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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

HIV: Das Recht auf Nicht Wissen

Anlässlich einer Verurteilung in der Schweiz (‚Ungetestet – trotzdem vor Gericht schuldig gesprochen‘), einiger Diskussionen und Kommentare hierzu wie auch eines Posts von TheGayDissenter (‚HIV/Aids: ungetestete Risikostifter!? – Ein Urteil aus der Schweiz‘) steht immer wieder die Frage im Raum, ob es ein Recht auf Nicht Wissen (hier: des eigenen HIV-Status) gebe.

Dazu einige Gedanken:

Rückblende, Mitte der 1980er Jahre. In westdeutschen Großstädten haben sich nach der tristen Zeit der 50er, 60er und frühen 70er Jahre florierende schwule Szenen entwickelt. Boomende kommerzielle und alternative Strukturen, diskussionsfreudige und experimentierwillige schwule Bewegungen, Ideen und Projekte für andere, buntere, vielfältigere Zukunft.

In diese lebensfrohen schwulen Strukturen platzt 1983 Aids wie eine Bombe. Nach ersten Berichten über vermeintlich skurile Krebs-Fälle in den USA anfangs kaum wahrgenommen, wird Aids bald schon von vielen erlebt als eine massive Bedrohung der neu errungenen schwulen Freiheiten. Als Szenario erneuter Rückfälle in Adenauersche Zeiten, in Diskriminierung und Unterdrückung. Bis Aids zur selbst erlebten Realität wird, Bekannte Freunde Lover sterben, der Besuch von Trauerfeiern und Beerdigungen zu schmerzvoller Alltagsrealität junger, eigentlich lebensfroher Menschen Mitte Ende 30 wird.

Aids, das bedeutet in diesen Jahren Mitte, Ende der 1980er z.B.:
– Politiker, bei weitem nicht nur in Bayern, und erst recht ihre schwedischen Handlanger, diskutierten ernsthaft Absonderung, Internierung und Kennzeichnung von Menschen mit HIV und Aids.
– Schwule Treffpunkte, Bars Diskotheken Saunen sollen geschlossen werden (in Bayern werden dann z.B. ersatzweise in Saunen die Türen ausgehängt).
– In der Öffentlichkeit, auch in Teilen schwuler Szenen, werden HIV-Infizierte wahlweise als ‚Opfer‘, ‚Aids-Bomben‘ oder ‚Virenschleuder‘ wahrgenommen.
– Medikamente gegen HIV gibt es in den Anfängen nicht. Das erste später zugelassene Aids-Medikament wird anfänglich so hoch dosiert, dass viele den Eindruck haben, Aids-Kranke sterben nun an den Folgen des Medikaments, nicht an Aids.

In diesen Zeiten hatte es nicht nur oftmals keinen Nutzen, vom eigenen HIV-Status zu wissen (wenn man eh medizinisch nichts machen konnte …). Nein, von der eigenen HIV-Infektion zu wissen war mit derartig vielen Nachteilen verbunden, dass es geradezu ratsam sein konnte, sich nicht auf HIV testen zu lassen.

Über seinen eigenen HIV-Status nicht zu wissen, nicht wissen zu wollen, nicht wissen zu müssen war in dieser Zeit ein elementares Bedürfnis und gleichzeitig für viele beinahe (nicht nur gesellschaftliche) Notwendigkeit.
(Nebenbei, dass HIV-Tests mit Beratung vor- und nachher durchzuführen sind, und dass HIV-Tests ohne vorherige Einwilligung unzulässig und strafbar sind, hat sich in dieser Zeit entwickelt – und nicht grundlos.)

Und heute?
Vieles hat sich verändert. Gegen HIV stehen wirksame Medikamente Medikamente zur Verfügung. Die schlimmsten Szenarien gesellschaftlicher Diskriminierung sind derzeit weitgehend in der Mottenkiste der Geschichte verschwunden (auch wenn einige Ärzte-Funktionäre sie immer wieder gerne hervor holen).

HIV-positiv zu sein jedoch ist immer noch weit davon entfernt, den Status von ‚Normalität‘, von gesellschaftlich unbeeinträchtigtem Sein zu haben. Ist immer noch mit Diskriminierung, Benachteiligung, Ausgrenzung verbunden.

Solange der HIV-Status eines Menschen weiterhin mit massiven Beeinträchtigungen und Diskriminierungen verbunden ist, solange HIV-Positive auf ihrer Arbeit mit Diskriminierungen und mehr rechnen müssen, von Versicherungen ausgeschlossen sind, von staatlichen und privaten Stellen, in Gesellschaft und eigenen Szenen diskriminiert werden, mindestens solange ist m.E. ein Recht auf Nicht Wissen um den eigenen HIV-Status ein unabdingbares Recht jedes Menschen.

Es gibt ein Recht, von der eigenen HIV-Infektion nicht zu wissen.

Und, nebenbei, wer heute fordert, mehr Menschen gerade aus dem von HIV stark betroffenen Gruppen sollten sich auf HIV testen lassen (auch, um dann rechtzeitig Zugang zu Behandlung zu haben), der sollte zunächst auch überlegen, wie diejenigen Hemmnisse, Benachteiligungen und Diskriminierungen abgebaut werden können, die Menschen mit HIV und Aids das Leben schwer machen – und die Menschen begründet überlegen lassen, ob es wirklich in der Realität eine gute Idee ist, von eigenen HIV-Status zu wissen. Diskriminierungen abbauen schützt Menschenleben – auch hier.

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Text 15. März 2017 von ondamaris auf 2mecs

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Wer wenn nicht wir …

Die gute Position, die die deutsche Aids-Politik und ihre Erfolge im europäischen und internationalen Vergleich einnehmen, wie auch die vergleichsweise guten Lebensrealitäten, die für viele (wenn auch nicht alle)  Menschen mit HIV und Aids in Deutschland möglich sind, haben viel zu tun mit dem Engagement von Betroffenen.
Menschen aus den von HIV am stärksten betroffenen Communities, besonders aus denen schwuler Männer, engagierten sich. Vor allem aber: HIV-Infizierte brachten ihre Interessen zu Gehör, forderten sie unüberhörbar ein – und wurden immer wieder selbst aktiv. Dies, dieses Engagement, auch dieser Aktivismus war ein zentraler Baustein einer (in Deutschland insgesamt) recht erfolgreichen Aids-Politik.

Und heute? Der Aids-Bereich ist zunehmend von einer Gesundheits-Bürokratie durchdrungen. Engagement, Engagement in eigener Sache, positiver Aktivismus hingegen werden immer seltener.

Wer, wenn nicht wir? Dies war in früheren Aids-Jahren eine der Devisen, die Positive dazu ermutigte, in eigener Sache aktiv zu werden. Inzwischen sieht es seit Jahren eher düster aus in Sachen Positiven-Aktivismus.
Oder nicht?

Sind HIV-Positive, die eine erfolgreiche antiretrovirale Therapie durchführen und ansonsten keine sexuell übertragbaren Erkrankungen haben, sexuell nicht mehr infektiös, wie es ein Statement der Eidgenössischen Aids-Kommission sagt? Die Debatten um dieses Statement, um Reaktionen darauf und mögliche Konsequenzen haben auch unter Positiven für Diskussionen gesorgt. Im Augenblick tut sich etwas, ‚gärt‘ etwas, diesen Eindruck mag man gewinnen. Anflüge von Positiven-Aktivismus scheinen wieder erahnbar.

Doch – wer genau hinschaut, beginnt sich bald Fragen zu stellen.  Wer ist dort aktiv? Ist das eine Bewegung aktivistischer Positiver? Weit gefehlt. Ein Häufchen Einzelkämpfer, diese Formulierung träfe vermutlich eher zu. Und – „die gleichen Verdächtigen wie früher“, diesen Eindruck würde der Beobachter wohl auch bald gewinnen. Nicht ganz zu Unrecht. Denn im wesentlichen engagieren sich wieder diejenigen, die (mindestens) schon in den 90ern aktiv waren.

Das wirft Fragen auf, Fragen nicht nur nach dem ‚warum‘.
Wo bleiben die Proteste außerhalb dieses kleinen Kreises?
Wo sind positive Vordenker?
Wo politisch interessierte, engagierte Positive?
Wo sind die jungen Positiven, die zornig, wütend sind?
Die ihre eigenen Wege gehen wollen (statt alten Säcken munter den Vortritt zu lassen und ausgetretenen Spuren zu folgen)?

Ist auch HIV, ist auch das was früher einmal Selbsthilfe war, längst ein gesättigter Markt geworden, in dem wir alle nur noch Kunden und Klienten einer allumfassenden Aids-Industrie sind, dick, fett, wohlgefällig?
Oder gibt es noch irgend etwas, über das wir uns aufregen? So sehr, dass wir bereit sind, den Arsch hoch zu bekommen, uns zu engagieren?

Oder ist die ‚Aktivisten-Mentalität‘ auch nur ein Überbleibsel einer alt werdenden Generation früherer Schwulenbewegter? Ist HIV als Thema längst passé?

Und was machen wir dann, wenn auch der letzte ‚alte Sack‘ den Aktivisten-Löffel aus der Hand gegeben hat? Fressen brav unsere Pillen? Machen brav, was Frau (oder Herr) Gesundheitsminister uns vorschreibt? Bekommen eben, völlig ruhiggestellt, nicht, was uns bewusst vorenthalten wird?

Ich will mich nicht in Rage schreiben ;-).  Aber für mich steht ernsthaft die Frage im Raum, wo bleibt sie, die nächste Generation Aktivisten? Wo soll sie her kommen?
(Und, um auf eines direkt einzugehen, bleibt mir an Land mit der ewigen Lamentiererei, ‚die Alten‘ ließen keinen Platz für euch – nehmt ihn euch, es ist bei weitem genug Platz da für’s aktiv werden. Und genügend Goodwill, auf Nachfrage zu unterstützen, zu erzählen, Erfahrungen bereit zu stellen.)

Wenn wir es nicht hinbekommen, uns wieder selbst in nennenswertem Umfang aktiv einzubringen, werden wir, wird das Thema HIV, werden die Interessen HIV-infizierter Männer und Frauen demnächst untergehen im Brei der Gesundheitspolitik. Wird der Aufmerksamkeits-Zirkus der Medien weiterziehen. Werden heute noch selbstverständliche Gelder (die auch Positiventreffen, Broschüren, Veranstaltungen etc. ermöglichen) schon bald perdu sein, nur noch romantische Erinnerung an ‚früher‘.

Bisher haben positive Bewegungen sich immer wieder neu erfunden, immer wieder nach Phasen der Besinnung den Arsch hoch bekommen.

Es wird auch nun Zeit, dass Positive wieder ihre Stimmen erheben.
Und dass neue Generationen Positiver ihre eigenen Stimmen erheben.

Wer, wenn nicht wir?

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Text 15. März 2017 von ondamaris auf 2mecs

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Politisches

Diversität, Gene und Selbstverständnis – “Es ist normal, verschieden zu sein.“

“Genomforschung und das Selbstverständnis des Menschen” lautet der Titel eines Vortrags, in dem Wolfram Henn (Universität des Saarlands) sich am 15. Juli im Medizinhistorischen Museum der Charité Berlin (in dem noch bis 14.9.2008 die Ausstellung “Sex brennt” über Magnus Hirschfeld stattfindet) mit Diversität auseinander setzte.

Henn: "Genforschung und Selbstverständnis des Menschen"
Henn: „Genforschung und Selbstverständnis des Menschen“

Der Vortrag war Teil des Öffentlichkeits-Programms des Welt-Genetik-Kongresses, der vom 12. bis 17. Juli 2008 in Berlin stattfand.

Das Genom – biochemischer Bauplan, der unveränderlich unsere Leben bestimmt. Klar – oder?
Bisher galt es als selbstverständlich, dass das Genom unveränderlich ist, einen Menschen sein ganzes Leben lang typisch kennzeichnet. Doch – inzwischen streiten sich die Forscher ob der Frage “was ist ein Gen”. Das was als grundlegender Baustein des Lebens betrachtet wird, entzieht sich derzeit scheinbar einer einhelligen Definition. Ein Streit mit potenziell gravierenden Auswirkungen.

Das Genom stellt sich derzeit eher dar als ein komplexes Wechselspiel zwischen Körper und Seele, Krankheit, Umwelt, Entwicklung, Alter – das starre Bild vom immer gleich bleibenden Genom ist passé, das Genom ist kein ewig gleicher Code. Zwar ist der Mensch ein Produkt seiner Gene – aber auch das Genom unterliegt viel mehr als bisher gedacht einer ‘Schwankungsbreite’. Das Genom ist nicht der ‘Quellcode’ des Lebens; eine lebenslange genetische Identität, wie noch vor kurzem gedacht, scheint ein Irrglaube – vielmehr stellt sich das Genom als ein ständig verändernder Pool im Wechselspiel befindlicher Gene (Polymorphismus; genetische Variation).

Prof. Wolfram Henn
Prof. Wolfram Henn

Vor diesem Hintergrund aktueller Diskussionen in der Humangenetik fand der Vortrag von Prof. Dr. med. Wolfram Henn statt.
Henn ist Professor für Humangenetik und Ethik an der Universität des Saarlands. Zudem ist er Leiter der Genetischen Beratungsstelle sowie u.a. Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundes-Ärztekammer. Seit 2016 ist er Mitglied des Deutschen Ethikrats.
Im März 2007 wurde Prof. Henn als erster Humangenetiker mit dem ‘Moritz’ ausgezeichnet für sein besonderes Engagement für Patienten mit Down-Syndrom.
Henn ist u.a. Autor des Buches “Warum Frauen nicht schwach, Schwarze nicht dumm und Behinderte nicht arm sind – Der Mythos von den guten Genen“ (2004).

Henn illustrierte im Verlauf seines Vortrags recht plastisch einige gängige (Vor-)Urteile:

Wie steht es zum Beispiel mit der überlegenen Position des Menschen, der “Krone der Schöpfung“?
Vergleicht man die Chromosomenzahl, so steht der Mensch gut da: hat eine Taufliege 8 Chromosomen, der Hund 38 und der Rhesusaffe 42, so kommt der Mensch auf 46. Leider – der Schimpanse hat schon 48 Chromosomen, ein Rind 60 und ein Karpfen gar 104.
Aber auch bei der Zahl der Basenpaare der Gesamt-DNA ein widersprüchliches Ergebnis: einfache Viren weisen ca. 5.000 Basenpaare auf, Bakterien 1.000.000. Eine Reispflanze ca. 400.000.000, und der Mensch 3.300.000.000. Nur – schon ein simpler Grashüpfer kommt auf 18.000.000.000 Basenpaare, und ein Nacktfarn gar auf 250.000.000.000.
Schwierig also, aus nackten Daten der Genetik eine Überlegenheit des Menschen abzuleiten …

Abr immerhin – die ‘Krone der Schöpfung’ hat doch ein recht großes Gehirn?
Ja, stimmt. Aber was sagt das? Bismarcks Gehirn wog 1.807 Gramm, das von Ludwig II. 1.330, das von Marilyn Monroe 1.440, und das von Albert Einstein 1.230 Gramm. Aussage?
Nebenbei, ‘Flipper’ kommt auf 1.700 Gramm …

Und, wenn wir schon bei Überlegenheit sind, manche halten ja Menschen kaukasischer Abstammung (Caucasians, vulgo “Weiße”) für eine überlegene Ethnie (vulgo ‘Rasse’).
Die Erbinformation des Menschen zeigt, woher wir abstammen. Seit viele ‘Vorläufer’ des heutigen Menschen gefunden und untersucht sind, lässt sich recht leicht ein ‘evolutionärer Stammbaum’ des Menschen erstellen. Müsste sich hier dann nicht auch die genetische vermutete ‘Überlegenheit der weißen Rasse’ zeigen?
Vor ca. 38.500 Jahren trennte sich entwicklungsgeschichtlich der Weg der afrikanischen Menschen von denen sämtlicher nicht-afrikanischer Menschen (denn aus Afrika stammen alle ältesten Funde von Menschen, Afrika ist die Wiege der Gattung ‘homo sapiens’). Nun, leider zeigt dieser ‘molekulare Stammbaum’ des heutigen Menschen nicht etwa, dass die ‘kaukasische’ Ethnie eine überlegene genetische Vielfalt aufweist. Vielmehr – 90 Prozent der genetischen Vielfalt der Menschheit finden sich in Afrika, ein Kikuyu unterscheidet sich genetisch viel stärker von seinen Nachbarn Ibo oder San, als jeder weißhäutige Deutsche von Chinesen, Russen oder auch nur Franzosen. Nur ganze 10% der genetischen Vielfalt der Menschheit finden sich außerhalb Afrikas.

Prof. Wolfram Henn
Prof. Wolfram Henn

Wie steht es mit ‘genetischen Defekten‘? Schließlich, Gen-Tests beginnen immer mehr in die Praxis zu dringen, sei es zur Früherkennung, oder zum Risikoausschluss (medizinisch, aber leider auch z.B. bei Versicherungen).

Henn erwähnte als Beispiel den Umgang mit Trisomie 21 (‘Down-Syndrom’).
Im Rahmen der Schwangerschafts-Diagnostik können Frauen untersuchen lassen, ob der Fötus eine genetische Veränderung aufweist, die auf Trisonomie21 hinweist. Wird diese festgestellt, lassen die Frauen in 90% der Fälle einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Aber unter 20% der Frauen nutzen vor oder wenigstens nach der Diagnose die Möglichkeit einer genetischen Beratung.

Von denjenigen Frauen, die trotz des Untersuchungsergebnisses ‘Trisonomie 21′ ihr Kind zur Welt gebracht haben, berichten 40%, ihnen sei bereits vorgeworfen (!) worden, dass die Geburt des Kindes hätte verhindert werden können (im Vergleich zu 25% der Mütter, bei denen die Diagnose vor Geburt nicht bekannt war). Eine rein gesellschaftliche Bewertung … Zudem, Studien zeigen, dass die psychische Belastung der Mütter von Kindern mit ‘normalen’ Kindern oder von Kindern mit Down-Syndrom nahezu identisch ist (bis auf das Gefühl, mehr Alltagsprobleme zu haben).

Henn stellte ein weiteres Beispiel eines vermeintlichen ‘Gen-Defekts’ vor.
Ein bei einigen Menschen vorhandener Defekt auf dem CFTR-Gen führte dazu, dass Typhus diese nicht infizieren konnte. Während der großen Typhus-Epidemien erwies sich dieser ‘Defekt’ als bedeutender Überlebens-Vorteil. Heute allerdings wird festgestellt, dass Menschen mit genau diesem CFTR-Gendefekt ein erhöhtes Risiko für Mukoviszidose haben – ein Defekt, der einst ein Vorteil war, kann sich nun als nachteilhaft erweisen.
Am Rande erwähnte Henn einen ähnlich gelagerten Fall, ein Defekt am Gen für CCR5, der heute einen Überlebensvorteil hinsichtlich HIV darstellt (eine Infektion mit HIV ist mit einem CCR5-Defekt nur schwer möglich).

Gen-Defekte treten häufig auf, betonte Henn. Wichtig sei, sich des Unterschieds zwischen ihrem Auftreten und ihrer gesellschaftlichen Bewertung bewusst zu sein.
Am Wissen um Gen-Defekte könnten neben den Betroffenen (z.B. aus gesundheitlichen Gründen) auch ganz andere Kreise potenziell Interesse haben. Krankenversicherer könnten an Daten zu Gen-Defekten (sei es z.B. CCR5-Defekt oder Trisonomie 21) hohes Interesse hinsichtlich veränderter Krankenversicherungs-Beiträge haben. Rentenversicherer dürften sicher überlegen, ob auch Menschen mit einem sog. ‘Langlebigkeits-Gen’ die gleichen Rentenversicherungs-Beiträge wie ‘Normal-Sterbliche’ zahlen sollten.
Diese wenigen Beispiele zeigten schon deutlich, dass es dringend ein Gen-Diagnostik-Gesetz brauche, um Missbrauch zu vermeiden (ein entsprechender Referenten-Entwurf ‘Gendiagnostikgesetz’ befindet sich derzeit in Diskussion).

Henn zog zum Schluss seines Vortrags (der umfangreicher als hier dargestellt war) folgendes Fazit:

“1. Der Mensch ist wie alle Lebewesen den Gesetzen der Natur unterworfen.
2. Der Mensch schadet sich durch Missachtung anderer Lebewesen selbst.
3. Die Menschenwürde ist unabhängig von genetischen Eigenschaften.
4. Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind biologisch sinnvoll.
5. Jeder Mensch trägt genetische Defektanlagen.
6. Jeder Mensch muss damit rechnen, genetisch kranke Nachkommen zu haben.
7. ‘Gute’ oder ‘schlechte’ Gene gibt es nicht.
8. Eugenik kann keine ‘Erbgesundheit’ erzeugen.
9. Nur mit einer möglichst großen genetischen Vielfalt kann die Menschheit bestehen.
10. Unsterblichkeit ist weder erreichbar noch wünschenswert.”

Henns Schlusswort: ein Zitat von Richard von Weizsäcker (1993):

Es ist normal, verschieden zu sein.

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Nachdenkliches

so viel Leben

Warum bloggst du eigentlich?
Warum machst du dir so viel Arbeit damit?

Gute Frage.
Warum?

Warum schreibe ich dies alles? Und warum gerade diese Themen?

In meinen Jugendjahren fühlte ich mich lange einem anderen Jungen sehr nahe. Und doch, es gab eine zunehmend bewusst werdende Grenze zwischen uns. Dass diese Grenze auch auf den Namen ’schwul’ hört, begriff ich erst spät, mit 17, 18. Bis zum ersten Sex mit einem (anderen) Mann dauerte es dann nicht mehr lange. Bis ich mit meinem Schwulsein offen und selbstbewusst umging, brauchte es schon etwas länger, einige schmerzvolle und viele schöne liebevolle Erfahrungen.

Bald war ich glücklich in der Welt schwulen Großstadtlebens angekommen. Fand meinen Platz, auch in schwulen Bewegungen. Fand meinen, den Mann für’s Leben. Einen Freundeskreis, ein Mann, ein Zuhause – glückliche Jahre. Doch vier Buchstaben standen bald düster am Horizont, drohten alle glücklichen Welten schwulen Großstadt-Lebens in kürzester Zeit zu zerschmettern. Das vierbuchstabige Schreckgespenst wurde bald auch zur dreibuchstabigen eigenen Realität. Freunde, Bekannte starben, Welten brachen zusammen. Mein eigener Körper sagte langsam ‘adieu’. Neue Hoffnung kam. Machte das Leben wieder und anders lebens-, liebenswert.

Das Bemühen um gesellschaftliches und persönliches Leben mit HIV und Aids wurde notgedrungen zum Bestandteil meines Lebens. Das Bemühen um glückliches schwules Leben blieb immer …

All dies hat sich zeit meines Lebens in Buchstaben und Worten, geschriebenen Worten niedergeschlagen, in Briefen, Tagebüchern, Flugblättern, Texten und Informationsschriften. Und seit einiger Zeit im Blog.

Das ist alles. Mehr nicht.

Oder noch viel mehr? Oder doch, eines noch: Seit langem mag ich’s sehr gerne:

… but the fool on the hill sees the sun going down and the eyes in his head see the world spinning round
(the fool on the hill)

There’s so much world to see
(moonriver)

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Homosexualitäten Köln

CSD Köln 2008 – „just another event“

Der ‘Cologne Pride 2008‘ vom 21.6. bis 6.7.2008 fand seinen Abschluss in der großen CSD-Parade am Sonntag, 6. Juli. Das Motto: “Null Toleranz”. ‘

Der CSD 2008 in Köln – nur ein weiterer Event der lokalen Spaß- und Kommerz-Gesellschaft?

 

 

CSD Köln in der Eventstadt Köln
CSD Köln in der Eventstadt Köln

 

 

Der CSD Köln – ‘just another event’ …

Seltsame Gefühle vermittelt dieser CSD, insgesamt bleibt ein sehr befremdlicher Eindruck.

– Eine Parade, der irgendwie das Herz verloren gegangen ist. Da fahren immer mehr Wagen von Parteien, Großunternehmen (von Autokonzernen bis Möbelhäusern nebst Küchenfront und Inneneinrichtung) an einem vorbei, dazu Internetapotheken … so wird die Parade immer mehr zu einer einzigen Werbefläche.

– Eine Parade zudem, seltsam sinnentleert, die ihren Zweck erst zu suchen scheint. Nur geringfügig ‘um-dekorierte’ Karnevals-Wagen verstärken nicht nur bei so manchem heterosexuellen Parade-Besucher den Eindruck, hier ziehe doch ein netter spaßiger Sommer-Karneval vorbei. Kamelle, Strüsscher [‚Bonbons, Blumensträuße‘ – für die Auswärtigen], nur im Sommer halt …

– Ein schwullesbisches Straßenfest, bei dem ein Großteil der Stände schwule Handtaschen, lesbische Portemonnaies und homoerotische Bratwurst verkauft. Hingen rechts und links Tannen-Girlanden, könnte es auch der Weihnachtsmarkt sein.
Die Aufzählung der Seltsamheiten und Peinlichkeiten (das Bühnenprogramm mit seinen Schlager-Highlights erwähnen wir lieber nicht…) ließe sich fortsetzen …

“Belanglose Routine“, meint TheGayDissenter, und “mit Stolz hatte die Parade relativ wenig zu tun” bemerkt Clamix. Gay Dating Tricks fragt irritiert “Was ist nur aus dem CSD geworden?”
Und mich erinnert das Ganze zunehmend an die “homosexuelle Folklore” und ihre Gefahren …

Dazu dann dieses Motto. ”
Null Toleranz!” scheint mir ein eigenwilliges Motto für einen CSD.
Die Veranstalter selbst sagen dazu auf ihrer Site: “„Null Toleranz!” ist für eine Veranstaltung, die seit vielen Jahren für gesellschaftliche Toleranz und Akzeptanz gegenüber Schwulen, Lesben und Transgender kämpft, sicherlich ein ungewöhnliches und hartes Motto. Wir haben das Thema des diesjährigen CSD Köln / ColognePride jedoch ganz bewusst provozierend und kämpferisch gewählt, weil wir das Gefühl haben, dass in einigen Teilen der Gesellschaft auch nicht gerade zimperlich mit unserer Minderheit umgegangen wird. Das Motto „Null Toleranz!”, verbunden mit der offensiven Stopp-Hand in einem auffallenden Logo, drückt aus, dass wir nicht länger dulden wollen, dass unsere Rechte verletzt und unsere Würde von Teilen der Gesellschaft mit Füßen getreten werden.”

Nun ja, eine auf den ersten Blick vernünftig klingende Begründung für das Motto.
Dennoch – die “Nulltoleranzstrategie“, Namensgeber im Hintergrund, scheint mir ein zweifelhaftes, nicht unbedingt anstrebenswertes gesellschaftliches Modell. Malaysia oder Singapur sind zumindest für mich nicht gerade Traum-Modelle vom Zusammenleben.

Dieser CSD scheint sich weit von dem entfernt zu haben, was einst mit Stonewall-Aufständen und politischen Demonstrationen der 1980er Jahre begonnen hat. Sinnentleerte Spaßparade der Event-Beliebigkeit – kann das tatsächlich Ziel einer schwullesbischen Demonstration sein?

Der CSD 2008 in Köln – nur ein weiterer Event der lokalen Spaß- und Kommerz-Gesellschaft?

Und dass gerade Schwule und Lesben eine ‘Law and Order’ – Strategie als ihr freiwilliges Motto wählen … irgendwie liegt mir da ibne Kreuzberg ja doch näher …

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unterwegs

unbekannte Flugkörper – fliegende Schwänze

erotische Tintinnabula
erotische Tintinnabula

Fliegende Schwänze?

(erotische Tintinnabula aus Bronze, Herculaneum (links) und Pompeji (rechts), 1. Jhdt. v.Chr., Archäologisches Museum von Neapel, Geheimes Kabinett)

[tintinnabulum, lat., Glockenspiel]

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Homosexualitäten ondamaris Texte zu HIV & Aids

Zeitzeuge Rudolf Brazda Video: Ein schreckliches Leben war das …

Am Rand der Gedenkveranstaltung am Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen sprach Rudolf Brazda, einer der letzten Überlebenden mit dem ‘Rosa Winkel’ (KZ Buchenwald), über seine Zeit in der NS-Diktatur.

Ein kurzes Video, ein seltener Zeitzeugenbericht:

Rudolf Brazda Video: “ein schreckliches Leben war das”

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In der Gedenkstätte Buchenwald erinnert seit 2006 ein Gedenkstein an die homosexuellen NS-Opfer.

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am 17.01.2016 von ondamaris auf 2mecs

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Jesse Helms (1921 – 2008)

Jesse Helms war ein US-Politiker (Republikaner) und langjähriges Mitglied des US Senats. Er galt als ausgesprochen homosexuellenfeindlich und betrieb eine Aids-Politik der Ausgrenzung.

Jesse Alexander Helms wurde am 18. Oktober 1921 in Monroe, North Carolina (USA) geboren. Vom 3. Januar 1973 bis 3. Januar 2003 war Helms Senator für den Bundesstaat North Carolina.

Helms war einer der aggressivsten Kämpfer gegen Rechte von Schwulen und Lesben in den USA. Er betrieb eine offen antihomosexuelle Politik, ebenso trat er gegen Gleichberechtigung von Afroamerikanern ein. Vielen nicht nur in den USA galt er als Inkarnation des Begriffs ‘Homophobie’. Und wenig überraschend war Helms auch ein Vertreter einer ganz und gar nicht liberalen Aids-Politik.

„Nothing positive happened to Sodom and Gomorrah and nothing positive is likely to happen to America if our people succumb to the drumbeats of support for the homosexual lifestyle.“
(Nichts Positives ist in Sodom und Gomorrha geschehen, und Amerika wird wahrscheinlich nichts Positives geschehen wenn unser Volk den Trommeln für die Unterstützung eines homosexuellen Lebensstils erliegt. [Übers. UW])

Jesse Helms, zitiert in New York Times 5. Juli 2008
Jesse Helms (Foto: United States Senate)
Jesse Helms (Foto: United States Senate)- Public Domain

Jesse Helms starb am 4. Juli 2008 im Alter von 86 Jahren in Raleigh (North Carolina).

Jesse Helms und das US-Einreiseverbot für Positive

Jesse Helms sprach sich u.a. lange gegen eine staatliche Förderung der Aids-Forschung aus. Und eine der bekanntesten “Erfolge” von Helms war das Einreiseverbot für Menschen mit HIV und Aids in die USA.

Das sogenante “Helms Amendment” (benannt nach seinem Initiator, Amendment vom 31. Mai 1987) wurde im Juli 1987 eingeführt. Durch das Helms-Amendment wurde HIV in die Ausschluß-Liste der Einreiseregelungen des US Public Health Service aufgenommen. 1993 wurde diese Regelung vom US-Kongress sogar in Gesetzesrang erhoben.

Das durch Helms begründete HIV-Einreiseverbot bestand trotz zahlreicher nationaler und internationaler Proteste bis 2010. Es endete nach 22 Jahren erst am 4. Januar 2010 unter US-Präsident Obama.

ACT UP protestiert gegen Jesse Helms

Aufgrund seiner aggressiv gegen die Interessen von Menschen mit HIV und Aids gerichteten Politik wurde Helms auch zur Zielscheibe von Aktionen von ACT UP.

Viele Schwule, auch viele Positive, waren viel und gerne in die USA gereist. So sie HIV-positiv waren, durften sie dies nicht mehr. Der Politiker, der für dieses Verbot gesorgt hatte, wurde intensiv von einem Zigaretten-Hersteller finanziell unterstützt. Der ‚Marlboro Boykott‘ (ab 1990) fand dementsprechnd große Unterstützung und wurde zu einer der großen internatonalen Aktionen von ACT UP:

'Marlboro Boykott' (Aufkleber, ca. 1991)
‚Marlboro Boykott‘ (Aufkleber, ca. 1991)

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Auch politische Widersacher als Menschen zu respektieren halte ich für mich persönlich für eine Grundlage politischer Arbeit. Jesse Helms allerdings hat so viel Hass gesät, so unendlich viel Schaden angerichtet, agitiert und gekämpft gegen Lesben und Schwule, gegen Menschen mit HIV und Aids – es wäre wirklich geheuchelt, würde ich jetzt Trauer zeigen angesichts seines Todes.

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Kulturelles

Priapos – Wandmalerei in Pompeji

Wandmalerei Priapos

Wandmalerei (Priapos, Gott der Fruchtbarkeit), Pompeji, 1. Jhdt. v.Chr. (Archäologisches Museum von Neapel, Geheimes Kabinett)

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Priapos gilt als gemeinsamer Sohn von Dionysos und Aphrodite.

In der griechischen Mythologie gilt Priapos als ein Gott der Fruchtbarkeit. er wurde oft mit einem übergroßen erigierten Penis dargestellt.

In der Medizin wird eine andauernde, nicht natürlich zurück gehende Erektion des männlichen Gliedes (Dauererektion) als Priapismus bezeichnet.

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids Politisches

Rita Süssmuth

Rita Süssmuth (geb. 17.2.1937 in Wuppertal) war u.a. in den entscheidenden Jahren von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Gesundheit. In ihre Zeit als Ministerin fielen die großen Streits zwischen repressiver und aufklärerischer Aids-Politik, fiel die Entscheidung, Information und Beratung zu Grund- Bausteinen des Umgangs mit HIV und Aids in Deutschland zu machen.

Rita Süssmuth im Juni 2008 auf der Ethik-Konferenz der Deutschen Aids-Hilfe
Rita Süssmuth im Juni 2008 auf der Ethik-Konferenz der Deutschen Aids-Hilfe

Süssmuth war als Bundesgesundheitsministerin maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass sich Mitte der 1980er Jahre in der Aids-Bekämpfung in Deutschland die Linie der Information und Aufklärung durchsetzte.

Opern-Gala der Deutschen Aids-Stiftung 2008 äußerte sich Prof. Rita Süssmuth in einem Interview zur Aids-Bekämpfung in Deutschland:

“Die größte Schwierigkeit aber war, dass HIV und Aids eng mit der Sexualität verbunden war. Hier drangen wir in ein gesellschaftliches Feld vor, das überwiegend negativ besetzt war, wo wir noch nicht einmal die angemessene Sprache gefunden hatten. Rückblickend denke ich, dass die Sexualität erst durch HIV und Aids auch ein Thema in der Öffentlichkeit wurde. Es wurde nicht weiterhin als Schmuddelthema behandelt.”

In der damaligen Debatte zur Aids-Bekämpfung wurden auch ganz andere Wege des Umgangs mit diesem ‘Schmuddelthema’ und vor allem mit von HIV Betroffenen diskutiert.

“Die Vorstellungen, die da entwickelt wurden, die Betroffenen müssten kaserniert werden, das war für mich wirklich ein Schock. Das waren Aussagen, wo ich dachte: Da muss was entgegengesetzt werden.”

Von 1987 bis 2002 war Rita Süssmuth Mitglied des Deutschen Bundestags, 1988 bis 1998 Präsidentin.

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Prof. Dr. Rita Süssmuth sprach am 20.6.2008 im Rahmen der Ethik- Konferenz der Deutschen Aids-Hilfe über das Thema “Gender und Aids”. Einige ihrer bemerkenswerten Gedanken die ich von dieser Rede auf der Ethik-Konferenz erinnere:

  • “… auch ein irrendes Gewissen hat eine Berechtigung …”
  • ” … das Menschenbild, der Mensch sei von Natur aus böse, ist tief in die politische Ethik eingegangen. Zum Beispiel in der Vorstellung, dem Einzelnen nicht zu viel Freiraum zuzugestehen, selbst die Grundrechte immer wieder zu relativieren.”
  • … wertschätzen, “was denn sexuell anders lebende Menschen an Bereicherung sein können …” … “auch was alles mit dem Männlichkeitsideal nicht verbunden sein muss … das ist mir wichtig, das immer wieder zu sagen“

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