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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids Paris

Paris: Bareback-Party von ACT UP verhindert

Paris: Aktivisten der Aids-Aktionsgruppe ACT UP haben am 4. Oktober 2008 eine Bareback-Party in Paris mit Aktionen verhindert.

„Aids-Komplizen“, „Nein zum Bareback-Business“ oder „Hier zählt das Leben eines Schwulen nichts“ – mit provokanten Parolen und Rufen hat ACT UP Paris mit 15 Aktivisten am Samstag, 4. Oktober 2008 in Paris eine Bareback-Party verhindert.

ACT UP Paris protestiert vor dem Pariser Banque Club gegen eine Bareback-Party (Foto: ACT UP Paris)
ACT UP Paris protestiert vor dem Pariser Banque Club gegen eine Bareback-Party (Foto: ACT UP Paris)

Der ‚Banque Club‘ ist ein beliebter Club im 8. Arrondissement von Paris, der sich auf seiner Internetseite selbst als „underground sex area“ bezeichnet. Für den Abend des 4. Oktober war der gesamte Club für eine Bareback-Party reserviert. Für die Teilnahme an der Party war eine Anmeldung über das Internet erforderlich, ein Eintritt von 18,50 Euro wurde vorab erhoben – erst dann wurde die Adresse der Party-Location mitgeteilt.

Veranstalter der geschlossenen Party war die Internetseite ’squatNOk‘, ein französischsprachiges Internetangebot für Barebacker. Dieses ist seit Oktober 2008 ein völlig privates Portal, das -außer dem Info-Bereich zu STDs, Testmöglichkeiten etc.- nur nach Einladung mit Zugangscodes genutzt werden kann (1). Zukünftig solle alle zwei Monate eine solche Party stattfinden, hatten die Veranstalter vorab angekündigt.

ACT UP Paris forderte „alle Schwulen Paris‘ auf, ein Etablissement zu boykottieren, das auf eure Gesundheit pfeifft“. ACT UP wies darauf hin, dass der Banque Club Mitglied der SNEG ist und die französische Präventionsvereinbarung (siehe ‚HIV Präventionsvereinbarung‘) unterzeichnet hat. Schon in früheren Aktionen hatte sich ACT UP Paris gegen den Club gewandt, mit dem wiederholten Vorwurf hier würden nicht einmal Mindestanforderungen wie die Bereitstellung von Kondomen und Gleitgel erfüllt. Mit riskantem Sex dürfe kein Geschäft gemacht werden.

ACT UP Paris rief zum Boykott des betreffenden Clubs auf und kündigte an, auch zukünftig gegen Etablissements vorgehen zu wollen, die Bareback-Sex ermöglichen.

‚Das könnte die letzte Bareback-Party in einem Sex-Club in Paris gewesen sein‘, befürchete schon das französische  Homo-Magazin Tetu.

Anmerkungen:
(1) Auf der Site heißt es „A compter du 5 octobre 2008, le Squat NOK est devenu entièrement privé. Sans être coloc il est devenu impossible de voir la cour et pour demander une piaule il faut y avoir été invité par un autre coloc. Le coloc invitant devient responsable de ses invités.“

Aus den vorliegenden Berichten ist unklar, ob die Bareback-Party letztlich doch offen für jedermann war, oder (wie bei ähnlichen Anlässen in Deutschland inzwischen eher üblich) gezielt als Party nur für Menschen mit HIV deklariert.
Die Pariser ACT UP – Gruppe ist für ihre Radikalität und insbesondere für ihre von manchen als ’stalinistisch‘ empfundene Haltung in Sachen ‚Bareback‘ bekannt.
In diesem Fall scheint das Engagement der Gruppe grenzwertig. Nicht nur, dass (wieder einmal) undifferenziert bareback und unsafer Sex gleichgesetzt werden. ACT UP scheint in Frankreich manchmal nicht in der Lage zu sein zu unterscheiden zwischen aktivem Einsatz für Prävention und Gesundheitsförderung und dem berechtigten Anliegen mancher Menschen, ohne Kondom Sex mit einander zu haben (der auch dann unter manchen Umständen safer oder auch nicht-infektiös sein kann).
Die Frage bleibt, ob solche provokanten Aktionen auf berechtigte Anliegen aufmerksam machen und auf Probleme hinweisen – oder ob sie in eine Polarisierung und Eskalation neuer Verbote (und Abdrängen in noch schwerer erreichbare Räume) führen.
So wenig ein in unseren Sexleben schnüffelnder und herumregelnder Staat erstrebenswert ist, genauso wenig scheint ACT UP als selbsternannte aktivistische Gesundheitspolizei ohne jegliche Legitimation eine angenehme Alternative zu sein.

Fast mag man sich angesichts Pariser Verhältnisse freuen, dass Forderungen à la ‚Bareback-Parties verbieten‚ hierzulande bisher ’nur‘ von den Schwusos kommen.
An Orten, an denen schwuler Sex stattfindet, sollte die Bereitstellung des erforderlichen ‚Zubehörs‘ (sprich Kondome, Gleitgel, Handschuhe etc.) selbstverständlicher Kundendienst sein. Orte, die ihren Kunden diesen Service nicht bieten – könnten einfach zugunsten besserer Alternativen gemieden werden.
Letztlich ändert jedoch auch die best-funktionierende Präventionsvereinbarung nichts daran, dass jeder -erst recht jeder, der einen Ort schwulen Sex‘ besucht- selbst dafür verantwortlich ist, seine Schutz-Möglichkeiten, also z.B. Kondome, bei sich zu haben.
Andererseits sollten sich jene Wirte so manchen schwulen Etablissements auch hierzulande, die sich immer noch weigern, in ihren Unternehmen Kondome auszugeben, fragen, ob sie hier nicht nur ihren Communities und Kunden, sondern nicht letztlich auch sich selbst einen Bärendienst erweisen.

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Text 15. März 2017 von ondamaris auf 2mecs

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Köln

schwules Vinyl – Homosexualität auf Schallplatte

Schwules Vinyl, schwuler Schellack, schwules Polycarbonat … all das erwartete den Besucher 2008 in der Ausstellung ” 100 Jahre Homosexualität auf Schallplatte ”.

‘Die Geschichte der Homosexualität auf Platte’ – nicht weniger verspricht die kommende Ausstellung des Centrums Schwuler Geschichte Köln “Wir sind, wie wir sind – 100 Jahre Homosexualität auf Schallplatte ”.

Ralf Jörg Raber, Initiator der Ausstellung, im Interview mit blu.fm:

“Die Ausstellung bietet einen Überblick vom Kaiserreich bis in die Gegenwart, bezieht also die CD mit ein, stellt die Epochen, wichtige Lieder und Personen vor. Ich sammele seit langem Platten aus den letzten 100 Jahren Musikgeschichte – mit dem Fokus auf Homosexualität.”

Die Ausstellung geht aber auch auf aktuelle homophobe Entwicklungen ein:

“Leider nahmen in den letzten zehn Jahren auch wieder schwulenfeindliche Lieder zu, insbesondere im Rap- und Hip-Hop-Lager. Auch diese Entwicklung wird dokumentiert.”

Wir sind, wie wir sind – 100 Jahre Homosexualität auf Schallplatte
Ausstellung des Centrum Schwule Geschichte Köln (CSG) in der Galerie 68elf
ab 25. Oktober 2008 in der Galerie 68elf (Köln, Im Mediapark 4)
Vernissage am 25. Oktober 2008 um 19:00 Uhr

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Berlin

Euthanasie Mordaktion T4 – der erste NS- Massenmord

Mordaktion T4 : ab April 1940 wurde in Berlin in der Tiergartenstrasse 4 die Vernichtungsaktion psychisch Kranker und Behinderter geleitet und gesteuert. Hier saßen die Schreibtischtäter der Verfolgung und Vernichtung, insbesondere der berüchtigten ‘Mordaktion T4′.

Mordaktion T4
Mordaktion T4
Mordaktion T4 - Gedenktafel
Mordaktion T4 – Gedenktafel

Für die ‚Euthanasie‘-Mordaktion hatte der NS-Staat sechs Tötungsanstalten eingerichtet:

  • Bernburg
  • Brandenburg
  • Grafeneck
  • Hadamar
  • Hartheim und
  • Pirna-Sonnenstein.
Mordaktion T4 - Gedenktafel
Mordaktion T4 – Gedenktafel

Der erste Transport fand am 18. Januar 1940 statt, 25 Patienten von der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar in die Tötungsanstalt Grafeneck.

Insgesamt wurden in der Mordaktion T4 über 70.000 Menschen ermordet. Nach öffentlichen Protesten wurde sie am 24. August 1941  formell unterbrochen (‚Euthanasiestopp‘), de facto jedoch fortgesetzt.

Wie auch bei anderen NS-Euthanasie-Programmen gab es nahezu keine Überlebenden der ‘Aktion T4‘.

Unter den Schreibtisch-Tätern der Aktion war auch (als Gutachter) Carl-Heinz Rodenberg, der später wissenschaftlicher Leiter der ‘Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung‘ wurde.

Kaum einer der Täter wurde nach 1945 strafrechtlich verfolgt. Der Leiter der Aktion, August-Dietrich Allers, wurde 1948 trotz Wissens um die Mordaktion T4 entnazifiziert und arbeitete als Anwalt. Er wurde 1968 / 1972 zu 8 Jahren Haft verurteilt, musste die Haftstrafe jedoch u.a. wegen Anrechnung der Untersuchungshaft nicht antreten. Der ‚Obergutachter‘ Werner Heyde konnte (ähnlich wie der Massenmörder Heinz Reinefarth) nach 1945 in Schleswig-Holsetin karriere machen.

Mordaktion T4 – Denkmal der grauen Busse 2008

Mordaktion T4 - 'Denkmal der grauen Busse'
Mordaktion T4 – ‚Denkmal der grauen Busse‘ 2008

Als vorläufiges Mahnmal für die Euthanasie-Opfer erinnerte 2008 das ‘Denkmal der grauen Busse‘:

Ein grauer Bus aus Beton in Originalgröße, ein Bus wie er typisch war für die Busse der Tarnorganisation ‘Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft’ (GEKRAT), ein Denkmal ‘mit einem Gang in der Mitte und der überlieferten Frage eines Patienten “wohin bringt ihr uns?”

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Mordaktion T4 – Gedenktafel Stralsund

Am Hauptbahnhof Stralsund wird mit einer Gedenktafel an 1.160 psychisch Kranke erinnert, die im Rahmen der Euthanasie-Mordaktion von hier aus abtransportiert und ermordet wurden:

Mordaktion T4 - Gedenktafel Stralsund Hauptbahnhof
Mordaktion T4 – Gedenktafel Stralsund Hauptbahnhof

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Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde 2015

Der Deutsche Bundestag beschloss im November 2011, einen „Gedenkort für die Opfer der NS-‚Euthanasie‘-Morde“ am historischen Ort der Planung dieser Verbrechen einzurichten. Realisiert wurde nach einem 2012 ausgelobten Wettbewerb der Entwurf der Architektin Ursula Wilms, des Künstlers Nikolaus Koliusis und des Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann. Am 2. September 2014 war die Eröffnung des Gedenkorts.

Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen 'Euthanasie'-Morde, Juni 2015
Mordaktion T4 – Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde, Juni 2015
Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen 'Euthanasie'-Morde, Juni 2015
sog. ‚Euthanasiemorde‘ – Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde, Juni 2015

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Ermordung psychisch Krankner und geistig Behinderter in Frankreich während der NS-Besatzung

Auch in Frankreich, unter der NS-Besatzung wie auch in Vichy-Frankreich, wurden psychisch Kranke und ‚geistig Behinderte‘ verfolgt und ermordet.

Präsident Hollande kündigte 2015 an, sie zu ehren.

Seit 10. Dezember 2016 erinnert eine Plakette auf der place du Trocadero in Paris:

« Ici, le 10 décembre 2016, la Nation a rendu hommage aux 300 000 victimes civiles de la seconde guerre mondiale en France. 45 000 d’entre elles, fragilisées par la maladie mentale ou le handicap et gravement négligées, sont mortes de dénutrition dans les établissements qui les accueillaient. Leur mémoire nous appelle à construire une société toujours plus respectueuse des droits humains, qui veille fraternellement sur chacun des siens. François Hollande, Président de la République. »

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Homosexualitäten Politisches

Emslandlager: würdigeres Gedenken an homosexuelle NS-Opfer?

Das Gedenken an die früheren KZ und Strafgefangenenlager im Emsland, die so genannten Emslandlager, ist bisher eher karg. Besonders der (in einzelnen Emslandlagern zeitweise sehr zahlreichen) homosexuellen NS-Opfer wird bisher kaum gedacht. Die neu zu konzipierende Dauerausstellung der zukünftigen ‘Gedenkstätte Esterwegen’ bietet die Chance, dies zu ändern.

Anfang August hatte ich einige der Emslandlager (der KZs und späteren Strafgefangenenlager im Emsland) besucht (Esterwegen, Börgermoor und Neusustrum). Und war unangenehm überrascht, sowohl was allgemein die Art des Gedenkens in der Region und an den Orten der früheren Lager angeht, als auch in welcher Form den homosexuellen NS-Opfern in den Lagern gedacht (bzw. nicht gedacht) wird.

Am Ort des ehemaligen KZ und Strafgefangenenlagers Esterwegen befindet sich inzwischen eine Gedenkstätte im Aufbau. Getragen wird sie von der vom Landkreis Emsland eingerichteten ‘Stiftung Gedenkstätte Esterwegen’. In der zukünftigen Gedenkstätte soll eine neu zu konzipierende Ausstellung über die Emslandlager informieren. Diese Ausstellung wird von der Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager (getragen vom privaten Verein “Aktionskomitee für ein DIZ Emslandlager e.V.”)  konzipiert.

Dem Leiter des Dokumentations- und Informationszentrums DIZ Emslandlager habe ich am 14.8.2008 über meine Eindrücke geschrieben und das weitgehende Fehlen eines Gedenkens der homosexuellen Opfer moniert:

“Ich habe nach der Gedenkstätte Esterwegen noch das ehem. Lager Neusustrum sowie schon vorher das ehem. Lager Börgermoor besucht. Und war erschrocken über die Art, wie derzeit gedacht wird. Wie schwer die Gedenkorte zu finden sind, wie ‘mickrig’ diese sind – und wie verfälschend, einseitig beleuchtend ich die Texte teilweise empfinde.
Besonders betroffen hat mich gemacht, dass der homosexuellen Opfer meiner Ansicht nach kaum entsprechend würdig gedacht wird.
“an keinem Ort im Deutschen Reich [waren] mehr Homosexuelle in Haft … als in den Emslandlagern*”, schreibt Hoffschild 1999. Doch – an diesem für die Verfolgung der Homosexuellen in der NS-Diktatur so bedeutenden Ort findet ein angemessenes Gedenken an diesen Sachverhalt bisher nicht statt.
Mir ist bewusst, dass Homosexuelle nur eine Opfergruppe unter vielen waren, und auch nicht die zahlenmäßig stärkste. Aber für die Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus scheinen die Emslandlager von ausgesprochen besonderer Bedeutung – wie ja auch aus zahlreichen Zeitzeugen-Berichten hervor geht (Links in meinem Neusustrum-Blogpost, s.u.).
Ich würde mich freuen, wenn die Neu-Konzeption der Gedenkstätte Esterwegen und der für dort vorgesehenen Ausstellung die Möglichkeit bieten würde, auch klarer auf die besondere Bedeutung einzugehen, die die Emsland-Lager bei der Verfolgung der Homosexuellen in der NS-Zeit haben.”

Kurt Buck, Leiter des Dokumentations- und Informationszentrums Emslandlager, hat am 27.8.2008 geantwortet:

“Vielen Dank für Ihr Schreiben vom 14. August und für die zahlreichen Hinweise, die ich durch Ihre Verweise auf Links erhalten habe. … Ich stimme Ihnen völlig zu, dass Homosexuelle als Verfolgte und Inhaftierte in den Emslandlagern bisher kaum und in jedem Fall unzureichend in Darstellungen über die Emslandlager und auch in unserer 1993 fertig gestellten Ausstellung eine Erwähnung finden.”

Er erläutert auch, dass dies zeitweise anders war und wie es zu dieser jetzigen Unter-Repräsentation kam:

“Wir hatten ab 1993 im Aufgang zwischen unseren beiden Ausstellungsräumen einzelne ehem. Häftlinge, die exemplarisch für sechs Verfolgtengruppen standen, mit Foto und Kurzbiographie auf Stofffahnen dargestellt, darunter auch Paul Gerhard Vogel, der uns vor vielen Jahren für mehrere Tage besucht hatte. Einige Jahre später ergaben Recherchen, dass Gerhard Vogel u.a. wegen “sexueller Handlungen mit Kindern” verurteilt worden war, und wir haben uns dann entschlossen, die Fahne abzunehmen und ihn nicht beispielhaft für die Verfolgtengruppe der Homosexuellen darzustellen.”

Buck berichtet über konkrete weitere Anläufe, der Opfergruppe der Homosexuellen zu gedenken:

“Vor einigen Jahren hatte ich Besuche und mehrere Gespräche mit Mitgliedern der schwul-lesbischen Studentengruppe an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, die initiativ werden wollte, um einzelne Biographien von Homosexuellen der Emslandlager aufzuarbeiten, uns zur Verfügung zu stellen und beispielhaft eine Person auf einer Fahne im Treffenaufgang vorzustellen. Möglicherweise durch Wechsel in der Gruppe (Studienabschluss?) kam es dann aber nie zu einem Ergebnis.”

Buck sieht auch weiterhin Möglichkeiten beim DIZ, deren Umsetzung derzeit jedoch an der sehr engen Mittel-Situation des Dokumentations- und Informationszentrums Emslandlager (zur Erinnerung: getragen von einem kleinen privaten Verein) scheitern:

“Denkbar wäre es durchaus, aufgrund vorliegender Arbeiten einzelne Biographien zu erarbeiten, aber auch das können wir personell aufgrund des “Tagesgeschäfts” nicht leisten. Ein grundsätzliche Problem für unsere Einrichtung ist es, dass wir mit nur zwei festen hauptamtlichen Mitarbeitern (Leitung und Verwaltung) keine eigenständige Forschung zu Einzelthemen der Lagergeschichte betreiben können und in der Darstellung der Geschichte auf anderswo stattfindende Forschungsarbeiten angewiesen sind.”

Eine gewisse Hoffnung besteht allerdings – denn die Gedenkstätte Esterwegen wird neu konzipiert:

“Ich gehe davon aus (und anders kann es eigentlich nicht sein), dass für eine neue Ausstellung in der Gedenkstätte Esterwegen, die unter Trägerschaft der vom Landkreis Emsland eingerichteten Gedenkstätte Stiftung Esterwegen und in Zusammenarbeit mit uns konzipiert werden soll, Recherchen zu allen in den Emslandlagern inhaftierten Opfergruppen stattfinden und diese Gruppen auch anders als bisher eine breitere Erwähnung/Darstellung finden müssen. Durch mehrere Arbeiten, die Sie auch erwähnen, gibt es hierfür einige Grundlagen. Bisher haben allerdings noch keine Diskussionen über eine Ausstellungskonzeption stattgefunden.”

Herrn Buck sei auch an dieser Stelle nochmals gedankt für seine sehr informative, ausgewogene und wertfreie Führung durch die Gedenkstätte sowie die Offenheit, auch bisher unterrepräsentierten Opfergruppen zukünftig größeren Raum zu gewähren. Es bleibt zu hoffen, dass die Stiftung bei der Konzeption der neuen Ausstellung zu einer über die bisherigen, eher beklemmenden Formen des Gedenkens in der Region hinausreichenden Form des Gedenkens kommt – und auch homosexuelle NS-Opfer würdig in dieses Gedenken und in die neuen Dauerausstellung mit einbezieht.

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Emslandlager

Als Emslandlager wird eine Gruppe von Strafgefangenen-, Konzentrations- sowie Keriegsgefangenenlagern im Emsland sowie der angrenzenden Grafschaft Bentheim bezeichnet:

Zentral verwaltet wurden die Enslandlager von Papenburg aus.

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Deutschland

Käseglocke Worpswede Bruno Taut 1926

Die “Käseglocke” – das Holz-Wohnhaus des Schriftstellers Edwin Koenemann in Worpswede wurde von diesem 1926 (Fertigstellung) nach Plänen von Bruno Taut aus den Mittel einer Erbschaft gebaut.

Käseglocke Bruno Taut 1926
‚Käseglocke‘ – Bruno Taut 1926

Bruno Taut (4. Mai 1880 – 24. Dezember 1938) war ein Vertreter des Neuen Bauens, der später u.a. durch die Großsiedlung ‘Hufeisensiedlung’ in Berlin Britz (zusammen mit Martin Wagner) bekannt wurde. Sie ist seit 7.7.2008 Weltkulturerbe.

Edwin Koenemann (1883 – 1960), Schriftsteller und Fremdenführer (‚1. Worpsweder Gästeführer‘), lebte ab 1908 in Worpswede. Er nannte sein Haus in Form eines Iglu das ‚Glockenhaus‚.
Noch in der Baugenehmigung gab er das Haus als eigenen Entwurf aus, nannte Taut nicht. Taut hatte den Entwurf zu einem solchen Gebäude (‚Wärterhaus‚, für eine Ausstellung in Magdeburg) mit Zeichnungen 1921 in der 1921/22 erschienenen Architekturzeitschrift ‚Frühlicht‘ veröffentlicht.

Bruno Taut besuchte zwar Worpswede, eine Meinung von ihm zu Koenemanns ‚Plagiat‘ ist jedoch nicht überliefert. Erst in den 1980er Jahren, weit nach Koenemanns und Tauts Tod, wurde der Schwindel publik, das Plagiat als solches erkannt.

Nach Koenemanns Tod erbte dessen Frau das Haus. Sie wohnte dort bis 1992. Nach ihrem Tod erwarb der Verein ‚Freunde Worpswede e.V.‘ das Gebäude.

Die Käseglocke steht inzwischen unter Denkmalschutz. Nach umfassender Renovierung wurde das Gebäude am 1. Mai 2001 wieder eröffnet.

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

EKAF im Alltag – Drohkulisse oder Chance?

Welche Konsequenzen hat das EKAF-Statement zur Infektiosität bei erfolgreicher Therapie, für Positive, für die Betroffenengruppen, für die Prävention? Eine spannende Podiumsdiskussion befasste sich mit den Konsequenzen des EKAF-Statements für den Alltag.

Im Januar 2008 veröffentlichte die Eidgenössische Aids-Kommission EKAF ihr Statement (siehe ‚keine Infektiosität bei erfolgreicher Therapie ohne andere STDs‘). Ein Statement, das heftige Reaktionen von verschiedensten Seiten auslöste, von „endlich spricht jemand das aus …“ bis „das darf man doch nicht laut sagen …„. Anlässlich der Welt-Aids-Konferenz in Mexiko Stadt im August 2008 präsentierten Positive das Mexico Manifest, in dem sie forderten, das Statement anzuerkennen und zu einer offenen Debatte und uneingeschränkten Aufklärung zurück zu kehren.

‚EKAF – Konsequenzen für den Alltag?‘, unter diesem Titel fand am 13. September 2008 im Rahmen des Kongresses ‚HIV im Dialog‘ eine lebhafte Podiumsdiskussion zu dem Schweizer Statement statt. Unter Moderation von Corinna Gekeler (Berlin) diskutierten Michael Jähme (Köln), Götz Bähr, Matthias Hinz und Jens Ahrens (alle Berlin).

EKAF - Konsequenzen für den Alltag? - Podiumsdiskussion 13.9.2008
EKAF – Konsequenzen für den Alltag? – Podiumsdiskussion 13.9.2008

Das Bild von Positiven werde sich in der Gesellschaft in Folge des EKAF-Statements verändern, betonte Michael Jähme und verwies auf das große Potential an entstigmatisierender und Diskriminierung abbauender Wirkung, das mit dem EKAF-Statement genutzt werden sollte.
Auch kondomfreier Sex könne unter bestimmten Umständen safer Sex sein. Dies werde sicherlich die künftige Prävention komplizierter gestalten – aber da müsse sich die Prävention einer veränderten Realität anpassen. Zudem liege hierin doch auch die Chance, dass Positive nun einen noch größeren Anreiz hätten, auf ihre Gesundheit zu achten.

Götz Bähr wies darauf hin, dass das EKAF-Statement für eine kleine Gruppe eine neue Perspektive biete – nur denjenigen Positiven, die eine Kombitherapie machen. Dies seien vielleicht 30% aller Menschen mit HIV in Deutschland. Was sei mit den anderen? Entstehe nun ein Druck zu noch früherem Therapiebeginn? Vielleicht gar zu einem Therapiebeginn nicht aus medizinischen sondern epidemiologischen oder psychologischen Gründen? Zudem, Motor der HIV-Infektion seien diejenigen, die ungetestet aber mit HIV infiziert seien – eine Frage, die nicht außer Acht geraten dürfe, wo blieben hier die Test-Kampagnen?
Es müsse zudem im Fokus bleiben, dass HIV-Negative und Ungetestete sich weiterhin bemühen negativ zu bleiben. EKAF sei hier ein Moment zusätzlicher Sicherheit. Die Verantwortung dürfe jedoch nicht noch mehr einseitig auf HIV-Positive verschoben werden.
Zudem könne das EKAF-Statement dazu führen, dass der Druck auf Positive jetzt noch mehr wachse, sich zu offenbaren – vielleicht sogar mit ‚Offenlegung der Werte‘.

Matthias Hinz warnte vor der ‚Monogamie-Falle‘ – nirgends im EKAF-Statement wird Monogamie als Bedingung genannt, vielmehr heißt es in dem Artikel von Vernazza et al. „HIV-infizierte Menschen ohne andere STD sind unter wirksamer antiretroviraler Therapie sexuell nicht infektiös“. Zudem sehe er die Gefahr einer Re-Medikalisierung der Debatte, wenn z.B. in der Tendenz auch die früher von den Communities entwickelte und getragene Prävention (bei MSM) nun von ‚Experten‘, von Medizin und Pharma vereinnahmt werde.
Der Slogan ‚Kondome schützen‘ sei heute kaum noch situationsgerecht. Die Zeit der einfachen Botschaften sei vorbei; nicht nur die Zeit, auch die Bedrohung sei eine andere geworden. Er stelle die Prognose, der Slogan ‚Kondome schützen‘ werde irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft nicht mehr verwendet. Nicht etwa, weil er obsolet geworden sei, sondern weil er der Komplexität der Situation nicht mehr gerecht werde.

Hinz wies darauf hin, dass seit Jahrzehnten durch die Angst von Positiven, für andere eine Quelle der Ansteckung zu werden, weitaus mehr Neuinfektionen verhindert wurden als durch jedes Selbstschutz-Interesse von Nicht-Positiven oder Präventionskampagnen. Wenn diese oft stark übersteigerte Angst nun zumindest etwas auf ein realistischeres Maß zurückgeht, sei das im Interesse der Positiven zu begrüßen. Das Argument, dass die Prävention diese Angst zum Funktionieren braucht, sei vielleicht verständlich, es wäre aber unethisch und kontraproduktiv, diese (endlich) weniger werdende Angst künstlich am Leben halten zu wollen. Hier müsse sich die Prävention was anderes einfallen lassen, um mit den sich verändernden Umständen umzugehen.

Immer wieder war in den Diskussionen die vielfach wahrnehmbare Angst Dritter (z.B. aus Politik und Verwaltung) Thema, „wir (die Positiven) könnten unsere Angst verlieren, andere zu infizieren“. Werde hier versucht eine Angst zu Lasten von Menschen mit HIV aufrecht zu erhalten, um nur nicht an alten Präventionskonzepten rühren zu müssen?
„Ich stelle mich als HIV-Positiver nicht mehr als Drohkulisse zur Verfügung!“, kommentierte dazu Michael Jähme. Überall freue man sich über Fortschritt in der HIV-Forschung – warum ausgerechnet hier nicht?

Eine spannende, inhaltlich sehr dichte und facettenreiche Diskussion – dank pointierter wie auch kenntnisreicher Beiträge der Diskutanten und besonders der intensiven Vorbereitung und guten Moderation durch Corinna Gekeler. Vielleicht beteiligen sich beim nächsten Mal auch die anwesenden Vertreter aus Politik und Verwaltung an der Diskussion?

‚Die Debatte um die Bedeutung des EKAF-Statements wird nur weiter gehen, wenn wir uns selbst darum kümmern‘, hatte Michael Jähme zu Beginn der Diskussion betont. Diese Veranstaltung wies einen guten Weg, wie Debatten inhaltsreich weiter geführt werden können – ohne Polemik, aber mit kontroversen Themen und Diskussionen.

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Text 15. März 2017 von ondamaris auf 2mecs

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Homosexualitäten

schwule Spießer

Gedanken zum Samstag.

“Schwule wollen nicht schwul sein, sondern so spießig und kitschig leben wie der Durchschnittsbürger. … Da die Schwulen vom Spießer als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie, noch spießiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Übermaß an bürgerlichen Tugenden. Ihre politische Passivität und ihr konservatives Verhalten sind der Dank dafür, dass sie nicht totgeschlagen werden.”

Dieses Zitat ist – nein, nicht von 2008, nicht von 2007, sondern von 1971. Obwohl es mir wie ein Kommentar zu vielen heutigen Darstellungen / Zerrbildern schwuler Realitäten scheint. Und, ja, es ist unser gutes Recht, (auch) spießig zu sein. Aber nur, und alle? Nur schwule Spießer ? Das ist mir zu wenig …

Das obige Zitat ist von Martin Dannecker / Rosa von Praunheim aus dem Film “Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt” von 1971.

… auch wenn Adrian meint, dass es “keinen Schwulen interessieren muss, was Rosa von Praunheim für ihn als angemessen erachtet.”
… Muss nicht, darf aber

😉

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Virus-Mythen 2: verantwortungslose Schwule

Samstag 13. September 2008, ein recht kleiner Kreis von Menschen diskutiert während der Konferenz ‚HIV im Dialog‘ über die Versorgungssituation HIV-Positiver auf dem Land.
Völlig zusammenhanglos (diskutiert wird gerade die ärztliche Versorgung auf dem Land) ist plötzlich vom Podium, von einem der Referenten der Satz zu hören:

„In Hannover ist es übrigens gerade in Mode, nach Berlin zu fahren um sich infizieren zu lassen.“

Etwaiger lauter Protest ist aus dem Publikum oder vom Podium nicht zu vernehmen.

(Pastor Ernst-Friedrich Heider, / Aids-Pastor, HIV/AIDS-Seelsorger in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers und Regionalkoordinator Nord des Aktionsbündnisses gegen Aids)

Leider taucht derartiger Unsinn immer wieder in Debatten, Foren, Stammtisch-Runden auf.

Spannend ist ja zunächst, was der Erzähler dieser Märchen damit sagen will.
Sind die Züge von Hannover nach Berlin voll mit jungen attraktiven Menschen, zutiefst bereit sich in Berlin hemmungslos in die Sünde zu begeben, wissentlich darin sich größtes Leid zu holen?
Ist in Hannover so wenig los? Kann man sich gar in Hannover überhaupt nicht mit HIV infizieren und muss dazu reisen?
Oder sind Hannoveraner dazu nur zu unwissend?
Oder die Aids-Hilfe vor Ort besonders unfähig oder untätig?
Oder meint der Erzähler, gerade Berlin sei das große Sünden-Babel Deutschlands? Erst recht für unschuldige Hannoveraner?
Wahr ist vermutlich nichts davon, nicht einmal letzteres.

Indirekt aber wird damit vielleicht ganz anderes gesagt, ob absichtlich oder nicht. Seht her, die Schwulen sind so blöde, so dermaßen verantwortungslos, wenn nicht gar menschenverachtend, die wollen sich sogar schon absichtlich infizieren. Oder: soweit haben wir es schon kommen lassen, dass die Schwulen gar keine Angst mehr vor Aids haben (sondern es toll finden, infiziert zu sein).

Derartige Mythen von  verantwortungslosen Schwulen, ebenso wie der Mythos von verantwortungslosen Positiven immer wieder gerne kolportiert, sind im Kern zutiefst schwulen- und positiven-feindlich.
Sie befördern unterschwellig Diskriminierung und Stigmatisierung – und schaffen ein Klima, das populistische Parolen begünstigt.
Information, Prävention hingegen enthalten derartige Mythen nicht.

Warum werden solche Märchen immer noch laut kolportiert, und das gerade auch auf einem Aids-Kongress? Und niemand widerspricht?

Dass dieses Märchen im aktuellen Fall gerade von einem Kirchen-Vertreter kolportiert wird (auf dessen Internetauftritt zudem steht die Aids-Seelsorge sehe „sich herausgefordert im Kampf gegen Vorurteile und Stigmatisierungen„), hat dazu noch einen besonders faden Beigeschmack. Auch wenn Pastor Heider sich oftmals differenziert äußert und für zahlreiche Projekte (wie z.B. heroingestützte Therapie) einsetzt (und sicher nicht mit ‚Gloria‘ zu vergleichen ist) – ein derartiger Lapsus ist m.E. nicht nur peinlich, sondern unentschuldbar.

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Text 15. März 2017 von ondamaris auf 2mecs

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Homosexualitäten

Homosexuelle – lange Zeit ‘vergessene’ NS-Opfer?

Homosexuelle wurden in großer Zahl während des deutschen Nationalsozialismus verfolgt, gequält, ermordet. Als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurden sie lange Zeit nicht. Es bedurfte einer besonderen Rede, 40 Jahre nach Kriegsende.

Homosexuelle wurden nach 1945 für ihre Verfolgung, für Haft und KZ-Aufenthalte nicht entschädigt. Ihrer wurde nicht gedacht. Sie fanden offiziell nicht statt.

Erst 1985 wurde in West-Deutschland erstmals ‘offiziell’ der Verfolgung Homosexueller in der NS-Zeit gedacht. Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1920 – 2015) erinnerte in seiner Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa auch an die homosexuellen Opfer.

Weizsäcker stellte in seiner Rede klar, dass der 8. Mai ein Tag der Befreiung war und formulierte:

“Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.
Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft.
Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden.
Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben.
Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.
Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mußten.
Wir gedenken der erschossenen Geiseln.
Wir denken an die Opfer des Widerstandes in allen von uns besetzten Staaten.
Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten.
Wir gedenken derer, die nicht aktiv Widerstand leisteten, aber eher den Tod hinnahmen, als ihr Gewissen zu beugen.”

Vierzig Jahre nach Kriegsende findet erstmals ein westdeutscher Spitzenpolitiker und offizieller Repräsentant des Staates Worte des Gedenkens auch für die homosexuellen NS-Opfer.

Der komplette Text der Rede kann auf den Seiten des Bundestags gelesen werden (auf den Seiten des Bundespräsidenten hier). Die Rede ist bei einigen Landeszentralen für politische Bildung als Video verfügbar (z.B. NRW).

Die Verfolgung Homosexueller nach §175 in der von den Nazis 1935 verschärften Fassung ging in West-Deutschland bis 1969 weiter. Von Januar 1950 bis Dezember 1969 wurden 50.887 Verurteilungen nach den Paragraphen 175 und 175a eingeleitet (nach Lautmann).

1995 wurde einer Anregung von Bundespräsident Roman Herzog entsprochen, den Auszug aus der Rede Richard von Weizsäckers in die Gestaltung des offiziellen Gedenkorts der Bundesregierung, die ‘Neue Wache’, mit einzubeziehen. Seitdem heißt es dort u.a.

„Die Neue Wache ist der Ort der Erinnerung und des Gedenkens an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Wir Gedenken der Völker, die durch Krieg gelitten haben. Wir gedenken ihrer Bürger, die verfolgt wurden und ihr Leben verloren. Wir gedenken der Gefallenen der Weltkriege, wir gedenken der Unschuldigen, die durch Krieg und Folgen des Krieges in der Heimat, die in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind. Wir gedenken der Millionen ermordeter Juden, wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, wir gedenken aller, die umgebracht wurden wegen ihrer Abstammung, ihrer Homosexualität oder wegen Krankheit und Schwäche. Wir gedenken aller, deren Recht auf Leben geleugnet wurde. Wir gedenken der Menschen, die Sterben mussten um ihrer Religion oder politischen Überzeugung willen. Wir gedenken aller, die Opfer der Gewaltherrschaft wurden und unschuldig den Tod fanden.“

Erst am 12. Dezember 2003 beschloss der Deutsche Bundestag die Errichtung eines Denkmals. Am 27. Mai 2008 wurde das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen offiziell eingeweiht.

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Waren Homosexuelle lange Zeit (mindestens bis zur Rede von Weizsäckers) ‘vergessen Opfer’ des Nationalsozialismus? Nein. Im Gegenteil, sie waren nicht nur “vergessene Opfer” des Nationalsozialismus (wie lange formuliert wurde), sondern “sie wurden in voller Absicht von den Opfergruppen und von einer Wiedergutmachung ausgenommen. Sie wurden also nicht als Opfer ‘vergessen’, sondern weiterhin zu Opfern gemacht” (Rüdiger Lautmann).

Nebenbei, bei Richard von Weizsäcker scheint die in seiner Rede vom 8. Mai 1985 zum Ausdruck kommende Haltung auch gelebte Realität zu sein. Als jüngst sein Sohn starb, stand in der Traueranzeige in der FAZ u.a. bei den trauernden Familienangehörigen auch der Name der Tochter nebst ihrer Lebenspartnerin.

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Politisches

11.9.1973: Putsch gegen Allende

11. September 1973. ‘Bildet eine Schlange, geht dann einer nach dem anderen durch das Tor. Ich komme als letzter heraus’, sagt der ältere Mann. Die Männer gehen durch die breite Tür der ‘Moneda’. Als der vorletzte Mann heraus geht, sind Schüsse zu hören. Salvador Allende hat seinem Leben am frühen Nachmittag des 11.9.1973 ein Ende gesetzt.

Im Morgengrauen des 11.9.1973 hatte das Militär Chiles unter General Augusto Pinochet gegen Präsident Salvador Allende geputscht. In den folgenden Jahren leidet Chile unter den Grauen einer blutigen Militärdiktatur, gekennzeichnet von Ausnahmezustand, Unterdrückung und dem massenhaften ‘Verschwinden’ von Bürgern.

Salvador Allende, 1970 bis 1973 Präsident Chiles (Foto: Biblioteca del Congreso Nacional de Chile)
Salvador Allende, 1970 bis 1973 Präsident Chiles (Foto: Biblioteca del Congreso Nacional de Chile; Lizenz cc by 3.0)

Salvador Allende, chilský prezident v letech 1970 – 1973. – Biblioteca del Congreso Nacional de ChileCC BY 3.0 cl

Salvador Allende war am 4. September 1970 in demokratischer Wahl zum Präsidenten Chiles gewählt worden. Am 4. November 1970 trat er sein Amt an. Er versprach auf legalem Weg “die politische Freiheit zur sozialen Freiheit” auszubauen. Unter seiner Präsidentschaft blieben in Chile Meinungs- und Pressefreiheit ebenso wie Parteienvielfalt erhalten.

Salvador Allende war keine drei Jahre im Amt. Heute vor 35 Jahren nahm er sich infolge des Putsches gegen ihn das Leben.

Zweifel am Selbstmord Allendes werden immer wieder geäußert. Bereits seit 1970 hatten die US-Regierung und der CIA auf den Sturz Allendes hingearbeitet (u.a. Projekt Fubelt). Am 29. Juni 1973 war ein erster Putschversuch eines Panzerregiments gescheitert. Die an den Putsch vom 11. September anschließende Militärdiktatur unter Pinochet wurde vom CIA massiv unterstützt.

2004 wurde eine “Nationale Kommission zur Untersuchung von politischer Haft und Folter (1973-1990)” eingesetzt, die nach sechsmonatiger Arbeit ihren Bericht vorlegte. Dieser Bericht ist inzwischen (2008) auch in Deutschland als Buch erschienen unter dem Titel “Es gibt kein Morgen ohne Gestern“.

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