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Präsidentschaftswahl USA 6.11.2012 – Obama oder Romney? Und Homo-Ehe ja oder nein? ein nächtlicher Live-Ticker

Präsidentschaftswahl USA 6.11.2012 – ein nächtlicher Live Blog

08.11., 12:15: Weiterhin keine endgültige Klarheit in Washington in Sachen Homo-Ehe: zwar verkünden manche (auf Basis einer Meldung der Befürworter-Kampagnen-Organisatoren) bereits, ‚Referendum 74‘ sei angenommen. Ausgezählt sind jedoch erst 57% der Wahlbezirke, bei denen insgesamt die Ja-Stimmen 52% ausmachen.

16:05: Sean Maloney wird das erste offen schwule Mitglied des US-Kongresses aus New York.

15:55: In Kalifornien liegt der offen schwule Politiker Mark Takano (Demokraten) liegt aussichtsreich in Führung im Kampf um den Sitz des Districts 41 Riverside County. Er wäre das erste offen schwule farbige Mitglied des US-Kongresses.

15:00: Die ‚National Organization for Marriage‘ NOM in den USA schweigt bisher zu den für Schwule und Lesben sehr erfolgreichen Ergebnissen in Sachen Homo-Ehe, bemerken US-Aktivisten mit Ironie.Die 2007 für die Abstimmung über ‚Proposition 8‘ (Homo-Ehe) in Kalifornien gegründete politische Organisation und ihre Unter-Organisationen in einzelnen Bundesstaaten kämpften seitdem USA-weit gegen die Homo-Ehe und das Adoptionsrecht für Lesben und Schwule. Immer wieder werden Vermutungen geäußert, NOM stehe in enger Verbindung mit den US- Mormonen (der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (Church of Jesus Christ of the Latter Day Saints – LDS church), der auch Obama-Herausforderer Romney angehört).
18:15: Inzwischen hat die NOM eine Stellungnahme veröffentlicht. Sie fühle sich in ihrem Kampf für die „traditionelle Ehe“ nicht geschlagen, so die konservative Organisation.

14:51: Der Bürgermeister von Minneapolis R.T. Rybak begrüsset das Ergebnis von Minnessota (die Ehe nicht per Verfassung auf die Verbindung zwischen Mann und Frau zu begrnezen) mit den Worten, die Bürger hätten mit und für Liebe gekämpft, nun würde Minnessota zeigen, für welche Werte es stehe: „You dug down and fought for love, with love. You understood compassion. This wound up being one of the most inspirational things that’s ever happened in Minnesota. Minnesota is going to be the state that’s going to show the country exactly what Minnesota values are all about.“

14:45: Das Ergebnis für Washington (‚Referendum 74‘, das seit längerem bei 51% Auszählung verharrt) wird vermutlich noch einige Tage auf sich warten lassen. Grund: das Briefwahl-System. Die Verkündung der Antwort auf die Frage „soll die gleichgeschlechtliche Ehe in Washington legalisiert werden?“ wird also noch brauchen …

10:35: Nachzutragten, nach einigen Stunden Schlaf:
In Minnessota stimmten die Wähler auf die Frage, ob die Ehe laut Verfassung auf Mann und Frau beschränkt werden sollte, mehrheitlich mit nein – die Homo-Ehe wird möglich.
Für Washington liegt noch kein Endergebnis vor, nach Auszählung von 51% stimmten 52% für die Homo-Ehe.
Richard Tisei hat es nicht geschafft – er verlor gegen John F. Tierney, der seinen Sitz verteidigte. Tisei wäre im Fall seiner Wahl der erste Abgeordnete der Republikaner gewesen, der als offen schwuler Politiker ins House gewählt worden wäre.

Matthew Breen, Herausgeber des ‚Advocate‘, kommentiert die Wahlnacht in den USA als „große schwule historische Nacht“. Sich für gleiche Rechte für Schwule und Lesben einzusetzen stelle nun als Politiker/in kein Risiko mehr da, dies zeige die Wahl deutlich.

07:25: Für die Rechte von Schwulen und Lesben in den USA könnte der 6. November 2012 ein bedeutender Wahltag gewesen sein: zwei Bundesstaaten haben sich für de Einführung de Homo-Ehe ausgesprochen, bei zwei weiteren ist das Ergebnis noch offen (bei beiden mit Hoffnungen). Und zahlreiche offen schwule, lesbische, bisexuelle Männer und Frauen wurden in politische Ämter, insbes. auch in Kongress und Repräsentantenhaus gewählt.

Ulli tired now, go to bed. Back in 3 hours …

07:20: Zwischenstände Minnessota bei 60% Auszählung nahezu Gleichstand – 49% für Verfassungsänderung zum Verbot der Homo-Ehe, 49% dagegen.
Washington bei 50% Auszählung 62% für Homo-Ehe.

06:52: Nun doch (hoffentlich endgültig): Tammy Baldwin hat’s geschafft, wird erste offen lesbische Senatorin.

06:43: Erstmals konnte in zwei Bundesstaaten die Legalisierung von Marihuana durchgesetzt werden (für die sich auch Aids-Aktivisten einsetzten), in Washington und Colorado, meldet queer.de.

06:28: Der US-Bundesstaat Maryland wird die Homo-Ehe einführen (Zustimmung 52% bei 93% Auszählung).

06:26: Der offen schwule Sean Patrick Maloney (Demokraten) wurde in den Kongress gewählt.

06:14: Marsha Blackburn wurde in Tennessee wieder in den Kongress gewählt. Sie ist bekannt für schwulenfeindliche Positionen. Sie war maßgeblich beteiligt an den schwulenfeindlichen Positionen im Wahlprogramm der Republikaner.

06:08: Maine wird der erste US-Bundesstaat werden, in dem die Bevölkerung in einer Abstimmung die Homo-Ehe durchsetzt, nachdem 2009 ein Referendum knapp verloren wurde.

06:03: Der offen schwule Sean Patrick, zu Zeiten der Clinton-Regierung Mitarbeiter im Weißen Haus, hat sich gegen einen Vertreter der ‚Tea Party Bewegung‘ durchgesetzt.

06:01: Washington: Nach Auszählung von 50% der Stimmbezirke 52% für Inkrafttreten eines (bereits früher in diesem Jahr verabschiedeten) Gesetzes, das Homo-Ehe zulässt.

05:50: Maryland: Nach Auszählung von 84% meldet die HuffPost eine Zustimmung von 52% zur Homo-Ehe.
Main: bei 39% Auszählung ebenfalls Ja 52%
Minnessota bei 36% Auszählung 49% Ablehung der Begrenzung der Ehe auf Mann/Frau (bei 46% Zustimmung).

05:45: Seit 5 Minuten ist das Empire Satte Buildung blau beleuchtet – Zeichen des Siegs Obamas.

05:39: Linda Lingle wurde auf Hawaii nicht gewählt. Sie verliert ihren Sitz im Senat, gewählt wurde Mazie Hirono. Lingle hatte u.a. die Homo-Ehe mit Inzest verglichen. Hirono befürwortet die Homo-Ehe. Hirono unterstützte schuwlen- und lesbenpolitische Forderungen.

05:37: In Maryland wird es enger – nur noch 50,9% für Öffnung der Ee für Schwule und Lesben nach Auszählung von 592 von 1.851 Wahlbezirken.

05:35: Hat Tammy Baldwin es doch nicht geschafft? Nach Auszählung von 53% der Stimmen kommt sie nur auf 49% – ein Sieg ist immer noch unsicher, bisherige Sieg-Meldungen verfrüht.

05:32: „I know that I will someday be able to get married“ (ein Tweet kurz nach der Wahlsieg-Nachricht) – unter vielen us-amerikanischen Schwulen und Lesben ist die Freude groß über Obamas Wahlsieg. Obama hatte sich für die Öffnung der Ehe auch für Schwule und Lesben ausgesprochen.

05:24: In North Carolina wurde Virginia Foxx zum 5. Mal wiedergewählt. Foxx ist für schwulenfeindliche Bemerkungen berüchtigt, u.a. behauptete sie, die Ermordung von Matthew Shepard sei kein Hassverbechen gewesen: „The hate-crimes bill that’s called the Matthew Shepard bill is named after a very unfortunate incident that happened where a young man was killed, but we know that that young man was killed in the commitment of a robbery. It wasn’t because he was gay. … It’s really a hoax that that continues to be used as an excuse for passing these bills.“
Die Ermordung des Studenten Matthew Sheppard am 12. Oktober 1998 aufgrund seiner Homosexualität erregte großes Aufsehen; nach Sheppard wurde das Ende 2009 in Kraft getretene Gesetz gegen Hassverbrechen ‚Matthew Shepard and James Byrd, Jr. Hate Crimes Prevention Act‘ benannt.

05:16: CBS und NBC rufen Obama zum Wahlsieger aus – er habe auch Ohio gewonnen.

05:15: Die Stimmung in Chicago wird immer besser.

05:02: In Wisconsin ist mit Mark Pocan der zweite offen schwule Kongressabgeordnete gewählt.

04:41: Mit bisher 20 Millionen Tweets ist der Wahltag 2012 soeben das am meisten bei Twitter erwähnte politische Ereignis der USA geworden.

04:37: Gute Nachrichten (Zwischenergebnis!) in Sachen Homo-Ehe auch aus Minnesota: bisher 57% gegen einen Bann der Homo-Ehe (Festlegung der Ehe als zwischen Mann und Frau).

04:27: Claire McCaskill gewinnt vorläufigen Daten zufolge die Wahl um den Senats-Sitz in Missouri. Damit unterliegt der Republikaner Todd Akin, der im August u.a. von „legitimate rape“ (‚legitimen Vergewaltigungen‘; Video) gesprochen hatte (und sich auch gegen Forderungen von Lesben und Schwulen positioniert hatte).

04:22: Zwischenstand: Homo-Ehe-Abstimmungen
Maine 52,34% ja nach Auszählung 86 von 578 Bezirke
Maryland 52,6% ja nach Auszählung 83 von 1.851 Wahlbezirke

04:19: Nun doch: Tammy Baldwin hat’s geschafft und wird erstes offen lesbisches Mitglied des US- Senats.

04:15: Joe Saunders, offen schwuler Politiker der Demokraten, in Florida in Repräsentantenhaus gewählt.

04:11: Abtreibungsgegner unterliegen in Florida: In Florida wurde Amendment 6 „to say no public funds for abortions (in all cases)“ abgelehnt.

04:02: Alle ‚umkämpften Staaten‘ (battleground states) neigen sich zu Obama, meldet CBS.

03:57: „Hier kennt man ihre Zahlen [Phoenix überträgt den simultanübersetzen CBS-Stream] noch nicht, hier liegen nur die Zahlen des ZDF vor.“ Phoenix-Schalte von der ZDF-Wahlparty in Berlin

03:37: Alan Grayson ist wieder Kongress-Abgeordneter. 2010 war er von einem Republikaner geschlagen worden. Er trat u.a. ein für eine Verschärfung der Maßnahmen gegen antischwule Hassverbrechen und gilt laut JMG als „one of the most progressive members of the House“.

03:35: „Bananenstaat USA: Spielmaschinen in Las Vegas sind mehr reguliert und kontrolliert als Wahlcomputer„, sagt netzpolitik.org.

03:24: Tammy Baldwin (Demokraten) hat es laut AP und anderen Medien geschafft und wird erstes offen lesbisches Mitglied des US- Senats. Anderen Meldungen zufolge führt sie derzeit in den Auszählungen, diese sind aber noch nicht abgeschlossen.

03:14: In Connecticut gewinnt der Demokrat Chris Murphy die Wahl um den Senats-Sitz. Linda McMahon von den Republikanern verlor – sie war die einzige Politikerin der Republikaner im Senat, die von der Haltung ihrer Partei abwich und ankündigte, für die Aufhebung des DOMA Defense of Marriage Act zu stimmen.

03:11: Unterdessen, off topic, meldet ‚Box‘ auf Facebook „Amsterdam: Wieder Marihuana für Touristen“. So hat halt jeder seine Prioritäten …

02:52: Weitere aus Homo-Sicht interessante Abstimmungen heute in den USA:
Wird mit Tammy Baldwin erstmals eine offen lesbische Politikerin in den Kongress (Wisconsin) gewählt? Bisher sind erst vier Kongress-Abgeordnete offen schwul.
Schafft es die offen bisexuelle (und Non-Theistin) Kyrsten Sinema ausgerechnet in Arizona in den Senat?
Wird in Massachusetts erstmals ein nicht-etablierter offen schwuler Politiker der Republikaner in den Kongress gewählt?
Kann die erste offen lesbische afroamerikanische Politikerin Simone Bell trotz Neuzuschneidung der Wahlbezirke die Wiederwahl schaffen?
In Colorado treten im 31. Distrikt (Teile von Denver) als Kandidaten zwei offen schwule Politiker gegen einander an.

02:49: Homo-Ehe-Abstimmungen in vier US-Bundesstaaten: wer live die aktuellen Zwischenergebnisse mit verfolgen will, findet sie bei der Huffington Post hier. Noch sind nur für Maine und Maryland sehr wenige Daten (unter 1%) da.

02:45: Latinos unterstützen in den Exit Polls (den nach-Wahl-Befragungen) überwiegend die Homo-Ehe, sagt Advocate (59% der Latinos gegenüber 48% der Gesamtbevölkerung).

02:44: Für die Abstimmungen in Maine und Maryland noch zu wenig Daten für erste Ergebnisse …

02:39: Republikaner (der ebenfalls kein ‚Freund der Rechte von Schwulen und Lesben‘ sei) schlägt anti-schwulen Demokraten in Tennessee beid er Wahl um den Sitz im Senat, meldet Advocate.
Interessant wird’s, wenn die Trennlinien anders als schwarz-weiß verlaufen … und diese feine Unterscheidung zwischen ’nicht für‘ und ‚gegen‘ …

02:36: Eine Lesbe wird in Texas als Sheriff wiedergewählt, berichtet queer.de. Für die Lesbe freuen, oder froh sein, dass wir keine Sheriffs haben?

02:28: „Es wird spannend bleiben bis zum Schluss“. Weisheit à la Wowereit. Und ach, das Internet werde zukünftig eine wichtigere Rolle einnehmen. Nu denn. „Ich geh jetzt nachhause“, sagt Herr W.

02:22: Gutes Zeichen? In Maine gewinnt Angus King (unabhängig), ein Befürworter der Homo-Ehe, den Sitz im Senat (vorher: Olympia Snowe, Republikaner).

02:14: „Deutscher Wahlbeobachter kritisiert Zustände bei US-Wahl“, Phoenix omg
Und in Virginia schließen die Wahllokale, mit noch meterlangen Warteschlangen vor den Wahllokalen (wer in der Schlange steht, dürfe noch wählen).

02:10:Mal ein wenig off-topic zur Entspannung: hat James Bond doch einen homosexuellen Subtext? PinkNews macht sich Gedanken ‚Skyfall screenwriter, John Logan, addresses James Bond’s ‘gay past’‘.

02:00 Uhr: queer.de berichtet in einem Live-Blog über die US-Wahlen: Ticker: Die US-Wahlnacht aus LGBT-Sicht.
Lesenswert auch Box Turtle Bulletins Election Liveblog.

01:50 Uhr: Ballotpedia fasst die Abstimmungen zur Homo-Ehe in den 4 US-Bundesstaaten wie folgt zusammen:
Maine Question 1: „Would overturn a voter-approved 2009 ballot measure that banned same-sex marriage in the state.“
Maryland Question 6: „Would allow same-sex couples to obtain a civil marriage license in the state.“
Minnesota Amendment 1: „Would define marriage in the Minnesota Constitution as between one man and one woman in the state.“
Washington Referendum 74: „Asks voters if same-sex marriage should be legalized in the state of Washington.“

01:45 Uhr: US-Präsident Obama hat sich (nach langem Zögern) klar für die Homo-Ehe ausgesprochen. ‚Out‘ portraitiert 14 offen schwule / lesbische Mitarbeiter/innen im Weißen Haus.
Out 01.1.2012: Out100: The White House

01:10 Uhr: In deutschen Medien, auch Homo-Medien, ist soweit ich es sehe weitgehend unbeachtet geblieben, dass in vier US-Bundesstaaten Abstimmungen auch über die Zulässigkeit der Homo-Ehe stattfinden. Maine, Washington State, Maryland und Minnessota – in diesen vier Staaten sind die Wähler auch aufgefordert, über die Homo-Ehe (’same-sex-marriage‘) abzustimmen.
Schon ein Sieg in einem einzigen Staat würde einen „Wendepunkt“ darstellen, sagte Chad Griffin, Präsident der Human Rights Campaign, die selbst 5 Mio. $ in die Kampagnen in den 4 Bundesstaaten investierte.
Bisher gibt es die Homo-Ehe in 6 US-Bundesstaaten sowie der Hauptstadt Washington; in 30 Staaten ist dee Ehe aufgrund von Voten auf die Verbindung von Mann und Frau eingeschränkt. In Referenden in Kalifornien (2008; ‚Proposition 8‘) sowie Maine (2009) haben sich die Wähler explizit gegen die Homo-Ehe ausgesprochen.

New York Times 30.10.2012: Supporters of Same-Sex Marriage See Room for Victories

Mittwoch, 7. November 2012, 01:00 Uhr. Früh wieder aufgestanden, nach drei Stunden Schlaf. Rechner und TV an, switchen zwischen einigen TV-Kanälen und Websites.
Who’ll get it?
Gedanken einer Wahlnacht, live gebloggt von zuhause …

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Berlin Politisches

Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas

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ondamaris Texte zu HIV & Aids Politisches

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – von der Ungleichwertigkeit zur Ungleichheit, dieses von der Universität Bielefeld (Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung) entwickelte Modell könnte Anregungen geben für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema Stigmatisierung HIV-Positiver.

Stigmatisierung (nicht nur als) HIV-Positiver und Aids-Kranker stand im Mittelpunkt eines Fachtags der Deutschen Aids-Hilfe. Michael Müller (Universität Bielefeld) stellte dort das Modell (Syndrom) Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF; engl. group-focused enmity) vor.

Eine ‚Ideologie der Ungleichwertigkeit‚ wird dabei als Kern von Vorurteil und Stigmatisierung gesehen und ist zentral im GMF-Syndrom. Was Stigmatisierung und Diskriminierung befördert (zum Beispiel gesellschaftliche Entwicklungen wie eine zunehmende Ökonomisierung sozialer Beziehungen), haben die Bielefelder Wissenschaftler über eine  Zeitraum von zehn Jahren analysiert.

Einen kurzen Überblick über das Modell gibt ein Artikel in „Aus Politik und Zeitgeschehen“ (Bundeszentrale für politische Bildung):

„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit widerspricht der Wertvorstellung von Gleichwertigkeit. Sie rechtfertigt Ideologien der Ungleichwertigkeit, die ihrerseits soziale Ungleichheit langfristig zementieren können.“

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Die Präsentation des Konzepts GMF Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit durch Dipl.Päd. Michael Müller in Vertretung für Prof. Zick – für mich das Highlight auf dem Fachtag „Ausgrenzung. Macht. Krankheit. HIV-bezogener Stigmatisierung entgegentreten!“, den die Deutsche Aids-Hilfe am 27. und 28. Oktober 2012 in Berlin veranstaltet hat.

Gesellschaftlichen Entwicklungen räumen die Bielefelder Forscher eine zentrale Bedeutung im Rahmen des Syndroms Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ein. Diese Zusammenhänge zu verstehen und analysieren könnte Aidshilfe(n) wie auch HIV-positiver Selbsthilfe Grundlagen und Anregungen geben zur Auseinandersetzung mit Stigmatisierung und Serophobie.

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Eva Groß, Andreas Zick, Daniela Krause (alle: Universität Bielefeld)
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 16-17/2012)
„Ungleichheit, Ungleichwertigkeit“
als Print vergriffen, Download als pdf hier

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siehe zum Thema auch
Prof. Dr. Andreas Zick, Dr. Beate Küpper, Andreas Hövermann
„Die Abwertung der anderen –
Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung“
Als Download bei der Friedrich-Ebert-Stiftung (pdf)

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Bordeaux Politisches

Vereinigte Staaten Europa – Victor Hugo über Europa

Vereinigte Staaten Europa – ein alter Traum:

Bekenntnis zu Europa, 1871:

soyons les États-Unis d'Europe (Victor Hugo)
soyons les États-Unis d’Europe (Victor Hugo)

Plus de frontières !
Le Rhin à tous !
Soyons la même République,
soyons les États-Unis d’Europe,
soyons la fédération continentale,
soyons la liberté européenne,
soyons la paix universelle !

(Text des kompletten Zitats, das in dieser Tafel in der Fußgängerzone von Bordeaux (nahe der Oper) im Ausschnitt wiedergegeben ist)

[„Keine Grenzen mehr! Der Rhein für alle! Seien wir die gleiche Republik, seien wir die Vereinigten Staaten von Europa, seien wir die Föderation des Kontinents, seien wir die europäische Freiheit, seien wir der universelle Frieden!„; Übersetzung UW]

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(Victor Hugo, „Discours à l’Assemblée nationale„, 1. März 1871, laut der Überlieferung durch Comte Stanislas Ostorog)

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Politisches

Häftlingsart Homo – KZ Neuengamme

Häftlingsart Homo : Die im KZ Neuengamme Inhaftierten wurden größtenteils auf Karteikarten erfasst.

1944 plante die SS, die Ausbeutung der KZ-Häftlinge weiter zu ‚optimieren‘ – durch eine zentrale Erfassung und Auswertungen mittels elektronischer Datenverarbeitung (Hollerith-Karten) sollte z.B. er Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen noch besser an deren berufliche Qualifikation und den Bedarf der NS-Kriegswirtschaft angepasst werden. Hierzu wurden die erforderlichen Daten der Häftlinge in so genannten ‚Vorkarteien‘ erhoben, die später auf Lochkarten übertragen werden sollten.

Aus dem KZ Neuengamme sind über 20.000 dieser Vorkarten erhalten geblieben – und so auch die Schicksale einiger Homosexueller bis heute dokumentiert:

Häftlingsart Homo – Beispiele aus der Vorkartei Neuengamme

'Häftlingsart Homo." - Häftlingskarte, KZ Neuengamme
‚Häftlingsart Homo.“ – Häftlingskarte, KZ Neuengamme

'Häftlingsart § 175" - Häftlingskarte, KZ Neuengamme
‚Häftlingsart § 175″ – Häftlingskarte, KZ Neuengamme

'Häftlingsart B.V. § 175" - Häftlingskarte, KZ Neuengamme
‚Häftlingsart B.V. § 175″ – Häftlingskarte, KZ Neuengamme

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Das Konzentrationslager in Hamburg Neuengamme wurde 1938 als Außenlager des KZ Sachsenhausen (Oranienburg) errichtet. Ab 1940 war es selbständiges Konzentrationslager. Ungefähr 100.000 Menschen wurden hier inhaftiert, mindestens 50.000 von ihnen starben. Ab 20. April 1945 räumte die KZ das Lager (Todesmärsche); am 4. mai 1945 errreichten britische Truppen das geräumte Lager.

Zahlreiche Mitglieder des Personals des KZ Neuengamme wurden juristisch zur Verantwortung gezogen (Curiohaus-Prozesse).

Auf dem Gelände betrieb die Stadt Hamburg ab 1948 ein Männergefängnis. Seit 2005 existiert eine KZ-Gedenkstätte.

Im Mai 1985 wurde auf Initiative der UHA (Gründerin des MHC Hamburg) ein Gedenkstein für die homosexuellen Opfer des KZ Neuengamme enthüllt (Platz 1996 neu gestaltet).

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siehe auch: Denunziation Homosexueller, Hamburg 1937

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Politisches

Denunziation Homosexueller Hamburg 1937

Die Denunziation Homosexueller (nicht nur) während der NS-Zeit hatte willfährige Helfer – Denunzianten gab es zahlreich …

„Ein Großteil der Verurteilungen wegen homosexueller Handlungen ging auf Denunziationen zurück“

bemerkt die ‚KZ-Gedenkstätte Neuengamme“ (‚Homosexuelle Häftlinge im KZ Neuengamme‘).

Und Stefan Micheler betont (in ‚Der Fall Heinrich Erich Starke ‚):

„Zählt man zu den Denunziationen Dritter jene Anzeigen von Männern hinzu, die von gleichgeschlechtlich orientierten Männern gefragt wurden, ob sie nicht mit ihnen schlafen wollten, und die nicht wirklich als deren ‚Opfer‘ anzusehen sind, scheint fast die Hälfte aller Ermittlungen auf Denunziationen zurückgegangen zu sein.“

Viele Hamburger Homosexuelle wurden nach ihrer Verhaftung in das KZ Neuengamme eingewiesen – auch sie oft aufgrund von Denunziation durch Nachbarn oder Kollegen:

„An die Geheime Staatspolitzei
Hamburg
Stadthaus

Wir machen Sie hiermit, auf das homosexuelle Treiben und das Zusammen-leben mit seinem freunde, wie Mann und Frau, des Herren Ladislaus Kaspersky aufmerksam. Wohnhaft in Hamm Sorbenstr. 14, arbeitet im Kurbad Esplanade. Wie wir erfuhren, wollen beide ins Ausland. Es liegt uns daran, dass selbe aus der Wohung und aus dem haus heraus kommen.
einige Anwohner“

Denunziation Homosexueller, Hamburg 1937
Denunziation Homosexueller, Hamburg 1937

Der Brief wurde am 13.10.1937 an die Gestapo Hamburg gesandt

Denunziation Homosexueller, Hamburg 1937
Denunziation Homosexueller, Hamburg 1937

und hatte prompte Folgen: „vorläufige Festnahme am 4.12.37 11 Uhr“ vermerkt lakonisch ein Aufkleber auf dem Schreiben:

Denunziation Homosexueller, Hamburg 1937, Vermerk Festnahme
Denunziation Homosexueller, Hamburg 1937, Vermerk Festnahme

Besonders viele Homosexuelle waren in einem der Emslandlager, dem berüchtigten ‚Lager V Neusustrum‘ („vergessenes Lager der Homosexuellen“) inhaftiert

“an keinem Ort im Deutschen Reich [waren] mehr Homosexuelle in Haft … als in den Emslandlagern“

Rauiner Hoffschild

Im Mai 1985 wurde auf Initiative der UHA (Gründerin des MHC Hamburg) ein Gedenkstein für die homosexuellen Opfer des KZ Neuengamme enthüllt (Platz 1996 neu gestaltet).

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siehe auch: Häftlingsart Homo

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Politisches

Ernst Barlach über Kunst und Elend

Ernst Barlach über Kunst und Elend:

Frage an Ernst Barlach:

„Muss man denn immer in seiner Kunst auf das unermessliche Elend hinweisen?“

Antwort Ernst Barlach:

„Gewiss, wenn man das ‚Müssen‘ fühlt.“

Barlach kurz darauf weiter:

„Vorübergehen an dem Grausen, das um Hilfe ruft, und dann irgendwas belanglos Niedliches machen, ist schäbig.“

(Ernst Barlach, Brief an Adolf Scheer, 26.2.1930)

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Barlach in ratzeburg: Ratzeburg Dom / Ernst Barlach 'Der Bettler' (Abguss)
Ratzeburg Dom: Ernst Barlach ‚Der Bettler‘ (Abguss)

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Ernst Barlach wurde am 2. Januar 1870 in Wedel geboren. Am 24. Oktober 1938 starb er in einer Rostocker Klinik. Ernst Barlach wurde in Ratzeburg beigesetzt.

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ondamaris Texte zu HIV & Aids Politisches

Carsten S. – Chance auf Neuanfang oder: ein ehemaliger Rechtsextremer in der Aidshilfe

Düsseldorf Januar 2012: Spezialkräfte der GSG-9 verhaften einen Aidshilfe-Mitarbeiter unter dem Verdacht, die rechtsextreme Terror-Gruppe ‘NSU’ unterstützt zu haben. Wie kommt ein (ehemaliger) Rechtsextremer zur Aids-Hilfe?

Die Aids-Hilfe Düsseldorf hat sich in Reaktion auf die Verhaftung in einer Presseerklärung „von der rechten Szene und ihrem Gedankengut“ distanziert. Bei vielen Mitgliedern, Klienten und Angestellten hat die Verhaftung vermutlich Bestürzung ausgelöst, Fragen aufgeworfen. Die Aids-Hilfe Düsseldorf steht derzeit zudem unter erheblichem medialem Druck. Partner in Politik ebenso wie Unterstützer und Geldgeber haben Erwartungen, fordern vermutlich klare Worte. Insofern ist die Distanzierung der Aids-Hilfe Düsseldorf verständlich, vermutlich auch richtig, vielleicht sogar hinreichend.

Dies ist sie jedoch nicht für den Dachverband, die Deutsche Aids-Hilfe (die sich bisher außer in Form einer Übernahme der Düsseldorfer Presseerklärung nicht zu dem Vorgang geäußert hat).

„Recht auf Selbstbestimmung, Teilhabe und Solidarität“ und „verantwortungsvoll und solidarisch mit den Bedrohten und Betroffenen umgehen“ – Werte wie diese stehen im Mittelpunkt es Grundverständnisses von Aidshilfe, so formuliert im Leitbild der Deutschen Aids-Hilfe. „Deshalb setzen wir in unserer Arbeit auf das verantwortliche Handeln vernunftbegabter, einsichts- und lernfähiger, freier und gleichberechtigter Menschen“.

Politischer Extremismus egal welcher Richtung (insbesondere, aber nicht nur in seiner gewaltbereiten Form) ebenso wie religiöser Fundamentalismus (egal welcher Glaubensrichtung) bedrohen und gefährden diese Werte, diese Basis der Arbeit von Aidshilfe. Schon aus diesem Grund muss Aidshilfe in ihrem Reden und Handeln immer auch ihre Werte reflektieren und sich aktiv für sie einsetzen.

Sich von Extremismus und Fundamentalismus zu distanzieren, aktiv gegen sie und für Freiheit und Solidarität einzusetzen sollte also zum Wesen des Handelns von Aidshilfe gehören.

Ein Distanzieren von Extremismus und Fundamentalismus – wie es jetzt die Aids-Hilfe Düsseldorf gemacht hat – ist somit nicht nur verständlich. Es sollte für jede Aidshilfe selbstverständlich sein.

Distanzierung darf jedoch nicht alles sein. Aktive Schritte des Engagements gegen Extremismus sind erforderlich. Dieses Engagement darf nicht nur Lippenbekenntnis sein, es muss reales Handeln beinhalten.

Hierzu gehört dann auch, Aussteigern aus dem Extremismus, aktuell: der rechten Szene, eine reale Chance zu geben, eine Chance auf Neubeginn, auf einen persönlichen, menschlichen wie auch beruflichen Neuanfang.

Chance auf Neuanfang für Aussteiger, dies ist gesellschaftlich wie politisch wichtig im Engagement gegen Extremismus und Fundamentalismus. Und hier ist selbstverständlich auch Aidshilfe gefordert. Chancen geben, dies beinhaltet auch: Risiken eingehen. Risiko und der Umgang mit Chancen und Risiken – Themenfelder, die für Aidshilfe nichts Unbekanntes sind.

Dass die Aids-Hilfe Düsseldorf mit Carsten S. einem Aussteiger aus der rechten Szene diese Chance auf Neuanfang gegeben hat, ist also nur konsequent. Und es ist zu begrüßen.

Die Deutsche Aids-Hilfe ist gefordert, nicht nur das Selbstverständliche zu sagen, die Distanzierung von Extremismus und Gewalt. Sondern auch das Unbequemere:

Es ist wichtig, Aussteigern eine Chance auf Neuanfang zu geben.
Die Aids-Hilfe Düsseldorf hat, indem sie Carsten S. diese Chance auf Neuanfang gab, eine mutigen, einen richtigen Schritt gemacht.
Einen Schritt im Sinn der Werte von Aidshilfe. Ein Schritt, den der Dachverband begrüßen und unterstützen sollte.

Wie heisst es im Leitbild der Deutschen Aids-Hilfe?
„Deshalb setzen wir in unserer Arbeit auf das verantwortliche Handeln vernunftbegabter, einsichts- und lernfähiger, freier und gleichberechtigter Menschen“.

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Carsten S. hat im NSU-Prozeß gestanden und umfassend ausgesagt. Er wurde vom Oberlandesgericht München am 11. Juli 2018 zu einer Jugenstrafe von drei Jahren verurteilt.

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Text 21. April 2017 von ondamaris auf 2mecs

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Oldenburg Politisches

Esterwegen – endlich Gedenken an die ‚Moorsoldaten‘

Das Emsland, das sich lange Zeit erfolgreich in Verdrängen und Vergessen übte, hat endlich eine offizielle Gedenkstätte für „die Hölle im Moor“ – die ‚Gedenk- und Dokumentationsstätte Esterwegen‘.

Das KZ Esterwegen, schon im Sommer 1933 eingerichtet, war neben dem KZ Börgermoor und dem KZ Neusustrum eines der ersten KZ überhaupt, die die Nazis errichten ließen. Auch Homosexuelle waren Insassen im KZ Esterwegen. Besonders viele Homosexuelle waren im (ebenfalls zu den Emslandlagern gehörenden) Lager V in Neusustrum inhaftiert.

Im August 2008 war ich nach vielen Jahren wieder im Emsland, und ich kann mich gut erinnern – an das Gefühl der Erschütterung, wie mit dem Gedenken an die Emslandlager umgegangen wurde, selbst 2008 noch, über 60 Jahre nach Ende der NS-Herrschaft.

Ja, es hatte sich etwas verändert gegenüber Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre, als es nahezu nichts gab an Gedenken, außer einer kleinen um Studenten der Oldenburger Universität herum entstandenen Initiative. Aber die Veränderung schien mir nur graduell. Weiterhin Vergessen und Verdrängen.

Börgermoor – das Lager, in dem das „Lied der Moorsoldaten“ entstand, war (und ist, wenn ich Fernsehberichte der letzten Tage sehe, immer noch) ein wilder Platz, eine ehemalige Gärtnerei. An das Lager Börgermoor erinnern einzig eine verschämte kleine Tafel, ein Findling.

In Neusustrum, dem vergessenen Lager der Homosexuellen, sah (und sieht) das Gedenken noch bizarrer aus: ein Fußball-Platz befindet sich (unkommentiert) auf den Gelände der früheren Häftlings-Baracken; an das Lager erinnern eine Tafel und – der Lager-Park, angelegt von den Häftlingen und (zumindest 1998) immer noch mit einem 1934 von der SA errichteten ‚Denkmal‘.

Einzig in Esterwegen befand sich damals, 2008, ein Dokumentationszentrum (DIZ), betrieben von der rührigen aus dem Kreis der damaligen Oldenburger Studenten hervorgegangenen Initiative.

Zur Frage der Unter-Repräsentation der „vergessenen Häftlinge“ der Homosexuellen schrieb mir damals Kurt Buck, Leiter des DIZ, damals

“Ich gehe davon aus (und anders kann es eigentlich nicht sein), dass für eine neue Ausstellung in der Gedenkstätte Esterwegen, die unter Trägerschaft der vom Landkreis Emsland eingerichteten Gedenkstätte Stiftung Esterwegen und in Zusammenarbeit mit uns konzipiert werden soll, Recherchen zu allen in den Emslandlagern inhaftierten Opfergruppen stattfinden und diese Gruppen auch anders als bisher eine breitere Erwähnung/Darstellung finden müssen. Durch mehrere Arbeiten, die Sie auch erwähnen, gibt es hierfür einige Grundlagen. Bisher haben allerdings noch keine Diskussionen über eine Ausstellungskonzeption stattgefunden.”

Dieses Dokumentationszentrum ist nun aufgegangen in der jetzt endlich eingeweihten ‚Gedenk- und Dokumentationsstätte Esterwegen‘.

Und es ist zu hoffen, dass zukünftig an allen ehemaligen Lager-Orten würdige Formen des Gedenkens gefunden werden. Dass Verdrängen und vergessen in der Region endlich ein Ende haben. Und dass an alle Opfer-Gruppen, auch an die Homosexuellen, erinnert wird.

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Politisches

Tunesien vor der Wahl – Laizismus oder islamisch geprägter Staat ? (akt.)

23. Oktober 2011 – Tunesien steht vor einer entscheidenden Wahl. Nach dem Sturz Ben Alis und seines Polizeistaats ist die Bevölkerung Tunesiens aufgerufen, über das zukünftige politische Schicksal des Landes zu entscheiden. Dabei geht es nicht „nur“ um eine Wahl eines neuen Parlaments – vielmehr wird ein Organ gewählt, das innerhalb eines Jahres die neue Verfassung Tunesiens erarbeiten soll, die Grundlage für die weitere politische Zukunft des nordafrikanischen Staates.

Staatswappen Tunesiens
Staatswappen Tunesiens

Die politische Landschaft Tunesiens im Herbst 2011

Unterteilt man die politische Landschaft Tunesiens entlang der Frage, wie mit der Religion umzugehen sei, lassen sich grob zwei Lager unterscheiden: Laizisten, die Religion und Staat strikt trennen wollen, und Islam-Politiker, die islamische Religion und neue tunesische Verfassung und Politik mehr oder weniger eng verbinden wollen:

Klerikalistische Politiker

Zu den Verfechtern des Klerikalismus, einer Verbindung von Staat und islamischer Religion gehören einerseits die in Umfragen bisher äußerst erfolgreiche Partei En-Nahda (Wiedergeburt) des bis zum Sturz Ben Alis im Pariser Exil lebenden Rachid al-Ghanouchi (sowie zunehmend seiner Tochter), und andererseits die Salafisten (Salafismus – konservative sunnitische Islam-Strömung, die sich sehr an den Primär-Quellen des Islams orientiert und diese zu Maßstäben des alltäglichen Lebens erhebt).
Das Verhältnis beider – Salafisten und al-Ghanouchi – ist unklar: einerseits betont Ghanouchi wie meist lächelnd die Bedeutung der Mitte der Gesellschaft, schwört inzwischen längst der Gewalt ab und bezeichnet die Salafisten blumig als koalitions-unfähig („Wie kann es eine Koalition geben zwischen den Salafisten, die Wahlen für haram [Sünde oder verboten nach den Regeln des Islam] halten, und denen die kandidieren?“). Andererseits verspricht er (jüngst bei einem Besuch in Kairo) die Einführung des Kalifats (Herrschaft eines Kalifen als Vertreter des Gesandten Gottes [Mohammed], ‚Gottesstaat‘) oder verspricht vor Pariser Exilanten die Einführung der Scharia (islamisches Recht als oberste Rechtsquelle).

Laizistische Parteien

Vielschichtig ist das Lager der Laizisten: die vermutlich bedeutendste Partei dieses Lagers ist die Demokratische Fortschrittspartei PDP von Ahmed Nejib Chebbi (die schon unter Ben Ali vom System toleriert wurde, wenn auch wirkungslos war). Sie ist sozialdemokratisch orientiert, ähnlich wie die weiter links stehende Ettakatul. Hinzu kommt die Partei Afek Tounes (Wirtschafts-Liberalismus), sowie Pole, die ‚Modernen Demokraten‘.
Das Problem der Säkularen: ihre Uneinigkeit. Zwar marschierten in Tunesien jüngst (nachdem es nach der erstmaligen Ausstrahlung des Films ‚Persepolis‘ zu von Salafisten gesteuerten Demonstrationen und Ausschreitungen gekommen war) Tausende Tunesierinnen und Tunesier für Meinungsfreiheit. Ein Wahlbündnis für die entscheidende Wahl am 23. Oktober 2011 jedoch brachten die laizistisch orientierten Parteien nicht zustande.

Quo vadis Tunesien ?

Tunesien könnte Maßstäbe setzen an diesem Sonntag – und sich auf den Weg begeben zu einer Demokratie in einer islamischen Gesellschaft.

Doch – sind islamische Religion und Demokratie – wie Ghannouchi sagt – wirklich vereinbar? Oder ist gerade er – wie oft spekuliert wird – doppelzüngig, hat letztlich einen islamischen Staat und die Scharia als Ziel?

Finden die laizistisch orientierten Parteien zu Formen der zielführenden Zusammenarbeit, entwickeln eine demokratischen Vorstellungen gerecht werdende Verfassung als Basis für das ’neue Tunesien‘? Oder legt ihre Spaltung und Kooperations-Unfähigkeit den Grundstein für einen neuen Gottesstaat?

Wie wird sich die für nordafrikanische Staaten vergleichsweise große tunesische Mittelschicht entscheiden?

Sieben Millionen Tunesierinnen und Tunesier sind zur Wahl aufgerufen. Über 80 Parteien und 1.000 Listen kandidieren (ohne prozentuale Hürde) um die zu vergebenden 217 Sitze.

Islamisch geprägter Staat, gar radikalislamische Diktatur?
Oder laizistisch orientierte Demokratie?
Die Wähler Tunesiens sind aufgerufen eine Grundsatz-Entscheidung zu treffen – für den Weg ihres Staates in die Zukunft.

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Nachtrag
07.01.2014: die geplante neue Verfassung Tunesiens wird voraussichtlich Meinungsfreiheit garantieren: „Der Staat ist der Hüter der Religion. Es garantiert die Freiheit des Gewissens und der Glaubens-und Religionsfreiheit.“
24.01.2014: Die Volksvertreter haben sich geeinigt. Tunesien erhält eine neue Verfassung. Noch ist die Zustimmung der Nationalversammlung mit Zweidrittel-Mehrheit erforderlich.
27.01.2014: Die neue Verfassung wurde vom (Übergangs-) Parlament Tunesiens angenommen. Gleichheit und Meinungsfreiheit sind wesentliche Elememte.

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