Paris.
Paris war immer ‚meine Stadt‘.
Man kann nur Paris lieben oder London. Man muss sich entscheiden. Beides geht nicht. Passt nicht zusammen. Dachte, nein fühlte ich damals. Paris. Ganz klar Paris. Die Antwort war völlig klar für mich, damals.
Was macht Paris so besonders?
Dieser Abend vor dem 14. Juli. Musik auf vielen Plätzen. Stände mit Getränken und kleinen Speisen. Akkordeon, Gitarre, Musik und Tanz überall. Herum gehen, hier schauen, dort ein wenig verweilen. Sitzen, lauschen, plaudern, vielleicht ein wenig tanzen. Weiter schlendern, sich treiben lassen durch die Stadt, ‚le jour de gloire est arrivé‘.
Durchtanzte Nächte, an so vielen Vorabenden des 14. Juli, auf dem ‚Quai de la Tournelle‘. Die größte schwule open-air-Party, die ich damals kannte. Feiern, tanzen, knutschen, trinken. Mit Freunden, mit Unbekannten die zu Bekannten wurden, mit Unbekannten die weiter zogen. Leben. Tausende Menschen die mit einander glücklich sind, Spaß haben, sich amüsieren.
Die kleine Wohnung, im Nutten-Viertel, ganz unter dem Dach. Unendlich klein, unsagbar teuer, damals schon – und doch unser Paradies. ‚Basis-Station‘, wenn Julien aus Südfrankreich, Ulli aus Köln kamen, wir uns zusammen in Paris vergnügten.
Die Gare du Nord, der meistbesuchte Pariser Bahnhof, Station so vieler Ankünfte und Abfahrten. Ankommen meist am sehr frühen Morgen, mit dem Nachtzug aus Köln. Abfahrt meist am späten Abend, mit der letzten halbwegs erträglichen Verbindung. So viel Zeit wie möglich in Paris verbringen.
‚Continental Opéra‘, jene Sauna, in der ich viele Stunden verbrachte, entspannen – oder auf der Jagd nach Sex. Jene riesige Sauna, die längst Geschichte ist, Zeichen einer vergangenen Zeit ebenso wie der Hamburger ‚CU‘.
Die Nächte im ‚Broad‚ und anderen Pariser Clubs. Viele viele Nächte, Frank und ich, auf der Pirsch oder einfach relaxen, tanzen, Spaß haben. ‚Ich hab da was kennen gelernt, darf ich den mitnehmen‘, frage ich drucksend unseren (genauer: Franks) Gastgeber. Er ist großzügig, ich darf. Philippe-Pierre.
Père Lachaise, jener Friedhof, den man nicht beschreiben kann, den man erleben muss. Ort der damals lang herbei gesehnten ‚Begegnung‘ mit Jim Morrison, dessen ‚Riders on the Storm‘ Zuflucht so vieler Abende des heranwachsenden Ulli war. Père Lachaise, letzte Ruhestätte nicht nur Jim Morrisons, sondern vieler bemerkenswerter Menschen. Und bizarrer Cruising-Ort, der bizarrste wahrscheinlich, auf dem ich je war, damals zumindest (ist es heute noch so? Cruisen in den Gängen, und sich zurückziehen in offene Grabhäuschen?).
Die ‚Rue de Vaugirard‘, an ihrem unteren Ende. Eine kleine Wohnung, viel zu klein eigentlich für vier Personen. In der ‚Conti‚ lernten wir uns kennen, und kurz darauf ludst du Frank und mich ein, doch einige Tage bei euch zu bleiben. Der Beginn einer intensiven, und doch zu kurzen Freundschaft und großen Liebe. PhiPhi und Ulli. Liebende, Brüder.
Der Blick vom Tour Montparnasse, ganz oben, von der Bar in jenem Restaurant, das jetzt ‚Ciel de Paris‘ heißt. Ein Gin Tonic (oder zwei) am frühen Abend, Blick auf Paris in der Abenddämmerung, leise Piano-Musik, träumen, glücklich sein, die Welt liegt uns zu Füßen.
Die Clinique Henner, irgendwo nahe Pigalle, Ort so vieler glücklicher und schmerzhafter Wiedersehen. Ort vieler ruhiger Stunden, wenn du schliefst. Ort persönlichster Gespräche, über ‚Gott und die Welt‘, im wahrsten wie im übertragenen Sinn. Ort vieler geweinter Tränen, mit dir, mit Annie; Ort unterdrückter Tränen, sobald dein kleiner Bruder dabei war. Ort der Hoffnung und doch immer wieder der Hoffnunglosigkeit.
Unendliche Entdeckungen und freudvolle Abende ‚Chez Marianne‘ im Marais, in diesem fabelhaften kleinen Restaurant entdeckten wir uns unbekannte Küche. Zu bestellen gab es nur ‚6‘, ‚9‘ oder ’12‘ – die Zahl gab einfach an, wie viele der verschiedenen Gerichte von ‚Caviar d’Aubergine‘ bis ‚Hoummous‘ man meinte gerade verdrücken zu können, dazu einen leckeren Rotwein aus dem Libanon oder Israel, und frisches Baguette. Mehr nicht, und es war mehr als genug.
Das ‚Piano Zinc‚. Mit Jürgen, dem damaligen Wirt, der aus Deutschland stammt. Der die frisch gegründete ACT UP – Gruppe unterstützte. Die Bar vieler ‚wirklich der letzte‘ Absacker mit Syriac, wenn wir nicht wussten, ob wir uns gegenseitig trösten, hoffnungslos besaufen oder einfach nur nicht weinen wollten.
Die ‚Brasserie Le Vaudeville‘. „Gehen wir heute Abend noch was zusammen essen„, fragte Syriac am Telefon. Ja, gerne doch. Brasserie is ja was Einfacheres als ein Restaurant, denken wir in unserer Naivität. In alter Jeans und T-Shirt stehen Frank und Ulli vor dieser ‚Brasserie‘ nahe der Börse. Vor der dicke Limousinen parken, die Damen im Sommer Pelz tragen, und wir als erstes ein Glas Champagner bekommen, weil der Tisch noch nicht frei ist. Leckeres Essen, entspannte Atmosphäre außer einem Jean-Philippe, der ziemlich zickig und schlecht gelaunt ist. Jacky Ickx am Nachbartisch. Ein schöner Abend. Unser letzter gemeinsamer Abend. Der Abschied am nächsten Morgen, der Blick in deine Augen, ein letztes Lächeln aus erschöpften liebevollen Augen. Der letzte Blick.
Das Crématorium von Père Lachaise. Ort einer Zeremonie für Jean-Philippe, jener Zeremonie des Abschieds, nach den Regeln des Nichiren-shū Buddhismus, jener japanischen Variante des Buddhismus, die ihm in den letzten Monaten so wichtig geworden, mir immer fremd geblieben war. Dieser Zeremonie, die sich so tief in meine Erinnerungen eingegraben hat. Und die doch so fern und unerreichbar liegt, in tiefem Nebel undurchdringbar. Filmriss.
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Paris.
Viele Jahre ist all das her.
Paris, das sind viele viele liebevolle Erinnerungen. Einige sehr schmerzhafte.
Zweimal war ich nach Jean-Philippes Tod und Einäscherung 1990 noch in Paris. Es war nicht mehr die selbe Stadt für mich. Das lustvolle Herumstromern und Entdecken, das sich-treiben-lassen, das gelassene Spazieren und Cruisen, all das ging nicht mehr. Für mich nicht.
Die Lust auf Paris, sie war zerstoben. Und ist nie wieder ganz zurück gekehrt.
Manchmal überlege ich inzwischen, es wieder neu ‚mit Paris zu versuchen‘.
Manchmal.
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