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Politisches

Börgermoor – kaum Gedenken an die ‘Moorsoldaten’

Juni 1933 – der Bau des Konzentrationslagers Börgermoor beginnt, des ersten der später so genannten ‘Emslandlager’. Das Ziel zunächst: “1.000 in Schutzhaft befindliche Marxisten aus dem Ruhrgebiet” zu internieren.
Die Gefangenen des Lagers werden als billige Arbeitskräfte bei der Kultivierung des Moores benutzt.

Börgermoor und das Lied der Moorsoldaten

27. August 1933 – das ‘Lied der Moorsoldaten’ wird erstmals aufgeführt (am Ende einer Kulturveranstaltung , die von Häftlingen organisiert war). Es stammt von Johann Esser und Wolfgang Langhoff (Text) sowie als  Komponist Rudi Goguel, alle drei als Kommunisten Zeil der politischen Gefangenen im Lager. Alle drei überlebten die NS-Zeit.

Ein Chor aus 40 Gefangenen des KZ Börgermoor singen es an diesem Tag zur ‘Aufmunterung’ beim Lager-eigenen Theaterabend ‘Zirkus Konzentrazani’. Bereits zwei Tage später wird das Lied vom Lagerkommandanten verboten.

Das ‚Lied der Moorsoldaten‚ erreicht enorme Popularität – und gilt bald als die ‚Hymne des NS Widerstands‚.

Selbst die gegen Diktator Franco kämpfenden Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg singen es.

In von NS-Truppen besetzten und geteilten Frankreich wird es als Chant des Marais Lied der Resistance.

Lager Börgermoor – genutzt bis in die 1960er Jahre

April 1934 – das KZ Börgermoor wird aufgelöst und an die preußische Justizverwaltung übergeben. Es wird bis Kriegsende als Strafgefangenenlager weitergeführt. Ab 1942 waren hier überwiegend von Wehrmachtgerichten verurteilte Soldaten inhaftiert, 1944 mehrere Hundert ‘Nacht-und-Nebel-Gefangene’.

Am 10. April 1945 wurden die Gefangenen zu einem Todesmarsch nach Aschendorfermoor gezwungen.

Nach 1945 wird das Lager Börgermoor als Flüchtlingslager genutzt, später als Justizvollzugsanstalt (Strafanstalten Emsland, Abteilung Börgermoor).

In den 1960er Jahren werden die Lagerbaracken abgerissen.

Leiter des Lagers Börgermoor war von April 1938 bis Februar 1941 der von den Gefangenen wegens eines Sadismus gefürchtete Wilhelm Rohde (1890 – ?). Er wurde am 21. Februar 1950 vom Landgericht Berlin zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Am 31.Oktober 1959 wurde das Urteil aufgehoben und Rohde ‚wegen Mangels an Beweisen‘ freigesprochen. Er erhielt weiterhin seine Beamtenpension.

Börgermoor – kaum Gedenken an die ‘Moorsoldaten’

ehem. Konzentrationslager Börgermoor, Zustand 2008
ehem. Konzentrationslager Börgermoor, Zustand 2008

Bei einem Besuch 2008 erinnert an dieses KZ, an eines der ersten KZ in Deutschland überhaupt (u.a. neben Neusustrum und Esterwegen), an den Entstehungsort der ‘Moorsoldaten’ fast nichts.

An der Bundesstraße 401 findet sich ein kleines Hinweisschild ‘Ehemaliges Lager Börgermoor’ – welches sich kurz nach Überqueren des Küstenkanals linkerhand befand.

Das ehemalige Lagergelände wurde lange von einer Gärtnerei genutzt. An das Lager erinnern – leicht übersehbar – eine kleine Texttafel und ein Findling mit einigen Textzeilen aus den ‘Moorsoldaten’. Sonst nichts.

Moorsoldaten - Gedenkstein vor dem ehem. KZ Börgermoor
Moorsoldaten – Gedenkstein vor dem ehem. KZ Börgermoor

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Der Zustand des Ortes, an dem sich eines der ersten KZ in Deutschland befand, ist mehr als peinlich. Und er ist (ähnlich wie der Zustand am ehemaligen KZ Neusustrum) deutlicher Ausdruck davon, wie es um die Gedenk-Kultur an dieses Kapitel deutscher Geschichte in der Region bestellt ist.

Besonders befremdlich ist es, wenn auf der Erinnerungstafel noch heute zu lesen ist „Im Strafgefangenenlager waren bis Kriegsbeginn vorwiegend – auch nach heutigen Maßstäben – als ‘Verbrecher’ Einzustufende inhaftiert” … ob die ‘Marxisten aus dem Ruhrgebiet’, oder die dort inhaftierten Homosexuellen dies auch so gesehen haben? Auch der Folgesatz „Daneben gab es weiterhin politische Gefangene und durch neue Verordnungen Kriminalisierte” ist da wenig tröstlich …

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Politisches

Olympia 2008 China – fröhliche Feiern?

Olympia 2008 China – Zu Beginn der Olympischen Spiele sei daran erinnert, dass China nicht für alle Menschen ein Paradies oder auch nur ein Ort zum Feiern ist.

Was wird da gefeiert? Ein gestörtes und getrübtes Olympia, und Menschenrechte stören nur.

Im Gegensatz zu allen vorherigen Beteuerungen, mit Olympia werde sich alles bessern (mit denen sich das IOC immer noch die Taschen volllügt) hat sich die Menschenrechtslage in China vor den Olympischen Spielen eher noch weiter zum Negativen verändert, beklagt Amnesty International. Schlimmer noch, nicht trotz, sondern wegen Olympia habe sich die Lage verschlechtert.

Schwul oder lesbisch zu sein bleibt in China ein Tabu-Thema, schreibt der Uni-Spiegel.

Düster sieht es auch in Sachen Aids-Aktivismus aus. Immer wieder klagt China Aids-Aktivisten wie Hu Jia an. Verurteilt sie zu mehrjährigen Haftstrafen.  Immer wieder verschwinden Aids-Aktivisten. Der Ehefrau von Hu Jia, der im April zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, ist jüngst untersagt worden, ihm dringend benötigte Medikamente ins Gefängnis zu bringen. Hu Jia hat infolge einer Hepatitis B schwere Leberschäden.

Übrigens, fast scheint es kaum noch notwendig, das zu erwähnen, HIV-positive Menschen sind bei den Olympischen Spielen in China unerwünscht …

Und auch bei anderen Erkrankungen sieht es eher unschön aus, selbst Hepatitis B scheint staatsgefährdend zu sein. So wurden Lu Jun, ein Aktivist, der für die Interessen von Millionen Hepatitis-B-Infizierten in China eintritt, Schwierigkeiten gemacht. Er wurde bei der Einreise nach einer Hepatitis-Konferenz in Los Angeles verhaftet, seine Website geschlossen.

Die sind alles nur einzelne kleine Beispiele. In China werden Menschenrechts-Aktivisten weiterhin mundtot gemacht, jegliche Versprechen des Landes wie des IOC, Olympia werde für mehr Freiheit sorgen, habe sich als bunte Seifenblasen erweisen.

Deswegen bleibt’s dabei – ‘Olympia in China – ohne mich‘ oder mit mahas Worten ‘I’m fed up!‘

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siehe auch: Montargis – Wiege der KP China

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Berlin

Mit dem U-Bahn-Cabrio Berlin durch den Untergrund

Eine Tour mit Erich im U-Bahn-Cabrio Berlin durch den Berliner Untergrund. Okay, sie ist schon eine Weile her …
… aber ein Erlebnis, das nicht überall zu haben ist …
… eine nächtliche offene Tour auf pritschenartigen ‘Wagen’ durch das Berliner U-Bahn-Netz …

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Politisches

Neusustrum – vergessenes NS- Lager der Homosexuellen

Sustrumermoor ist eine dieser beschaulichen kleinen Siedlungen nahe der niederländischen Grenze. Kirche und Feuerwehr, Schule mit Sportplatz, Siedlungshäuser der 50er und 60er Jahre. Eine Siedlung im emsländischen Hochmoor, einige Straßen nur. Wenige Erwachsene spazieren auf den Straßen, Kinder fahren im Kettcar vorbei. Sonntägliche Ruhe und Beschaulichkeit. Sustrumermoor ist eine unauffällige Siedlung.

Mit den Nachbargemeinden ist Sustrumermoor -wie viele dieser kleinen Siedlungen im äußerst westlichen Emsland– verbunden durch die Nord-Süd-Straße. Sie durchzieht, ebenso ruhig und unauffällig, das Hochmoor, weitgehend dem Verlauf der nahen Grenze zu den Niederlanden folgend.

Die Nord-Südstraße wurde von Häftlingen gebaut. Häftlingen der nahe gelegenen Konzentrations- und Strafgefangenen-Lager.
Eines dieser Lager war das ‘Lager V Neusustrum‘. Es war das dritte der berüchtigten Emslandlager.

Das Lager Neusustrum war derjenige Ort in Deutschland, an dem in der NS-Zeit die meisten Homosexuellen inhaftiert waren.

Lager V Neusustrum - August 2008
Lager V Neusustrum – August 2008

Das Lager Neusustrum lag am Rand es heutigen Ortes Sustrumermoor. Gedenken, Gedenken an die furchtbare Geschichte dieses Ortes, an das Lager, an die Inhaftierten, die Verfolgten, die Homosexuellen, findet nur am Rande statt. In bizarrem Umfeld.

Neusustrum Lageplan Emslandlager
Neusustrum Lageplan Emslandlager

KZ und Strafgefangenenlager Neusustrum

1933. Das Lager Neusustrum wird am 1. September als drittes KZ im Emsland nach Börgermoor und Esterwegen fertiggestellt (Anordnung durch das Preußische Innenministerium am 20. Juni 1933), mit Platz für 1.000 Gefangene (laut [B] 2.000). Mit dem Bahnhof Dörpen war das Lager Neusustrum durch eine Schmalspur-Lorenbahn verbunden, die von den Gefangenen auch ‚Moorexpress‘ genannt wurde. Erste Gefangene treffen im Oktober in Neusustrum ein [B].

Die Leitung übernimmt am 3. August 1933 (andere Quellen: 27 September) SS-Obersturmführer Emil Faust, der zuvor schon im KZ Esterwegen durch besondere Grausamkeit aufgefallen war. Faust (geb. 3.11.1899 Oberlahnstein) bleibt Lager-Leiter bis November 1933, ging später zur ‚Organisation Todt‘.
Faust wurde 1949 in Emden – Uphusen verhaftet und am 2. November 1950 vom Schwurgericht Osnabrück zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt. 1952 erfolgte eine weitere Verurteilung zu sechs Jahren Zuchthaus, seine lebenslange Strafe wurde „auf dem Gnadenweg“ umgewandelt  in 20 Jahre, die Faust in Lingen / Ems verbüßte. [B]

Das KZ-System wird bald schon neu geordnet. Einige  Emslandlager werden als KZ aufgelöst und anders verwendet. Das KZ Neusustrum wird am 3. April 1934 der preußischen Justizverwaltung übergeben, und fungiert ab diesem Zeitpunkt als Strafgefangenenlager.

Die Strafgefangenenlager unterstehen nun SA-Obersturmbannführer Werner Schäfer, Kommandantur Papenburg  (zuvor Kommandant KZ Oranienburg). Die Lager werden im Zuge dieser Umorganisation neu nummeriert, Neusustrum wird ab Frühjahr 1935 ‚Lager V‘. 1937/38 wird es auf 1.500 Gefangenenplätze vergrößert.

Etwa 66.500 Strafgefangene wurden allein in die nördlichen Strafgefangenenlager im Emsland zwischen 1934 und 1945 eingeliefert. Zuständig für Organisation und Leitung der Strafgefangenenlager im Emsland war Werner Schäfer.

Am 4. April 1945 wurden die letzten Gefangenen aus dem Lager Neusustrum in das Lager Aschendorfermoor verlegt.
Nach Kriegsende wurde das Lager Neusustrum bis 1950 von der Justizstrafanstalt Lingen zur Unterbringung von Gefangenen genutzt. Die Baracken wurden anschließend abgerissen. Auf dem Gelände der früheren Häftlingsbaracken befindet sich heute der Sportplatz der Schule.

Homosexuelle in Neusustrum

Das Lager Neusustrum war derjenige Ort in Deutschland, an dem in der NS-Zeit die meisten Homosexuellen inhaftiert waren.

Stümke / Winkler zitieren 1981 in ‚Rosa Winkel, Rosa Listen‘ einen ‚Bericht von C.M., der als Politischer von Februar bis Juni 1940 in Neusustrum ‚Lager V‘ war‘:

„Das Lager V hatte zu dieser Zeit dreitausend bis viertausend Häftlinge, etwa die Hälfte davon Homosexuelle. … Die Gefangenen trugen keine Markierung durch wuinkel, so dass man nicht unmittelbar erkennen konnte, wer homosexuell war. … In meiner Baracke waren ca. dreihundert Menschen untergebracht, davon etwa die Hälfte homosexuell. Die Gefangenen kamen hauptsächlich aus Hamburg.“

Stümke/Winmkller zitieren weitere Zeitzeugen mit abweichenden Beobachtungen:

„Ein anderer Zeuge, er war dort 1936/38 inhaftiert, gab an, das im sleben Lager ca. 20% schwul waren und auch in anderen, umliegenden Lagern viele Homosexuelle gefangen waren.“

„Ein weiterer Zeuge gibt an, dass ‚im Moorlager 5 Neusustrum ein drittel der Häftlinge zur Gruppe der Homosexuellen gehört‘ [hat] (Harthauser 1967, S. 26f)“

Zwar sprechen selbst neuere Dissertationen erstaunlicherweise von ‘Einzelfällen’ von Homosexuellen in den Emslandlagern [Lüerßen]. Andererseits befanden sich Hoffschild zufolge “an keinem Ort im Deutschen Reich mehr Homosexuelle in Haft … als in den Emslandlagern” [Hoffschild 1999, S. 35, zitiert nach Bührmann-Peters]. Andere Berichte [Dissertation Bührmann-Peters ‚Deliktstatistik‘ S. 159, Daten jeweils für unterschiedlich kurze Zeiträume] sprechen von einem Anteil von 1,1% bis 9,9% Homosexuellen an allen Insassen der Emslandlager.

“Insgesamt wurden die Gefangenen, die aufgrund ihrer Homosexualität in Gefängnissen und Zuchthäusern saßen, häufiger in die Emslandlager “überwiesen” als andere Gefangene. Das heißt die als homosexuell Inhaftierten wurden einem als besonders brutal und abschreckend geltenden Strafvollzug ausgesetzt.” (Quelle)

Auch wenn die homosexuellen Opfer in den Emslandlagern vermutlich überwiegend namenslos sind –  einige Schicksale sind doch bekannt,  so z.B.

  • Walter Timm, 1938, der später in Sachsenhausen war,
  • Luis Schild (1898 – 1935) [B],
  • Wilhelm C. (geb. 1915)  [C],
  • Hans Bielefeld,
  • Paul Gerhard Vogel [5],
  • Rudolf Kruse (pdf),
  • Max Lenz (Stolpersteine),
  • Arnold Bastian (pdf) Stolperstein (dort Verweis Aschendorfermoor),
  • Heinrich Erich Starke [3] [4] [5],
  • Georg W. (pdf),
  • Heinrich Peter Roth (pdf) [4] Stolperstein Hamburg, Steindamm 91,
  • Max Stephan (pdf),
  • Gustav Schreiber (Seite aus Google Cache, Vortrag pdf hier, Stolperstein (der auf Börgermorr verweist)),
  • Heinz Dörmer (pdf), [6]
  • oder Hans,
  • Rolf Krappe ([1] s.u.)
  • Hugo Ludwig [2]
  • Walter Klahn [2]
  • Harry Pauly [4]

Besonders viele Homosexuelle waren im Lager V in Neusustrum inhaftiert.

Im Lager Neusustrum behandelt man Menschen ‘schlimmer als Vieh’, wie es in einem 1950 gesprochenen Urteil gegen den ehemaligen Lagerleiter Emil Faust heißt“ (Kurt Buck).

Bei der Ankunft in Neusustrum wurden die Gefangenen (nach [4]) von der SS begrüßt

Ihr Arschficker! Euch werden wir jetzt schon den Arsch aufreißen! Ihr werdet was erleben!

Harry Pauly erinnert sich (in [4]; ausführliche Erinnerung auch in Stümke/Winkler/ Rosa Winkel, Rosa Listen S. 298 – 301):

Ich glaube, daß ich eingegangen, richtig kaputtgegangen wäre, wenn mir nicht andere geholfen hätten.

Die im Lager Neusustrum Verstorbenen sind auf dem Friedhof Bockhorst / Esterwegen beigesetzt.

Neusustrum - ehemaliger Bereich Häftlings-Baracken, heute Sportplatz
Neusustrum – ehemaliger Bereich Häftlings-Baracken, heute Sportplatz

Das ehemalige KZ und Strafgefangenenlager Neusustrum heute

Heute erinnert nur wenig an das Lager Neusustrum.

Neusustrum Lager-Park
Neusustrum Lager-Park

Der von den Häftlingen angelegte Lager-Park (u.a. Gelände der Baracken der Wachmannschaften) ist heute noch gut zu erkennen, ebenso der am nördlichen Ende gelegene Teich.

Neusustrum Säule
Neusustrum Säule

Am südlichen Ende des Parks, die Informationstafel passierend, findet man noch heute ein 1934 von der SA errichtetes ‘Denkmal’, eine von Findlingen umgebene Säule.
Das auf der Säule in einem Rundbogen befindliche Hakenkreuz wurde nach dem Krieg durch ein ‘Niedersachsenross’ ersetzt.

Die ehemalige Texttafel wurde entfernt, an gleicher Stelle befindet sich ein (nach Buck wahrscheinlich in den 70ern angebrachter) Text: ‘Niedersachsens stolzes Pferd, sage mir was sind wir wert? Dein Geist und meine Kraft haben hier Wüsten fruchtbar gemacht.’ [Wessen Geist diesen Ort schuf, und wessen Kraft das Moor hier urbar machte, wird nicht erwähnt.]

Neusustrum Gedenktafeln
Neusustrum Gedenktafeln
Neusustrum Gedenktafeln
Neusustrum Gedenktafeln

Nahe dem Kreuz befinden sich drei Gedenktafeln. Auf einer der beiden Gedenktafeln links ist zu lesen „In den Jahren 1947 bis 1960 haben in Sustrum-Moor Siedler aus verschiedenen teilen Deutschlands eine neue Heimat aufgebaut. Wir gedenken der Opfer von Krieg und Vertreibung“.
Die Gedenktafel rechts des Kreuzes wurde 1995 von ehemaligen polnischen Gefangenen angebracht.

An die homosexuellen Gefangenen und Verfolgten erinnert (außer der Erwähnung des Begriffs Homosexuelle auf der Informationstafel) nichts an diesem Ort.

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Es ist erschreckend, diesem Ort zu begegnen. Ein Ort der Geschichtsklitterung und Schönfärberei, des Nichtwahrhabenwollens und Verdrängens – und der Verleugnung von Kriminalisierung und Verfolgung auch von Homosexuellen.

Dass an diesem Ort (wie an so vielen im Emsland) die eigene Vergangenheit beschönigt und wo möglich verdrängt wird, scheint in der Region eine nicht gerade untypische Umgangsweise zu sein. Dass hier noch heute ein NS-Denkmal, bizarr und geschichtsverfälschend pseudo-’entnazifiziert’ unkommentiert stehen kann, erschreckt. Dass an diesem für die Verfolgung und Diskriminierung Homosexueller in NS-Deutschland so bedeutenden Ort noch heute kein Gedenken an diese homosexuellen NS-Opfer zu finden ist, bestürzt.

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Anresie / Ortsbeschreibung:
Das Gelände des ehemaligen Lagers Neusustrum ist auch angesichts des Fehlens jeglicher Hinweisschilder etwas schwer zu finden. Die Nord-Süd-Straße von Rhede Richtung Süden fahrend, rechts bei km 49,1 in den Ort ‘Sustrumermoor’ fahren. Nach einigen Metern sieht man rechts die Kirche, links die Feuerwehr. Vor der Feuerwehr nach links abbiegen auf die Teichstraße (ehemaligen Lagerstraße). Nach wenigen Metern sieht man rechterhand ein Kreuz und einige Gedenktafeln, gelegen in einer Parkanlage (dem ehemaligen Gelände der Baracken der Wachmannschaften). Auf der gegenüber liegenden Seite befindet sich ein Sportplatz – dort befanden sich die Häftlingsbaracken.

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siehe auch Übersicht über die Denkmale für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen

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Dokumente:
[A] Kurt Buck: ‘Auf der Suche nach den Moorsoldaten. Emslandlager 1933 – 1945 und die historischen Orte heute’, 6. erweiterte Auflage, Papenburg 2008
[B] ‘”Wir sind die Moorsoldaten” – Die Insassen der frühen Konzentrationslager im Emsland 1933 – 1936′, Dissertation Dirk Lüerßen, Osnabrück 25. Mai 2001
[C] ‘Ziviler Strafvollzug für die Wehrmacht – Militärgerichtlich Verurteilte in den Emslandlagern 1939 – 1945′, Dissertation Frank Bührmann-Peters, Osnabrück Sommersemester 2002
[D] Carola von Bülow: ‘Die Verfolgung von homosexuellen Männern im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland am Beispiel der Emslager’, in: ‘Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus – Beitrage zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland’, Edition Temmen, o.J. (Inhaltsverzeichnis als pdf hier)
[E] ‘Der Umgang der nationalsozialistischen Justiz mit Homosexuellen’, Dissertation Carola v. Bülow, Oldenburg 10.07.2000

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Aktualisierung
03.04.2013: Auch der Schauspieler Harry Pauly, auch bekannt als Pauline Courage, war 15 Monate im KZ Neusustrum inhaftiert. Er berichtete, dass „ca. 20% schwul waren“.
14.04.2013: Der Berliner Ingenieur Rolf Krappe wurde am 13. Januar / 6. Oktober 1938 (Revision) zu 2 Jahren Gefängnis und Aberkennung des bürgerlichen Ehrenrechts für 5 Jahre verurteilt. Bei Erreichen des Strafendes wurde er am 3.3.1940 aus Neusustrum entlassen. [1]
04.04.2014: Dokumente / Internet-Angaben und Links aktualisiert, Gliederung überarbeitet

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[1] Andreas Sternweiler: ‚Freundschaft und Solidarität‚, in: Müller / Sternweiler: Homosexuelle Männer im KZ Sachsenhausen, Berlin 2000
[2] Hamburg auf anderen Wegen: Stolpersteine für homosexuelle NS-Opfer
[3] Stefan Micheler 1999: „… eben homosexuell, wie andere Leute heterosexuell.“ Der Fall Heinrich Erich Starke
[4] Rosenkranz / Lorenz: Hamburg auf anderen Wegen: Die Geschichte des schwulen Lebens in der Hansestadt. Hamburg 2012
[5] Hergemöller: Mann für Mann: biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum. Münster o.J.
[6] Andreas Sternweiler (Hg.): Pfadfinderführer und KZ-Häftling: Heinz Dörmer. Berlin

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unterwegs

a tergo

a tergo

a tergo – Plastik, Bronze, Pompeji, 1. Jhdt. v.Chr. (Archäologisches Museum von Neapel, Geheimes Kabinett)

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

HIV: Das Recht auf Nicht Wissen

Anlässlich einer Verurteilung in der Schweiz (‚Ungetestet – trotzdem vor Gericht schuldig gesprochen‘), einiger Diskussionen und Kommentare hierzu wie auch eines Posts von TheGayDissenter (‚HIV/Aids: ungetestete Risikostifter!? – Ein Urteil aus der Schweiz‘) steht immer wieder die Frage im Raum, ob es ein Recht auf Nicht Wissen (hier: des eigenen HIV-Status) gebe.

Dazu einige Gedanken:

Rückblende, Mitte der 1980er Jahre. In westdeutschen Großstädten haben sich nach der tristen Zeit der 50er, 60er und frühen 70er Jahre florierende schwule Szenen entwickelt. Boomende kommerzielle und alternative Strukturen, diskussionsfreudige und experimentierwillige schwule Bewegungen, Ideen und Projekte für andere, buntere, vielfältigere Zukunft.

In diese lebensfrohen schwulen Strukturen platzt 1983 Aids wie eine Bombe. Nach ersten Berichten über vermeintlich skurile Krebs-Fälle in den USA anfangs kaum wahrgenommen, wird Aids bald schon von vielen erlebt als eine massive Bedrohung der neu errungenen schwulen Freiheiten. Als Szenario erneuter Rückfälle in Adenauersche Zeiten, in Diskriminierung und Unterdrückung. Bis Aids zur selbst erlebten Realität wird, Bekannte Freunde Lover sterben, der Besuch von Trauerfeiern und Beerdigungen zu schmerzvoller Alltagsrealität junger, eigentlich lebensfroher Menschen Mitte Ende 30 wird.

Aids, das bedeutet in diesen Jahren Mitte, Ende der 1980er z.B.:
– Politiker, bei weitem nicht nur in Bayern, und erst recht ihre schwedischen Handlanger, diskutierten ernsthaft Absonderung, Internierung und Kennzeichnung von Menschen mit HIV und Aids.
– Schwule Treffpunkte, Bars Diskotheken Saunen sollen geschlossen werden (in Bayern werden dann z.B. ersatzweise in Saunen die Türen ausgehängt).
– In der Öffentlichkeit, auch in Teilen schwuler Szenen, werden HIV-Infizierte wahlweise als ‚Opfer‘, ‚Aids-Bomben‘ oder ‚Virenschleuder‘ wahrgenommen.
– Medikamente gegen HIV gibt es in den Anfängen nicht. Das erste später zugelassene Aids-Medikament wird anfänglich so hoch dosiert, dass viele den Eindruck haben, Aids-Kranke sterben nun an den Folgen des Medikaments, nicht an Aids.

In diesen Zeiten hatte es nicht nur oftmals keinen Nutzen, vom eigenen HIV-Status zu wissen (wenn man eh medizinisch nichts machen konnte …). Nein, von der eigenen HIV-Infektion zu wissen war mit derartig vielen Nachteilen verbunden, dass es geradezu ratsam sein konnte, sich nicht auf HIV testen zu lassen.

Über seinen eigenen HIV-Status nicht zu wissen, nicht wissen zu wollen, nicht wissen zu müssen war in dieser Zeit ein elementares Bedürfnis und gleichzeitig für viele beinahe (nicht nur gesellschaftliche) Notwendigkeit.
(Nebenbei, dass HIV-Tests mit Beratung vor- und nachher durchzuführen sind, und dass HIV-Tests ohne vorherige Einwilligung unzulässig und strafbar sind, hat sich in dieser Zeit entwickelt – und nicht grundlos.)

Und heute?
Vieles hat sich verändert. Gegen HIV stehen wirksame Medikamente Medikamente zur Verfügung. Die schlimmsten Szenarien gesellschaftlicher Diskriminierung sind derzeit weitgehend in der Mottenkiste der Geschichte verschwunden (auch wenn einige Ärzte-Funktionäre sie immer wieder gerne hervor holen).

HIV-positiv zu sein jedoch ist immer noch weit davon entfernt, den Status von ‚Normalität‘, von gesellschaftlich unbeeinträchtigtem Sein zu haben. Ist immer noch mit Diskriminierung, Benachteiligung, Ausgrenzung verbunden.

Solange der HIV-Status eines Menschen weiterhin mit massiven Beeinträchtigungen und Diskriminierungen verbunden ist, solange HIV-Positive auf ihrer Arbeit mit Diskriminierungen und mehr rechnen müssen, von Versicherungen ausgeschlossen sind, von staatlichen und privaten Stellen, in Gesellschaft und eigenen Szenen diskriminiert werden, mindestens solange ist m.E. ein Recht auf Nicht Wissen um den eigenen HIV-Status ein unabdingbares Recht jedes Menschen.

Es gibt ein Recht, von der eigenen HIV-Infektion nicht zu wissen.

Und, nebenbei, wer heute fordert, mehr Menschen gerade aus dem von HIV stark betroffenen Gruppen sollten sich auf HIV testen lassen (auch, um dann rechtzeitig Zugang zu Behandlung zu haben), der sollte zunächst auch überlegen, wie diejenigen Hemmnisse, Benachteiligungen und Diskriminierungen abgebaut werden können, die Menschen mit HIV und Aids das Leben schwer machen – und die Menschen begründet überlegen lassen, ob es wirklich in der Realität eine gute Idee ist, von eigenen HIV-Status zu wissen. Diskriminierungen abbauen schützt Menschenleben – auch hier.

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Text 15. März 2017 von ondamaris auf 2mecs

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Wer wenn nicht wir …

Die gute Position, die die deutsche Aids-Politik und ihre Erfolge im europäischen und internationalen Vergleich einnehmen, wie auch die vergleichsweise guten Lebensrealitäten, die für viele (wenn auch nicht alle)  Menschen mit HIV und Aids in Deutschland möglich sind, haben viel zu tun mit dem Engagement von Betroffenen.
Menschen aus den von HIV am stärksten betroffenen Communities, besonders aus denen schwuler Männer, engagierten sich. Vor allem aber: HIV-Infizierte brachten ihre Interessen zu Gehör, forderten sie unüberhörbar ein – und wurden immer wieder selbst aktiv. Dies, dieses Engagement, auch dieser Aktivismus war ein zentraler Baustein einer (in Deutschland insgesamt) recht erfolgreichen Aids-Politik.

Und heute? Der Aids-Bereich ist zunehmend von einer Gesundheits-Bürokratie durchdrungen. Engagement, Engagement in eigener Sache, positiver Aktivismus hingegen werden immer seltener.

Wer, wenn nicht wir? Dies war in früheren Aids-Jahren eine der Devisen, die Positive dazu ermutigte, in eigener Sache aktiv zu werden. Inzwischen sieht es seit Jahren eher düster aus in Sachen Positiven-Aktivismus.
Oder nicht?

Sind HIV-Positive, die eine erfolgreiche antiretrovirale Therapie durchführen und ansonsten keine sexuell übertragbaren Erkrankungen haben, sexuell nicht mehr infektiös, wie es ein Statement der Eidgenössischen Aids-Kommission sagt? Die Debatten um dieses Statement, um Reaktionen darauf und mögliche Konsequenzen haben auch unter Positiven für Diskussionen gesorgt. Im Augenblick tut sich etwas, ‚gärt‘ etwas, diesen Eindruck mag man gewinnen. Anflüge von Positiven-Aktivismus scheinen wieder erahnbar.

Doch – wer genau hinschaut, beginnt sich bald Fragen zu stellen.  Wer ist dort aktiv? Ist das eine Bewegung aktivistischer Positiver? Weit gefehlt. Ein Häufchen Einzelkämpfer, diese Formulierung träfe vermutlich eher zu. Und – „die gleichen Verdächtigen wie früher“, diesen Eindruck würde der Beobachter wohl auch bald gewinnen. Nicht ganz zu Unrecht. Denn im wesentlichen engagieren sich wieder diejenigen, die (mindestens) schon in den 90ern aktiv waren.

Das wirft Fragen auf, Fragen nicht nur nach dem ‚warum‘.
Wo bleiben die Proteste außerhalb dieses kleinen Kreises?
Wo sind positive Vordenker?
Wo politisch interessierte, engagierte Positive?
Wo sind die jungen Positiven, die zornig, wütend sind?
Die ihre eigenen Wege gehen wollen (statt alten Säcken munter den Vortritt zu lassen und ausgetretenen Spuren zu folgen)?

Ist auch HIV, ist auch das was früher einmal Selbsthilfe war, längst ein gesättigter Markt geworden, in dem wir alle nur noch Kunden und Klienten einer allumfassenden Aids-Industrie sind, dick, fett, wohlgefällig?
Oder gibt es noch irgend etwas, über das wir uns aufregen? So sehr, dass wir bereit sind, den Arsch hoch zu bekommen, uns zu engagieren?

Oder ist die ‚Aktivisten-Mentalität‘ auch nur ein Überbleibsel einer alt werdenden Generation früherer Schwulenbewegter? Ist HIV als Thema längst passé?

Und was machen wir dann, wenn auch der letzte ‚alte Sack‘ den Aktivisten-Löffel aus der Hand gegeben hat? Fressen brav unsere Pillen? Machen brav, was Frau (oder Herr) Gesundheitsminister uns vorschreibt? Bekommen eben, völlig ruhiggestellt, nicht, was uns bewusst vorenthalten wird?

Ich will mich nicht in Rage schreiben ;-).  Aber für mich steht ernsthaft die Frage im Raum, wo bleibt sie, die nächste Generation Aktivisten? Wo soll sie her kommen?
(Und, um auf eines direkt einzugehen, bleibt mir an Land mit der ewigen Lamentiererei, ‚die Alten‘ ließen keinen Platz für euch – nehmt ihn euch, es ist bei weitem genug Platz da für’s aktiv werden. Und genügend Goodwill, auf Nachfrage zu unterstützen, zu erzählen, Erfahrungen bereit zu stellen.)

Wenn wir es nicht hinbekommen, uns wieder selbst in nennenswertem Umfang aktiv einzubringen, werden wir, wird das Thema HIV, werden die Interessen HIV-infizierter Männer und Frauen demnächst untergehen im Brei der Gesundheitspolitik. Wird der Aufmerksamkeits-Zirkus der Medien weiterziehen. Werden heute noch selbstverständliche Gelder (die auch Positiventreffen, Broschüren, Veranstaltungen etc. ermöglichen) schon bald perdu sein, nur noch romantische Erinnerung an ‚früher‘.

Bisher haben positive Bewegungen sich immer wieder neu erfunden, immer wieder nach Phasen der Besinnung den Arsch hoch bekommen.

Es wird auch nun Zeit, dass Positive wieder ihre Stimmen erheben.
Und dass neue Generationen Positiver ihre eigenen Stimmen erheben.

Wer, wenn nicht wir?

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Text 15. März 2017 von ondamaris auf 2mecs

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Politisches

Diversität, Gene und Selbstverständnis – “Es ist normal, verschieden zu sein.“

“Genomforschung und das Selbstverständnis des Menschen” lautet der Titel eines Vortrags, in dem Wolfram Henn (Universität des Saarlands) sich am 15. Juli im Medizinhistorischen Museum der Charité Berlin (in dem noch bis 14.9.2008 die Ausstellung “Sex brennt” über Magnus Hirschfeld stattfindet) mit Diversität auseinander setzte.

Henn: "Genforschung und Selbstverständnis des Menschen"
Henn: „Genforschung und Selbstverständnis des Menschen“

Der Vortrag war Teil des Öffentlichkeits-Programms des Welt-Genetik-Kongresses, der vom 12. bis 17. Juli 2008 in Berlin stattfand.

Das Genom – biochemischer Bauplan, der unveränderlich unsere Leben bestimmt. Klar – oder?
Bisher galt es als selbstverständlich, dass das Genom unveränderlich ist, einen Menschen sein ganzes Leben lang typisch kennzeichnet. Doch – inzwischen streiten sich die Forscher ob der Frage “was ist ein Gen”. Das was als grundlegender Baustein des Lebens betrachtet wird, entzieht sich derzeit scheinbar einer einhelligen Definition. Ein Streit mit potenziell gravierenden Auswirkungen.

Das Genom stellt sich derzeit eher dar als ein komplexes Wechselspiel zwischen Körper und Seele, Krankheit, Umwelt, Entwicklung, Alter – das starre Bild vom immer gleich bleibenden Genom ist passé, das Genom ist kein ewig gleicher Code. Zwar ist der Mensch ein Produkt seiner Gene – aber auch das Genom unterliegt viel mehr als bisher gedacht einer ‘Schwankungsbreite’. Das Genom ist nicht der ‘Quellcode’ des Lebens; eine lebenslange genetische Identität, wie noch vor kurzem gedacht, scheint ein Irrglaube – vielmehr stellt sich das Genom als ein ständig verändernder Pool im Wechselspiel befindlicher Gene (Polymorphismus; genetische Variation).

Prof. Wolfram Henn
Prof. Wolfram Henn

Vor diesem Hintergrund aktueller Diskussionen in der Humangenetik fand der Vortrag von Prof. Dr. med. Wolfram Henn statt.
Henn ist Professor für Humangenetik und Ethik an der Universität des Saarlands. Zudem ist er Leiter der Genetischen Beratungsstelle sowie u.a. Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundes-Ärztekammer. Seit 2016 ist er Mitglied des Deutschen Ethikrats.
Im März 2007 wurde Prof. Henn als erster Humangenetiker mit dem ‘Moritz’ ausgezeichnet für sein besonderes Engagement für Patienten mit Down-Syndrom.
Henn ist u.a. Autor des Buches “Warum Frauen nicht schwach, Schwarze nicht dumm und Behinderte nicht arm sind – Der Mythos von den guten Genen“ (2004).

Henn illustrierte im Verlauf seines Vortrags recht plastisch einige gängige (Vor-)Urteile:

Wie steht es zum Beispiel mit der überlegenen Position des Menschen, der “Krone der Schöpfung“?
Vergleicht man die Chromosomenzahl, so steht der Mensch gut da: hat eine Taufliege 8 Chromosomen, der Hund 38 und der Rhesusaffe 42, so kommt der Mensch auf 46. Leider – der Schimpanse hat schon 48 Chromosomen, ein Rind 60 und ein Karpfen gar 104.
Aber auch bei der Zahl der Basenpaare der Gesamt-DNA ein widersprüchliches Ergebnis: einfache Viren weisen ca. 5.000 Basenpaare auf, Bakterien 1.000.000. Eine Reispflanze ca. 400.000.000, und der Mensch 3.300.000.000. Nur – schon ein simpler Grashüpfer kommt auf 18.000.000.000 Basenpaare, und ein Nacktfarn gar auf 250.000.000.000.
Schwierig also, aus nackten Daten der Genetik eine Überlegenheit des Menschen abzuleiten …

Abr immerhin – die ‘Krone der Schöpfung’ hat doch ein recht großes Gehirn?
Ja, stimmt. Aber was sagt das? Bismarcks Gehirn wog 1.807 Gramm, das von Ludwig II. 1.330, das von Marilyn Monroe 1.440, und das von Albert Einstein 1.230 Gramm. Aussage?
Nebenbei, ‘Flipper’ kommt auf 1.700 Gramm …

Und, wenn wir schon bei Überlegenheit sind, manche halten ja Menschen kaukasischer Abstammung (Caucasians, vulgo “Weiße”) für eine überlegene Ethnie (vulgo ‘Rasse’).
Die Erbinformation des Menschen zeigt, woher wir abstammen. Seit viele ‘Vorläufer’ des heutigen Menschen gefunden und untersucht sind, lässt sich recht leicht ein ‘evolutionärer Stammbaum’ des Menschen erstellen. Müsste sich hier dann nicht auch die genetische vermutete ‘Überlegenheit der weißen Rasse’ zeigen?
Vor ca. 38.500 Jahren trennte sich entwicklungsgeschichtlich der Weg der afrikanischen Menschen von denen sämtlicher nicht-afrikanischer Menschen (denn aus Afrika stammen alle ältesten Funde von Menschen, Afrika ist die Wiege der Gattung ‘homo sapiens’). Nun, leider zeigt dieser ‘molekulare Stammbaum’ des heutigen Menschen nicht etwa, dass die ‘kaukasische’ Ethnie eine überlegene genetische Vielfalt aufweist. Vielmehr – 90 Prozent der genetischen Vielfalt der Menschheit finden sich in Afrika, ein Kikuyu unterscheidet sich genetisch viel stärker von seinen Nachbarn Ibo oder San, als jeder weißhäutige Deutsche von Chinesen, Russen oder auch nur Franzosen. Nur ganze 10% der genetischen Vielfalt der Menschheit finden sich außerhalb Afrikas.

Prof. Wolfram Henn
Prof. Wolfram Henn

Wie steht es mit ‘genetischen Defekten‘? Schließlich, Gen-Tests beginnen immer mehr in die Praxis zu dringen, sei es zur Früherkennung, oder zum Risikoausschluss (medizinisch, aber leider auch z.B. bei Versicherungen).

Henn erwähnte als Beispiel den Umgang mit Trisomie 21 (‘Down-Syndrom’).
Im Rahmen der Schwangerschafts-Diagnostik können Frauen untersuchen lassen, ob der Fötus eine genetische Veränderung aufweist, die auf Trisonomie21 hinweist. Wird diese festgestellt, lassen die Frauen in 90% der Fälle einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Aber unter 20% der Frauen nutzen vor oder wenigstens nach der Diagnose die Möglichkeit einer genetischen Beratung.

Von denjenigen Frauen, die trotz des Untersuchungsergebnisses ‘Trisonomie 21′ ihr Kind zur Welt gebracht haben, berichten 40%, ihnen sei bereits vorgeworfen (!) worden, dass die Geburt des Kindes hätte verhindert werden können (im Vergleich zu 25% der Mütter, bei denen die Diagnose vor Geburt nicht bekannt war). Eine rein gesellschaftliche Bewertung … Zudem, Studien zeigen, dass die psychische Belastung der Mütter von Kindern mit ‘normalen’ Kindern oder von Kindern mit Down-Syndrom nahezu identisch ist (bis auf das Gefühl, mehr Alltagsprobleme zu haben).

Henn stellte ein weiteres Beispiel eines vermeintlichen ‘Gen-Defekts’ vor.
Ein bei einigen Menschen vorhandener Defekt auf dem CFTR-Gen führte dazu, dass Typhus diese nicht infizieren konnte. Während der großen Typhus-Epidemien erwies sich dieser ‘Defekt’ als bedeutender Überlebens-Vorteil. Heute allerdings wird festgestellt, dass Menschen mit genau diesem CFTR-Gendefekt ein erhöhtes Risiko für Mukoviszidose haben – ein Defekt, der einst ein Vorteil war, kann sich nun als nachteilhaft erweisen.
Am Rande erwähnte Henn einen ähnlich gelagerten Fall, ein Defekt am Gen für CCR5, der heute einen Überlebensvorteil hinsichtlich HIV darstellt (eine Infektion mit HIV ist mit einem CCR5-Defekt nur schwer möglich).

Gen-Defekte treten häufig auf, betonte Henn. Wichtig sei, sich des Unterschieds zwischen ihrem Auftreten und ihrer gesellschaftlichen Bewertung bewusst zu sein.
Am Wissen um Gen-Defekte könnten neben den Betroffenen (z.B. aus gesundheitlichen Gründen) auch ganz andere Kreise potenziell Interesse haben. Krankenversicherer könnten an Daten zu Gen-Defekten (sei es z.B. CCR5-Defekt oder Trisonomie 21) hohes Interesse hinsichtlich veränderter Krankenversicherungs-Beiträge haben. Rentenversicherer dürften sicher überlegen, ob auch Menschen mit einem sog. ‘Langlebigkeits-Gen’ die gleichen Rentenversicherungs-Beiträge wie ‘Normal-Sterbliche’ zahlen sollten.
Diese wenigen Beispiele zeigten schon deutlich, dass es dringend ein Gen-Diagnostik-Gesetz brauche, um Missbrauch zu vermeiden (ein entsprechender Referenten-Entwurf ‘Gendiagnostikgesetz’ befindet sich derzeit in Diskussion).

Henn zog zum Schluss seines Vortrags (der umfangreicher als hier dargestellt war) folgendes Fazit:

“1. Der Mensch ist wie alle Lebewesen den Gesetzen der Natur unterworfen.
2. Der Mensch schadet sich durch Missachtung anderer Lebewesen selbst.
3. Die Menschenwürde ist unabhängig von genetischen Eigenschaften.
4. Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind biologisch sinnvoll.
5. Jeder Mensch trägt genetische Defektanlagen.
6. Jeder Mensch muss damit rechnen, genetisch kranke Nachkommen zu haben.
7. ‘Gute’ oder ‘schlechte’ Gene gibt es nicht.
8. Eugenik kann keine ‘Erbgesundheit’ erzeugen.
9. Nur mit einer möglichst großen genetischen Vielfalt kann die Menschheit bestehen.
10. Unsterblichkeit ist weder erreichbar noch wünschenswert.”

Henns Schlusswort: ein Zitat von Richard von Weizsäcker (1993):

Es ist normal, verschieden zu sein.

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Nachdenkliches

so viel Leben

Warum bloggst du eigentlich?
Warum machst du dir so viel Arbeit damit?

Gute Frage.
Warum?

Warum schreibe ich dies alles? Und warum gerade diese Themen?

In meinen Jugendjahren fühlte ich mich lange einem anderen Jungen sehr nahe. Und doch, es gab eine zunehmend bewusst werdende Grenze zwischen uns. Dass diese Grenze auch auf den Namen ’schwul’ hört, begriff ich erst spät, mit 17, 18. Bis zum ersten Sex mit einem (anderen) Mann dauerte es dann nicht mehr lange. Bis ich mit meinem Schwulsein offen und selbstbewusst umging, brauchte es schon etwas länger, einige schmerzvolle und viele schöne liebevolle Erfahrungen.

Bald war ich glücklich in der Welt schwulen Großstadtlebens angekommen. Fand meinen Platz, auch in schwulen Bewegungen. Fand meinen, den Mann für’s Leben. Einen Freundeskreis, ein Mann, ein Zuhause – glückliche Jahre. Doch vier Buchstaben standen bald düster am Horizont, drohten alle glücklichen Welten schwulen Großstadt-Lebens in kürzester Zeit zu zerschmettern. Das vierbuchstabige Schreckgespenst wurde bald auch zur dreibuchstabigen eigenen Realität. Freunde, Bekannte starben, Welten brachen zusammen. Mein eigener Körper sagte langsam ‘adieu’. Neue Hoffnung kam. Machte das Leben wieder und anders lebens-, liebenswert.

Das Bemühen um gesellschaftliches und persönliches Leben mit HIV und Aids wurde notgedrungen zum Bestandteil meines Lebens. Das Bemühen um glückliches schwules Leben blieb immer …

All dies hat sich zeit meines Lebens in Buchstaben und Worten, geschriebenen Worten niedergeschlagen, in Briefen, Tagebüchern, Flugblättern, Texten und Informationsschriften. Und seit einiger Zeit im Blog.

Das ist alles. Mehr nicht.

Oder noch viel mehr? Oder doch, eines noch: Seit langem mag ich’s sehr gerne:

… but the fool on the hill sees the sun going down and the eyes in his head see the world spinning round
(the fool on the hill)

There’s so much world to see
(moonriver)

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Homosexualitäten Köln

CSD Köln 2008 – „just another event“

Der ‘Cologne Pride 2008‘ vom 21.6. bis 6.7.2008 fand seinen Abschluss in der großen CSD-Parade am Sonntag, 6. Juli. Das Motto: “Null Toleranz”. ‘

Der CSD 2008 in Köln – nur ein weiterer Event der lokalen Spaß- und Kommerz-Gesellschaft?

 

 

CSD Köln in der Eventstadt Köln
CSD Köln in der Eventstadt Köln

 

 

Der CSD Köln – ‘just another event’ …

Seltsame Gefühle vermittelt dieser CSD, insgesamt bleibt ein sehr befremdlicher Eindruck.

– Eine Parade, der irgendwie das Herz verloren gegangen ist. Da fahren immer mehr Wagen von Parteien, Großunternehmen (von Autokonzernen bis Möbelhäusern nebst Küchenfront und Inneneinrichtung) an einem vorbei, dazu Internetapotheken … so wird die Parade immer mehr zu einer einzigen Werbefläche.

– Eine Parade zudem, seltsam sinnentleert, die ihren Zweck erst zu suchen scheint. Nur geringfügig ‘um-dekorierte’ Karnevals-Wagen verstärken nicht nur bei so manchem heterosexuellen Parade-Besucher den Eindruck, hier ziehe doch ein netter spaßiger Sommer-Karneval vorbei. Kamelle, Strüsscher [‚Bonbons, Blumensträuße‘ – für die Auswärtigen], nur im Sommer halt …

– Ein schwullesbisches Straßenfest, bei dem ein Großteil der Stände schwule Handtaschen, lesbische Portemonnaies und homoerotische Bratwurst verkauft. Hingen rechts und links Tannen-Girlanden, könnte es auch der Weihnachtsmarkt sein.
Die Aufzählung der Seltsamheiten und Peinlichkeiten (das Bühnenprogramm mit seinen Schlager-Highlights erwähnen wir lieber nicht…) ließe sich fortsetzen …

“Belanglose Routine“, meint TheGayDissenter, und “mit Stolz hatte die Parade relativ wenig zu tun” bemerkt Clamix. Gay Dating Tricks fragt irritiert “Was ist nur aus dem CSD geworden?”
Und mich erinnert das Ganze zunehmend an die “homosexuelle Folklore” und ihre Gefahren …

Dazu dann dieses Motto. ”
Null Toleranz!” scheint mir ein eigenwilliges Motto für einen CSD.
Die Veranstalter selbst sagen dazu auf ihrer Site: “„Null Toleranz!” ist für eine Veranstaltung, die seit vielen Jahren für gesellschaftliche Toleranz und Akzeptanz gegenüber Schwulen, Lesben und Transgender kämpft, sicherlich ein ungewöhnliches und hartes Motto. Wir haben das Thema des diesjährigen CSD Köln / ColognePride jedoch ganz bewusst provozierend und kämpferisch gewählt, weil wir das Gefühl haben, dass in einigen Teilen der Gesellschaft auch nicht gerade zimperlich mit unserer Minderheit umgegangen wird. Das Motto „Null Toleranz!”, verbunden mit der offensiven Stopp-Hand in einem auffallenden Logo, drückt aus, dass wir nicht länger dulden wollen, dass unsere Rechte verletzt und unsere Würde von Teilen der Gesellschaft mit Füßen getreten werden.”

Nun ja, eine auf den ersten Blick vernünftig klingende Begründung für das Motto.
Dennoch – die “Nulltoleranzstrategie“, Namensgeber im Hintergrund, scheint mir ein zweifelhaftes, nicht unbedingt anstrebenswertes gesellschaftliches Modell. Malaysia oder Singapur sind zumindest für mich nicht gerade Traum-Modelle vom Zusammenleben.

Dieser CSD scheint sich weit von dem entfernt zu haben, was einst mit Stonewall-Aufständen und politischen Demonstrationen der 1980er Jahre begonnen hat. Sinnentleerte Spaßparade der Event-Beliebigkeit – kann das tatsächlich Ziel einer schwullesbischen Demonstration sein?

Der CSD 2008 in Köln – nur ein weiterer Event der lokalen Spaß- und Kommerz-Gesellschaft?

Und dass gerade Schwule und Lesben eine ‘Law and Order’ – Strategie als ihr freiwilliges Motto wählen … irgendwie liegt mir da ibne Kreuzberg ja doch näher …

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