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Fotografie Ulli

kleinkariert

kleinkariert (September 2011; Foto Ulrich Würdemann, CC BY 4.0)

kleinkariert (September 2011; Foto Ulrich Würdemann, CC BY 4.0)
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Nachdenkliches

Nineeleven – mein 11. September, oder: „lass mal, das interessiert mich nicht mehr“

Nineeleven, 11. September 2001, ein Synonym für die Erschütterung unerschütterlich geglaubter Gewissheiten.
11. September – ein Tag wie jeder andere, ein banaler Geburtstag.

Am 11. September feierte meine Mutter auch 2001 ihren Geburtstag, wie in jedem Jahr zuvor. Und doch – es war und wurde ein besonderer Tag. Auch ohne World Trade Center, Terroristen und …

Monate zuvor. Ich bin gemeinsam mit Frank für einige Frühlingstage in Barcelona. Wir sitzen auf einem kleinen Platz, frühstücken, als das Handy klingelt. Mein Vater ist dran, berichtet in einigen kurzen Minuten, meine Mutter habe eine Untersuchung wegen ihrer Magenprobleme gehabt. Der Arzt wisse nun, woran es liege, es sei nichts wirklich Ernsthaftes, er wollte nur kurz Bescheid gesagt haben.
Er nannte noch kurz die Diagnose, einen lateinischen Fachbegriff, der ihm nichts sagte. Mir schon, sofort dieses flaue Gefühl im Magen. Ein befreundeter Arzt bestätigte mir, nach Bitte um ehrliche Worte, es handele sich um einen Krebs in unheilbarem Stadium. Wenige Monate blieben nur, „geh von drei oder vier aus“, sagte er.

Klare Worte waren mir schon immer lieber als langes Drumherumreden ohne genaues Wissen (auch die Jahre im Rheinland haben dies nicht verändert). Ich wusste nun, was die Situation war. Konnte mich nach erstem Schock und Gefühlen informieren. Nein, es gab tatsächlich keine therapeutischen Möglichkeiten, nur einige palliative Maßnahmen. Ja, gegen Ende könne es „sehr unschön“ werden.

Meine Eltern waren in dieser Zeit – wie schon so oft zuvor – keine Freunde klarer Worte. Redeten die Situation schöner als sie war. Klammerten sich, beide je auf ihre Art, an jeden erreichbaren, aus Freundeskreisen oder obskuren Zeitungen herbei getragenen Hoffnungsschimmer. Jedem Hoffnungsfunken folgte eine kleine Enttäuschung. Wieder und wieder wurde eine neue ‚Methode‘ gefunden. Gößer wurde nur die Enttäuschung in die jeder Versuch mündete.

Irgendwann Ende des Sommers waren alle Hoffnungsschimmer verflogen. Alles ‚Kopf in den Sand Stecken‘ konnte das Sichtbarwerden der unvermeidbaren Wahrheit nicht verhindern.

In diese Zeit fiel der 11. September, der Geburtstag meiner Mutter. Wir hatten den Tag leise vorbereitet. Meine Mutter wollte unbedingt noch einmal viele ihrer Freundinnen und Freunde, Kegelschwestern und Sport-Kolleginnen, einige Verwandte, Nachbarn und Nachbarinnen sehen. Ihre Kräfte waren bereits sehr begrenzt. Vorsorgende Vorbereitung, eine umsichtige und sich auf angenehme Art zurück haltende Pflegerin, viel Hilfe im Hintergrund, eine gewisse Besuchs-Planung und sanftes Steuern halfen, ihr den Tag so angenehm wie möglich und so wenig kräftezehrend wie machbar zu gestalten.

Mein Handy klingelte, als ich gerade irgend einem Besuch Kaffee servierte. K. war dran, in den ich damals ziemlich verliebt war. „Mach schnell die Glotze an, is was Unglaubliches passiert.“ Eindringlich wiederholte er, trotz meiner Hinwiese, ich sei auf dem Geburtstag meiner Mutter (von deren Situation er, Medizinstudent und damals auch wichtiger Ratgeber zum Umgang mit der Situation, wusste). Frank übernahm den Besuch, ich ging nach oben, um kurz und ohne Mutter und Besuch zu stören den Nachrichtensender einzuschalten. Sah erste Bilder, ein Flugzeug, das scheinbar, warum nur, in einen der Türme des World Trade Center geflogen war. Nineeleven. Hörte den Kommentar eines Sprechers, der selbst kaum wusste was geschah, geschweige denn erklären konnte.

Ich ging wieder nach unten, zu Frank, Mutter, Familie und Besuch. Ging in der folgenden Zeit einige Male wenn die Situation es erlaubte kurz nach oben, an den Fernseher, sehen was es Neues gab. Erzählte schließlich, in einer Pause zwischen zwei Geburtstags-Besuchern, meiner Mutter von dem Unfassbaren. Nineeleven. Ein Terroranschlag, ein Flugzeug, einer der Türme des World Trade Centers eingestürzt, das sie selbst noch vor einigen Jahren auf ihrer USA-Reise gesehen hatte, so beeindruckt war. Meine Mutter, die wohl wusste, wie sehr ich Nachrichten-Junkie und Politik-interessiert war und bin, entgegnete mit leerem Blick „lass man, Ulrich, das interessiert mich jetzt nicht mehr.“

Ich schämte mich, dass ich nicht sensibler war, mich nicht mehr auf ihre Situation, ihre Interessen und Bedürfnisse eingestellt hatte. Kümmerte mich wieder, zusammen mit Frank, Vater, Bruder und dessen Freundin, um sie und ihren Geburtstag (nicht ohne seltene kurze Ausflüge an den Fernseher, wenn meine Mutter ein Nickerchen brauchte).

Ihren Geburtstag noch zu erleben, ein allerletztes mal noch, einige ihr liebe Menschen noch einmal zu sehen – darauf hatte meine Mutter all die ihr noch verbleibende Kraft konzentriert. In den folgenden Tagen ging es ihr zunehmend schlechter.

Eine Woche später, eine Woche nach ihrem letzten Geburtstag, eine Woche nach Nineeleven, am 18. September 2001, starb meine Mutter.

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Den 11. September 2001 erinnere ich als Tag des letzten Geburtstags meiner Mutter. Nach vielen Jahren großer Distanz Momente voller Offenheit, Ehrlichkeit und zugleich warmer Nähe. Und ein Abschied.
Zugleich erinnere ich den 21.9.2001 als Tag des Terroranschlags auf das World Trade Center.

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Was ist von Bedeutung?
Was ist wirklich wichtig?
Selten (siehe auch, auf andere Art, „„20 Jahre Mauerfall“) habe ich eine Situation so gespalten erlebt wie am 11. September 2001.

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Biohazard Tattoo HIV – Zeichen für mehr Akzeptanz?

Tätowierungen, Brandings die den Träger eindeutig als HIV-positiv kennzeichnen – ist ein Biohazard Tattoo ein Zeichen von Selbst-Akzeptanz und HIV-positivem Selbstbewusstsein? Oder ein Akt der Selbst-Stigmatisierung?

In Berlin sieht man sie schon seit einigen Jahren häufiger, auch gelegentlich in Spanien oder Frankreich, und auch in den USA: schwule Männer mit einer auffälligen Tätowierung – einem Tattoo, mit dem sie sich als HIV-positiv zu erkennen geben.

Mehrere Zeichen werden als solche ‚eindeutige‘ Hinweise genutzt, als Tattoos verwendet. So das ‚Red Ribbon‘ (‚Aids-Schleife‘). Das bekannteste Signal unter Positiven jedoch dürfte das Biohazard Tattoo sein.

Biohazard Probenbeutel
Probenbeutel mit Biohazard Piktogramm

Tätowierungen, die den Träger eindeutig als HIV-positiv kennzeichnen – sie bieten aus Sicht vieler, die diese Tätowierung tragen, einen klaren Vorteil: sie sind eindeutig. Signalisieren dem gegenüber, der Umwelt: ich bin HIV-positiv. Coming-out als HIV-Positiver, langwierige unbequeme Gespräche hätten sich damit weitgehend erledigt. Gerade beim Sex weiß jeder, woran er ist, kann sich entsprechend verhalten. Ohne Worte.

Biohazard-Tattoo – Erfahrungen

Du bist kein Opfer. Du bist ein Champion, ein Überlebender – das ist der bedeutendste Teil des Tattoos„, zitiert CNN einen HIV-Positiven. HIV-Positive in den USA sprechen von einer ‚Umwidmung‘ eines Symbols, und vergleichen ihre Verwendung des Biohazard Tattoo mit der Verwendung des Rosa Winkels durch die Schwulenbewegung der 1970er Jahre. Hinzu kommt, viele sehen in dem Biohazard Zeichen auch ein Signal der Verbundenheit mit anderen Positiven, einen „geheimen Identifikations-Code“, der auch gegenseitige Unterstützung signalisiere.

Auch in Deutschland ist das Biohazard-Symbol als Zeichen HIV-Positiver verbreitet. Eine Gruppe HIV-Positiver bezeichnet ihre Parties für Positive als ‚BiohazardMen Parties‘, und erläutert auf ihrer Site

Biohazard ist die Kurzform des englischen Begriffes „biological hazard“ (biologische Gefahren). Laut des amerikanischen CDC (Centers for Disease Control and Prevention) werden Erreger in unterschiedliche Biohazard-Levels eingestuft. Dabei geht von Organismen des Levels 1 die geringste Gefahr aus. Mit höherem Level steigt das Gefahrenpotential. Der HI-Virus wird mit Biohazard Level 3 gelistet.
Wir, die Biohazardmen, sind alle HIV-positiv. Du bist es auch? Dann bist du bei uns herzlich willkommen.

Auch Jörg (*), der seit zwei Jahren ein Biohazard Tattoo auf dem Arm trägt, und den ich in einem Berliner Club treffe, betont, sein Tattoo mache vieles einfacher: „Ich find’s einfach klar. Jeder weiß Bescheid, woran er ist. Spart viele Worte und Debatten.

Und, hat er keine Angst vor Stigmatisierung? „Nein. Die meisten Schwulen hier kennen das Symbol, und sehen’s auch als Vereinfachung – jeder weiß, woran er ist. Und die Heten, die mich damit vielleicht sehen, erkennen darin meist nur ‚irgend so eine Tätowierung‘. Die meisten kennen das Symbol doch nicht mal, und wenn doch, dann wissen sie nichts mit anzufangen, warum ich das trage.

Biohazard – ein nicht unumstrittenes Tattoo

Doch – auch unter HIV-Positiven sind ‚eindeutige‘ Tätowierungen umstritten. Manche fühlen sich erinnert an die umstrittene Werbekampagne, die der Photograph Oliviero Toscani Anfang der 1990er Jahre für einen italienischen Modekonzern realisierte: ein Plakat mit einem Hinterteil, auf das groß „H.I.V positive“ tätowiert war.

Bernd (*), ein weiterer Bekannter von mir, erinnert zudem daran, dass es gerade zu Beginn der Aids-Krise Politiker gab, die ernsthaft forderten, HIV-Positive sollten – womöglich zwangsweise – tätowiert werden, damit sie für jerdermann/frau als solche erkennbar seien. Schon deswegen käme für ihn persönlich dieses ‚Positiven-Tattoo‘ nicht in Frage.

(*) Name geändert

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Deutschland

W by night

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Politisches

Nach der Seuche ist vor der Seuche ?

„Nach der Seuche ist vor der Seuche“, konstatiert Jörg Hacker in einem Gast-Kommentar an prominenter Stelle in der ‚Süddeutschen Zeitung‘ vom Wochenende (Ausgabe 20./21.8.2011; Seite 2; Text leider nicht online). Ich stutze. Bitte was?

Jörg Hacker kommentiert mit dieser Aussage (die gleichzeitig Titel des Gastbeitrags ist) die Situation nach dem EHEC-Ausbruch 2011. Jörg Hacker, Professor für Mikrobiologie, ist Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften in Halle (Saale). Und Jörg Hacker war von März 2008 bis März 2010 als Nachfolger Reinhard Kurths Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI). Das Robert-Koch-Institut ist die zentrale Forschungs- und Überwachungs-Anstalt der Bundesregierung für Infektionskrankheiten. Also zum Beispiel für EHEC. Und zum Beispiel für HIV.

„Nach der Seuche ist vor der Seuche“, sagt Hacker. Ohne Fragezeichen. Postulierend.
Greift damit eine Formulierung auf, die insbesondere in der Veterinär- und Agrarmedizin der letzten Jahre (z.B. Schweinepest) häufiger zu finden ist, als Titel von Tagungen, Symposien, Veranstaltungen.

Nach der Seuche ist vor der Seuche? Formal dürfte Hacker damit nicht so unrecht haben. Ja, immer wieder wird die Gesundheit von Menschen (wie auch Tieren und Pflanzen) durch Bakterien, Viren bedroht werden.

Aber – was will Hacker mit der Verwendung dieser Formulierung sagen?

Hackers Worte erinnern mich bestürzend an eine andere – nahezu gleichlautende – Formulierung:
„nach dem Krieg ist vor dem Krieg“.
Mit einem Unterschied: der Reaktion.

Würde ein prominenter Politiker in Deutschland heute die Meinung äußern „Nach dem Krieg ist vor dem Krieg“, er würde sich vermutlich eines Sturmes an Kritik ausgesetzt sehen, des Militarismus geziehen, der Kriegstreiberei. Zu offensichtlich hat die Geschichte gezeigt, dass eine solche Denkweise nur zu leicht in totalitäre Strukturen mündet, selbst in den Krieg führen kann.

Hackers Worte hingegen bleiben scheinbar weithin unkommentiert.
Eine Formulierung, wie man sie halt häufiger findet
Von der Schweinepest ist sie nun zu Infektionen des Menschen ‚weitergewandert‘.
Metaphern, die in der Politik unerhört wirken mögen – sind sie im Gesundheitswesen selbstverständlich?

„Nach der Seuche ist vor der Seuche“, was will Hacker damit sagen?
Sollen wir im permanenten Zustand der (epidemiologischen) Mobilisierung leben?
Brauche  wir eine Kultur des permanenten Kriegs (gegen Mikroben)?
Die fortwährend andauernde Prävention?

Es mag die Aufgabe des Epidemiologen sein, warnend sein Wort zu erheben, vorbeugend.
Aber mit der Sprache des Militarismus, des Krieges?
Und – es geht um mehr als ’nur‘ Sprache.
Hinter den Worten steckt eine Haltung.
Eine Haltung, vielleicht auch Intention des permanenten Alarmismus?

Welche Gesellschaft ist das, die einen solchen permanenten Alarm-Zustand zum Ziel hat? Die in – durch diese Haltung aufgebauten – ständigen Bedrohungs-Szenarien lebt?
Und wie geht diese Gesellschaft des permanenten Alarm-Zustands mit ihren Mitgliedern, mit ihren Bürgern um? Welchen Preis zahlen wir dafür?

Wollen wir in einer solchen Gesellschaft des permanenten Alarms leben?

Wenn nicht, dann sollten wir auch nicht ihre Sprache benutzen.
Und bei entsprechende Haltungen aufmerksam sein.

Sonst wird das Leben irgendwann selbst zum Risiko, zur Bedrohung, der Begriff der Gesundheit verabsolutiert.

Oder, wie ondamaris-Gastautor Matthias 2008 (im Kontext des EKAF-Statements) satirisch anmerkte: „Die Summe der Restrisiken ist daher zu hoch, als dass wir jedem erlauben dürften, damit selbständig und unkontrolliert umzugehen. (…) Schließlich geht es um Sicherheit und Gesundheit unserer Menschen!“

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Politisches

Gleichheit

Egalité - Die Gleichheit, RadierungFrankreich 1793
Egalité – Die Gleichheit, Radierung, Frankreich 1793

Die Egalité mit dem Lot der Maurer (als Symbol der Gleichheit) und den Gesetzestafeln mit der Erklärung der Menschenrechte

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Aids und die subtile Kontrolle der Lüste

Aids-Prävention, weitgehend auch von schwulen Männern zum eigenen Schutz ‘erfunden’, hat viele positive Folgen, und Aids-Prävention hat sich zugleich zum mächtigen Instrument der ‘ Kontrolle der Lüste ’ entwickelt. Brauchen, wollen wir das eigentlich so noch?

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In direkter Reaktion auf die sich stark ausweitende und unsere Existenz als Schwule bedrohende Aids-Krise haben u.a. schwule Männer einst ‘safer sex’ erfunden. Dieses Konzept erwies sich bald als erfolgreich und wurde auch von staatlichen Stellen aufgegriffen, in Public Health Kampagnen eingebunden und promotet. Mit weitreichenden Folgen – positiven, aber auch hinterfragenswerten.

Schwuler Sex lag einst – vor Aids (und auch als Ergebnis der 1970er Schwulenbewegungen; spätestens seit der Strafrechtsreform; und für Schwule über 18 Jahren) – weitgehend außerhalb staatlicher Regulierung und Kontrolle. ‘Wir’ hatten unseren Freiraum, den viele auch leidlich nutzen, experimentierten, ausprobierten. Begriffe wie ‘Subkultur’ brachten diese dezidierte Ferne von Mainstream wie auch staatlicher Kontrolle und Regulierung auch sprachlich zum Ausdruck.

Dann kam die Aids-Krise. Durch Aids, Konzepte wie safer sex und deren bereitwillige Übernahme durch staatliche wie nichtstaatliche Stellen wurden viele positive Erfolge erzielt (wie eine weitgehend niedrige Rate an HIV-Neuinfektionen, gemessen an ursprünglichen Horror-Prognosen). Doch ein Preis dieser Erfolge war: schwuler Sex befand sich plötzlich weit in Reichweite staatlicher Regelung und Kontrolle. Nein, er ‘befand’ sich nicht etwa überraschend dort, wir selbst hatten ihn – ob aus eigenem Überlebens-Interesse, in ‘Notwehr’ oder als ‘Diktat der Vernunft’ – dorthin manövriert.

Inzwischen ist schwuler Sex ein weitgehend staatlich normiertes Feld. Was ist ‘gut’ (sprich: ‘gesund’, ‘Neuinfektionen vermeidend’ etc.)? Dies wird definiert durch staatliche Agenturen und durch (meist) von staatlichen Stellen bezahlte Nichtregierungsorganisationen. Was ist ‘nicht gut’ (sprich: ‘Infektionen riskierend’, ‘ungesund’)? Auch dies wird von ihnen definiert – und bei Bedarf skandalisiert (siehe Debatten um ‚Porno 90‚ oder  ‘Bareback’ etc., aber auch stillschweigend nicht diskutierte Verbote von bestimmten ‘zu expliziten’ Broschüren). Diese Kontrolle – mal war und ist sie mehr subtil (wie in Form von Botschaften des ‘guten Sex’), mal ganz direkt (wie in Form von Verboten von Broschüren, Verhindern oder Verzögern von Kampagnen oder Skandalisieren von Personen und Verhaltensweisen). Aber immer ist sie da, die Kontrolle schwuler Lüste.

Inzwischen ist weitgehend akzeptiert, dass es ‘externe Stellen’ gibt, die definieren, was an Sex ‘gut für uns’ ist (anstatt dass wir das selbst machen). Nichts mehr mit ungeregeltem Experimentieren. Nichts mehr mit ‘hemmungslos’, mit ‘fallen lassen’, mit ‘Aufhebung von Gesetzen und Verboten’.

Die externen politischen und sozialen Regelsysteme des schwulen Sex – wir haben sie längst akzeptiert, und an sie gewöhnt. Einschließlich ihrer Sanktions-Mechanismen.

Und wir haben lange nicht hinterfragt, ob das, was einst angesichts der Aids-Krise zu unserem Schutz gut für uns war, auch heute noch in unserem Interesse ist.

Mehr noch: einige Schwule haben diese Kontroll-Mechanismen als selbstverständlich akzeptiert – und internalisiert. Und so fällt es den Strukturen zunehmend leichter, bei einer sich abschwächenden wahrgenommenen Bedrohung durch HIV als ‘Ersatz’ andere Stressoren zu präsentieren, von Syphilis bis Hepatitis C. Eine Fremd-Kontrolle, die auch bereitwillig akzeptiert wird, statt ein ‘Zurück zum selbst-kontrollierten Zustand’ zu fordern, zu wagen – oder gar selbst zu gehen.

Michel Foucault, offen schwuler und 1984 an den Folgen von Aids gestorbener französischer Philosoph,  hätte diese Situation vielleicht mit seiner Formulierung von der “fehlgeleiteten Philantropie” beschrieben: In anderem Kontext (Umgangs mit Geisteskranken) sprach Foucault von Wissenschaften, deren Anwendung einst aufgeklärt und human schienen, sich aber letztlich als subtile und heimtückische neue Formen sozialer Kontrolle erwiesen hätten …

Dabei wäre heute anderes denkbar.

Hier verbirgt sich die Frage nach Möglichkeiten der ‘Überwindung von Aids’ und seiner Folgen für uns. Wie können schwule Männer etwas von dem, was infolge von Aids die Situation Schwuler negativ beeinflusste, einschränkte, fremd-bestimmte, regulierte, wie können wir das überwinden? Wie können Schwule ein Stück dieser (vielleicht notwendigerweise) aufgegebenen Freiheit (z.B. Freiheit von Regulierung, staatlichen Eingriffen) wieder gewinnen?.

James Miller bezeichnet in seiner Biographie ‚Die Leidenschaft des Michel Foucault‘ den Philosophen als “in seinem radikalen Zugang zum Körper und einen Lüsten eigentlich eine Art Visionär”. Und Miller spricht von der

“Möglichkeit … daß hetero- und homosexuelle Männer und Frauen in der Zukunft … jene Art von körperlicher Experimentation, die ein integraler Bestandteil seines philosophischen Unternehmens war, wieder aufnehmen werden.”

Miller schrieb dies 1993, nur wenige Jahre nach dem Tod Michel Foucaults ( der an den Folgen von Aids gestorben war), geradezu visionär mit dem expliziten Zusatz, diese Möglichkeit ergäbe sich wieder

“nachdem die Bedrohung durch Aids zurückgegangen sein wird”.

Die reale Bedrohung durch HIV und Aids ist – gemessen an Horror-Szenarien der ersten Aids-Jahre – in Deutschland und West-Europa längst deutlich zurück gegangen.

Und doch, es gibt immer noch interessierte Stellen, die Horror-Gemälde an die Wand werfen – aber warum? Auf Basis einer realen Gefahr? Oder vielmehr z.B. um ihre einst durch Aids errungene Macht weiterhin aufrecht zu erhalten?

Hören wir auf Sie? Lassen wir uns weiter Angst-Gemälde vorhalten, internalisieren sie gar? Oder befreien wir uns von der Kontrolle der Lüste, holen uns ein Stück Autonomie über uns, unsere Körper, unsere Leben zurück?

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siehe hierzu auch Ulrich Würdemann: Sorglosigkeit und die Rettung der Lüste

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Frankreich Kulinarisches

delikate Arbousier – der Erdbeerbaum

Eine in Deutschland weitgehend unbekannte Pflanze erfreut den Strandbesucher an den Küsten der Cote d’Argent wie auch des Mittelmeers: die Arbousier (auf deutsch: Erdbeerbaum; lat. arbutus unedo). Ein immergrüner Strauch, der beachtliche Ausmaße erreichen kann – und auch an der Cote d’Argent bei Lacanau und Le Porge einige Meter hinter den Dünen zwischen den Kiefern sehr häufig anzutreffen ist.

Was Touristen nur selten wissen: die Früchte dieses Busches sind essbar – und eine wahre Delikatesse. Reif sind Arbouse, die Früchte des Arbousier, wenn sie eine satt rote Farbe und weiche Konsistenz haben (in der Region Lacanau i.d.R. im August/ September). Der Geschmack? Der deutsche Name ‚Erdbeerbaum‘ deutet es an, irgendwo zwischen Erdbeere, Kiwi und lecker fruchtig …

Erdbeerbaum Arbousier
Arbouse
Arbousier Arbouse Erdbeerbaum

Einen besonders großen Arbousier-Strauch fanden wir 2010 in Spanien, in Escorial (nicht in der Schloss-Anlage selbst, sondern im Garten der südlich gelegenen Casita del Principe):

Arbousier in Escorial
Arbousier in Escorial

Das Gemälde ‚Garten der Lüste‚ von Hieronymuas Bosch wird auch genannt das ‚ Erdbeerbaum Gemälde ‚, aufgrund der im Zentralteil an vielen Stellen gezeigten Früchte und Sträucher des Erdbeerbaums. Das Gemälde befindet sich im Prado Museum in Madrid.

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Frankreich Lacanau

Lacanau in der NS Zeit

Lacanau und Le Porge sind heute gerade auch bei deutschen Touristen beliebte Reiseziele, für einige auch dauerhafter Wohnsitz geworden. Nur wenige jedoch wissen um die Geschichte von Lacanau in der NS Zeit .

Lacanau lag nach der Besetzung Frankreichs durch NS-Truppen in der ‚Zone occupée‘, dem von NS-Truppen besetzten Teil Frankreichs, vom Vichy-Frankreich des Marschall Petain getrennt durch eine Demarkationslinie.

Die Nazi-Führung beschloss, die französische Atlantik-Küste zu sichern – sie befürchtete hier einen Angriff der Alliierten. 1942 erging der Befehl zum Bau der „Festung Europa„, Verteidigungsanlagen, die von Norwegen bis Frankreich reichen sollten. Entlang der Atlantik-Küste, auch in der Region Lacanau, entstanden – errichtet von der ‚Organisation Todt‘ – zahlreiche Bunkeranlagen: der „Atlantik-Wall„. Die Atlantik-Küste selbst wurde durch Minen gesichert, auch vor Lacanau Océan (vom 20.2. bis 3.3.1944 durch den auf der Marinewerft Toulon gebauten Minenleger ‚Rubis‘).

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

30 Jahre Aids – und ‚war da was‘?

30 Jahre Aids wurden in den vergangenen Tagen und Wochen [2011] ‘zelebriert’. Viel wurde geschrieben, erinnert, in Interviews, Geschichten und Berichten zurück geblickt.
Und doch – es war ein eigentümliches ‘Gedenken’, zwar zurückblickend aber seltsam ahistorisch.

Viele der ’ 30 Jahre Aids ’-Rückblicke, so scheint mir, sind gefühlt, gesehen, geschrieben aus der Sicht von heute. Aus der Sicht einer HIV-Infektion, die oft als ‘auf dem Weg in die Normalität’ dargestellt wird (so sehr ich anzweifle, dass dies zutreffend ist, siehe meine Rede in der Frankfurter Paulskirche 2010).

Doch das Aids der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und der beginnenden 1990er Jahre hat mit diesem ‘normalisierten HIV’ nicht viel gemeinsam. Und sie kann nicht aus dessen Blickwinkel betrachtet, mit dessen Maßstab gemessen werden.

Jenes Aids hieß: innerhalb weniger Jahre starben ganze Freundeskreise. Starben wahre Heerscharen junger Menschen. Nicht zufällig wecken diese ‘schlechten Jahre’ bei vielen derer, die sie überlebten, immer noch die Assoziation “beinahe wie in einem Krieg“.

In den USA wurden diese Jahre damals oft als ‘the gay holocaust’ bezeichnet. So fehl am Platz diese Bezeichnung mir heute scheint (und auch damals schon schien, gerade angesichts der Einzigartigkeit des organisierten Mordes an den Juden Europas) – diese Bezeichnung lässt erahnen, wie ein Teil der Schwulen damals diese Zeit erlebte. Als ein Massensterben eines großen Teiles derjenigen Menschen, die schwules Leben damals mit aufgebaut haben und mit ihrem Handeln und Denken prägten. Schwule Künstler, Musiker, Regisseure, Aktivisten der politischen Schwulenbewegungen, Gründer von Lederclubs, Philosophen, Vordenker, Weg-Suchende und Weg-Weisende – sie alle wurden innerhalb kürzester Zeit dahin gerafft. Starben. Weit vor ihrer Zeit, weit bevor sie ihre Ideen und Projekte zu Reife und Blüte bringen konnten. Es starb ein bedeutender Teil einer ganzen Generation junger schwuler Männer.

Jenes Aids wird oft als ‘altes Aids’ bezeichnet – ganz so, als wären wir dieses “alte” sehr gerne los, ließen es in der Versenkung verschwinden. Lange her, Vergangenheit, abgeschlossen und weit entfernt von unserer Realität von heute.

Doch jene Jahre, ihr Leben, ihr massenhaftes vorzeitiges Sterben haben unsere Gesellschaften, unser heutiges Leben – und ganz besonders das schwuler Menschen – verändert, auf drastische Weise beeinflusst. Auswirkungen, derer wir uns heute kaum noch bewusst sind. Geschweige denn dass wir sie verstanden, reflektiert, verarbeitet hätten. Oder uns gar fragten, ob wir einige der verloren gegangenen Ideen wiederfinden, die ein oder andere der nicht zu ende entwickelten Ideen weiter denken, manches vorzeitig und unfreiwillig abgebrochene, zerstörte Experiment weiterführen sollten – könnten – wollen.

All diese abgebrochenen Experimente, vorzeitig aus der Welt gefallenen Ideen, nicht zu ende geführten Projekte, sie sind nur äußerst selten thematisiert, erinnert, kritisch reflektiert. Auch darauf hin, ob sie uns für heute etwas sagen könnten, auch wenn ihre Initiatoren, Propagandisten, geistigen Väter in eben jenen “schlechten Jahren” des ‘alten Aids’ vorzeitig aus ihrem Leben gerissen wurden.

Nur selten werden sie (Ideen und Projekte, wie auch ihre Protagonisten) wieder ins Bewusstsein gehoben, zutage gefördert und hinterfragt. Wie in dem m.E. großartigen NGBK-Projekt der AG “Unterbrochene Karrieren” (u.a. Frank Wagner, Thomas Michalak), 2003 mit dem Medienpreis der Deutschen Aids-Stiftung ausgezeichnet. Nur selten werden sie dem -ungeplanten, ungewollten, von Aids bedingten- Vergessen entrissen.

Es scheint fast, als wollten wir gar nicht wissen, uns möglichst nicht bewusst machen was Aids damals in uns, in unseren Biographien, in unseren Szenen – und damit: in dem Potential unserer zukünftigen Entwicklungen – anrichtete. Als wollten wir ja nicht die Tragweite dieser Verluste sichtbar werden lassen. Es scheint als wollten wir sie im Gegenteil schnellstmöglich und möglichst unauffällig ins Unsichtbare verschwinden lassen.

Die Zerstörungen und Verwüstungen, die Aids damals, Ende der 1980er und Anfang der 1990er in unseren Leben, unseren Szenen, unseren Kulturen anrichtete – wir sanktionieren, wir wiederholen sie mit unserem respektlosen und Geschichts-vergessenen Verdrängen, mit dieser Ignoranz nachträglich geradezu.

Interessant wäre m.E. zu erforschen, in wie weit die heutigen Realitäten gesellschaftlichen Lebens von Schwulen in Deutschland und Europa heute durch die Situation und Geschehnisse von Aids Ende der 1980er geprägt und verändert worden sind.

Heute [2011], 30 Jahre nachdem Aids in das öffentliche Bewusstsein trat, und 15 Jahre nachdem die Aids-Konferenz von Vancouver ein Zeichen für den Aufbruch in eine Zeit eines anderen Lebens mit HIV setzte, ist es zudem an der Zeit, dass wir uns unseres schwierigen Erbes, der vorzeitig beendeten Projekte, der unvollendeten Ideen, der abgebrochenen Karrieren erneut besinnen. Uns ihnen stellen, sie würdigen und kritisch hinterfragen – auch darauf, was sie uns für unser heutige Leben sagen können.

Statt weiterhin zu vergessen, zu verdrängen, könnten wir beginnen, uns dieser Verluste bewusst zu werden – und mit ihnen umgehen zu lernen.

Im Bewusstsein der ihnen innewohnenden Chancen und Hoffnungen für unsere eigene vielfältige und bunte Zukunft – und aus Respekt vor all denen, die gestorben sind.

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Text 18.02.2016 von ondamaris auf 2mecs