. Kein Wille kann meinen Augen Ohren Beinen Befehl geben sich abzuwenden. Wie schwarz-grauer Schleim dringt kalte klebrige Leere überall hin, verklebt Augen Ohren Hände.

Irgendwie dringt durch all das gewaltige Nichts ein seltsames Gongen an mein Ohr. Noch einmal. Ein wenig lichten sich die grauen Nebelschwaden. Ich sehe Menschen dort unten zurück zu ihren Plätzen gehen, die letzten werfen gerade ein Räucherstäb­chen in eine bereit gestellte Schale auf der Bühne. Noch ein Gong. Wie in einem schlechten Film senkt sich plötzlich langsam der Sarg ab. Verschwindet irgendwo in den Tiefen der Bühne. Fremdartige Musik füllt die schwarze Stille. Einer der Orange­gewandeten beginnt noch fremdartiger klingende Mantras zu beten. Riten. Meditatio­nen. Ich versinke tief im ewigen schwarzen Schlund.

Wieder so ein seltsamer Gong. Wie viel Zeit ist vergangen? Bin ich immer noch hier? Ein kleines, schwarz gekleidetes Männchen kommt rechts neben der Bühne aus dem Vorhang getreten. Geht hinunter, zur ersten Reihe. Sieht sich kurz ratlos um, bis Sy­riac aufsteht. Einen seltsamen Karton entgegen nimmt, den ihm der Mann reicht.

Ich sehe Menschen dort unten aufstehen, dem Ausgang zustreben. Das Licht auf der Bühne wird gelöscht. Irgendwie folge ich dieser Herde. Die Treppe hinunter, raus, nur raus hier, hämmert es in meinem Kopf. Wie betäubt trotte ich dem Ausgang ent­gegen. Kein Laut. Keine Stimme. Kein Ge­räusch. Unendliche Kälte. Mit wird schwindelig. Filmriss.

~

Dominique lenkt den Wagen durch den dichten Pariser Verkehr. Ich blicke durch die Scheiben, sehe nichts was Sinn macht. Dichte milchig-weiße Nebelschwaden hängen tief in mei­nem Kopf. Irgendwann stolpere ich hinter Dominique und Sylvain aus dem Fahr­stuhl. 13. Etage, 19. Arrondissement.

„Da bist du ja endlich, wir haben uns schon Sorgen gemacht.“ Liebevoll nimmt Sy­riac mich lange in den Arm, gibt mir einen Kuss. Jean-Philippe steht in seiner Urne auf der Fensterbank, neben der Balkontür. Umrahmt von zwei Blumenarrangements. Die Sonne scheint. Auf dem Boden liegt der Pappkarton.

Etwa 20 Gäste mögen da sein, ich erkenne Annie, die zu mir herüber nickt, ih­ren klei­neren Sohn im Arm. Syriac drückt mir einen Teller in die Hand. „Hier, du musst jetzt was essen.“ Er sieht mich bestimmt an. Wie ferngesteuert greife ich nach irgendwel­chen Dingen, die da auf Tabletts auf dem Tisch liegen. Der zähe klebrige Alptraum geht wei­ter. Ich verkrieche mich in eine Ecke, hinten in dem Zimmer, das so oft in den letzten Monaten mein Zimmer gewesen ist. Nein, auch hier mag ich jetzt nicht sein. Verkriechen. Alleinsein. Nur weg hier.

„Entschuldige bitte, aber ich möch­te jetzt lieber allein sein. Und langsam muss ich ja auch zurück nach Köln, mein Zug …“.
Immerhin, mein Verstand funktioniert scheinbar wieder so weit, dass ich mich in sinnvollen Worten ausdrücken kann.
„Ich weiß.“
Syriac sieht mich liebevoll an.
„Sylvain fährt dich. Damit du auch wirk­lich am Bahnhof ankommst.“
Wir geben uns Küsse auf die Wangen, nehmen uns so intensiv in den Arm als würden wir uns auf immer voneinander verabschieden.
„Pass auf dich auf. Und – danke nochmal für alles!“
„Gerne“, kann ich noch antworten, bevor sich die Fahr­stuhltür schließt.

Eine unsichtbare Regie übernimmt wieder. Tiefgarage Wagen Bahnhof Zug. Fremde Menschen Bewegung Trostlosigkeit Leere. Irgendwann komme ich in unserer Woh­nung in Köln wieder zu mir.

~

Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?

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Erinnerungen Paris

Einige Tage mit dir – 6. Le Vaudeville

September 1990. Auf dem Rückweg aus dem Urlaub an Frankreichs Stränden verbringen wir wieder einige Tage bei Jean-Philippe und Syriac. Heute ist unser letzter Tag in Paris, morgen geht es zurück nach Köln. Spazieren gehen in der Stadt, dann mit Frank in die Sauna, in die ‚Conti‘, die ‚Continental Opéra‘. Noch ein wenig Spaß, bevor bald wieder die Arbeit losgeht.

Nachmittags rufe ich Jean-Philippe aus der Sauna an. Schon nach einigen Sätzen gibt er an Syriac weiter. Zu müde, er will noch schlafen. Ich solle mit Syriac absprechen, wann und wo wir uns heute Abend treffen.
Der ist gut gelaunt und aufgeweckt wie fast immer. Er habe da eine Idee, eine schöne Brasserie, le­ckeres Essen. Ob uns das recht sei? Frank nickt, als ich ihm kurz erzähle. Brasserie, ja, das klingt gut. Brasserien haben meist gutes Essen, sind dabei aber einfacher eingerichtet und preisgünstig. Ich notiere mir den Namen, Adresse und Wegbeschreibung. Di­rekt gegenüber der Börse, es sei kaum zu verfehlen. Um 8 Uhr könn­ten wir uns ja dort vor dem Eingang treffen.

Zwei oder drei Stunden später. Von der ‚Conti‘ ist es nicht all zu weit bis zur Börse, wir haben noch Zeit, gehen zu Fuß. Dennoch werden wir wohl zu früh da sein, und überhaupt, pünktlich werden Jean-Philippe und Syriac vermutlich eh‘ nicht sein.

Gut gelaunt verlassen wir die Sauna, stromern langsam durch die Straßen, grob Rich­tung Börse. Statt leidlich bürgerlich zu bleiben wie um die Sauna herum, zeigen die Nebenstraßen, Autos, die wenigen Fußgänger immer mehr distinguierte Vornehmheit, je näher wir der Börse kommen. ‚Kannst du dir vorstellen, dass hier eine günstige Brasserie sein soll?‘, fragt Frank unterwegs ein wenig irritiert. Nein, eigentlich nicht, dazu sieht es in diesem Viertel doch zu chic aus.

Etwas zu früh kommen wir dort an, wo die Brasserie sein müsste. Die Szenerie mutet uns ein wenig bizarr an. Immerhin, wir haben doch Spätsommer, was machen all die wohlgekleideten Damen im Pelz hier? Und dazu dicke Limousinen, aus denen gern Herren im zurückhaltend modernen Anzug steigen. Man zeigt sich, grüßt und wird be­grüßt. Nein, irgendwie müssen wir uns verlaufen haben, das hier kann nicht die Brasserie sein, und das hier ist definitiv nicht unsere Welt.

Nur seltsam, dass dieses große luxuriöse Restaurant doch den gleichen Titel trägt, ‚Le Vaudeville‘. Vorne am Eingang, die Tür wird von einem Ober geöffnet, dahinter wird den Gästen die Garderobe abgenommen. Irgendwas läuft hier seltsam. Sollten wir hier doch richtig sein? Aber dann hätte Syriac doch sicher vorher etwas gesagt. Schließlich, Frank in seiner zerrissenen Jeans, wir beide nur mit T-Shirt und Jacke, alles nach dem Urlaub nicht gerade frisch und sauber – hier sind wir deplaziert, hier kommen wir nicht einmal am Entrée vorbei.

Jean Béraud: Le boulevard des Capucines et le théâtre du Vaudeville (1889)
Jean Béraud: Le boulevard des Capucines et le théâtre du Vaudeville (1889)

Schon steuert grinsend Syriac auf uns zu, „ach wie schön, ihr seid ja pünktlich da! Jean-Philippe kommt gleich, ist so schwierig hier einen Parkplatz zu finden.“
Erstaunt sehen Frank und ich erst einander, dann Syriac an. Wir sind hier doch rich­tig? Wie soll das gehen, in den Klamotten, und, nebenbei, mit der Geldbörse? Das hier dürfte schließlich nicht unsere Preisklasse sein. Doch Syriac ignoriert unseren irritierten Blick, steuert zielsicher auf den Eingang zu, „wir gehen schon mal rein“, sagt er mehr als dass er fragt, ist schon am Entree.
Wie belämmert folgen Frank und ich. Was mag nun ge­schehen, zwei Jeans-Boys aus Deutschland neben all den aufgehübschten edlen Pelz­trägerinnen?

„Sie haben reserviert? Ah ja, ich sehe, Ja Monsieur E., 5 Personen. Leider, ich bitte das vielmals zu entschuldigen, Ihr Tisch ist noch nicht frei. Vielleicht möch­ten Sie und Ihre Gäste schon einmal Ihre Garderobe ablegen? Und wegen der Unan­nehmlichkeit des Wartens, darf ich Sie auf Kosten des Hauses auf ein Glas Champa­gner einladen?“
So kann ein Restaurant-Besuch auch beginnen, nun sind wir erst recht irritiert. Unsere arg unpassende Kleidung völlig ignorierend, werden wir wie selbstverständlich mit einer versnobt-gelassenenen Aufmerksamkeit und Höflich­keit behandelt, die mir in Deutschland kaum bisher begegnet ist.

Endlich, als gerade die Champagnergläser zum ChinChin klirren, kommt auch Jean-Philippe. Ein wenig mürrisch dreinschauend, „ich musste dreimal um den Block fah­ren, c’est un bordel, kein Parkplatz zu finden hier!“. Schließlich doch ein Lächeln, er nimmt mich in den Arm, küsst mich, schaut mir in die Augen wie lange nicht mehr. „Tisch noch nicht frei?“
Ein wenig Plauderei, bald ist unser Tisch frei, wir werden platziert. Frank hat unter­dessen schon die Speisekarte studiert, kommt mit einem „oh, ich weiß schon was ich essen werde“ freudig strahlend zurück. Ich kenne diesen Blick, dieses „ich weiss schon“, das bedeutet „Schatz, ich möchte die Austern“. Verstohlen fragt er mich „Schatz, du hast doch deine Kreditkarte mit?“ Ich nicke unauffällig und denke sor­genvoll an unseren Kontostand.

Wir haben längst gewählt, nein, besser, wir haben weitgehend Syriac für uns ent­scheiden lasse, bis auf Frank, der unbedingt ‚überbackene Austern an Spinat mit Champagner‘ probieren möchte.
Jean-Philippe kann sich nicht entscheiden, ist nörgelig, „was soll ich denn nehmen, groß ist die Auswahl hier ja nicht …“. Dies schmeckt ihm nicht, jenes bekommt ihm nicht. Spannung liegt in der Luft, aus flüchtigen Bemerkungen zwischen den beiden schließe ich, dass es auf der Fahrt hierher wieder einmal Streit gegeben haben muss.

Syriac ist wie fast immer ein guter Gastgeber, wir haben einen amüsanten Abend, ein­zig beeinträchtigt von einem zunehmend zickiger werdenden Jean-Philippe. Bald ha­ben wir unser anfängliches Gefühl von Irritation, Deplaziertheit angesichts Ort und Publikum völlig vergessen, fühlen uns wohl und fast ein wenig zu hause, so locker und ungezwungen ist die Atmosphäre. Das da drüben, zwei Tische weiter, sei der be­kannte Rennfahrer, streut Syriac nebenbei in die Unterhaltung ein. Der sei auch nur hier, weil die Austern so gut seien. Was wir, überbacken oder roh, nun nicht bestreiten können.
Jean-Philippe beteiligt sich nur wenig an der Unterhaltung. Ich bemerke, wie er sich immer weiter in sich zurück zieht. Zu gern möchte ich neben ihm sitzen, ihn in den Arm nehmen. Allein, in dieser Konstellation, an diesem Ort, unmöglich. Ich versuche ihm mit Blicken Wärme zu geben.

Die Stimmung zwischen ihm und Syriac kocht unterdessen langsam aber stetig hoch, zunehmend verzickt und abweisend reagiert Jean-Philippe auf jeglichen noch so lie­benswerten Versuch Syriacs, die Situation, nein seine Laune ins Bessere zu wenden.
Als die Situation zu eskalieren droht, herrscht Syriac in leise aber deutlich an. „Nun reiß dich bitte zusammen, es ist doch der letzte Tag“, er blickt Jean-Philippe in selten gesehener Strenge an. Ja, schade dass der letzte Abend unseres Urlaubs, der Besuch in diesem für uns au­ßerordentlichen Restaurant etwas anstrengend verläuft, Jean-Philippe so gar nicht entspannt ist. Nun denn, ich kenne ihn ja, so ist er halt manchmal,.
Unvermittelt steht Jean-Philippe auf, ruhig und beherrscht, aber sichtlich er­schöpft und genervt. „Ich fahr schon mal nach hause. Nehmt ihr euch nachher ein Taxi?“
Syriac nickt, ein flüchtiger Kuss, ein „ciao Jungs, wir sehen uns morgen früh noch?“, schon ist Jean-Philippe verschwunden.

Der Abend geht locker und deutlich entspannter weiter, Syriac bleibt gut aufgelegt als wäre nichts geschehen. Irgendwann weit nach dem Dessert kommt dezent auf seine Frage ein Tellerchen mit der Rechnung, die er fast unbemerkt mit der Karte begleicht. Kein Protest hilft, nicht einmal die Summe mag er verraten, nein, wir seien eingeladen, dies sei doch der letzte Urlaubstag, das müsse man feiern. Immerhin, auf ein Glas im ‚Piano Zinc‚, einer unserer gemeinsamen Lieblingsbars dürfen wir ihn hinterher noch einladen.
Spät nachts kommen wir heim; Jean-Philippe schläft längst. Was für ein schöner, überraschender Abend. Ein Abend, an den wir wohl noch lange denken werden. Müde und mit dem Gefühl ’schade dass wir morgen fahren müssen‘ schlafen Frank und ich ein.

Am nächsten Morgen, nicht zu spät aufstehen, schließlich wollen wir am Nachmittag zurück in Köln sein. Gegen 10 Uhr, die Taschen sind schon gepackt, frühstücken wir gemeinsam. Jean-Philippe sieht eingefallen und müde aus. Ich frage nicht nach, auch nicht nach dem Streit gestern Abend. Syriac ist munter und gut gelaunt wie fast im­mer, Jean-Philippe zwar noch ein wenig knurrend aber doch besserer Stimmung als am Vorabend. Außer einem ‚habt ihr gut geschlafen‘ erwähnt auch er den Abend und sein frühzeitiges Verschwinden mit keinem Wort.
Kurz vor 12 verabschieden wir uns. Ein herzliches in den Arm Nehmen, ein von ei­nem Zwinkern begleitetes ‚Danke für den schönen Abend‘, ein Kuss zum Abschied.
„Ich bin sehr erschöpft, seid mir bitte nicht böse, wenn ich nicht mit hinunter kom­men. Ich bin sehr müde, möchte mich noch etwas hinlegen.“
Wir nehmen uns noch einmal in die Arme, „bis bald, mein Lieber“ – „Pass auf dich auf“ – „Ruft an, wenn ihr in Köln angekom­men seid, ja?“.
Immer wieder berührt es mich, ihn sagen zu hören ‚Pass auf dich auf‘. Ein letz­ter Kuss, wir müssen los, müssen beide morgen schon wieder arbeiten.

Syriac begleitet uns im Lift in die Tiefgarage, hilft uns beim Einladen. Öffnet das Tor, ein letzter Kuss auf die Wangen.
Oben an der Aus­fahrt, im Hintergrund ist schon das große PCF-Gebäude an der ‚Place Colonel Fabien‘ zu sehen. Wir blicken noch einmal zurück, sehen Jean-Philippe win­kend auf dem Balkon stehen. Winken zurück, ich sehe wie er ‚danke‘ gestikuliert, werfe ihm einen Kuss zu. Dann mal los, Richtung Auto­bahn.

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Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?