Das Ende von ACT UP in Deutschland – wann, und vor allem aus welchen Gründen kam nach vielen erfolgreichen Aktionen recht bald das Ende dieser Aids-Aktivismus-Gruppen?
Dies ist der fünfte Teil der Mini-Serie Ullis ACT UP Erinnerungen. Im ersten Teil habe ich über die Entstehung von ACT UP in Deutschland geschrieben, im zweiten Teil über ACT UP in Deutschland. Der dritte Teil befasste sich mit ACT UP Köln, der vierte beschäftigte sich mit dem Verhältnis von ACT UP Deutschland und den USA. Der fünfte Teil berichtete über die ACT UP Proteste im Dom zu Fulda.
Die Luft ist raus bei ACT UP … ?
1993, nach der Welt-Aids-Konferenz in Berlin, war für ACT UP in Deutschland “die Luft im Wesentlichen raus“, bemerkte Corinna Gekeler (u.a. ACT UP Amsterdam) 2012.
„Die Luft raus“ aus ACT UP in Deutschland war meiner Erinnerung nach schon früher. Die Erosion, die später zum Ende von ACT UP führte, begann meines Erachtens bereits Ende 1991, vordergründig damals aus zwei Aspekten heraus:
Erstens: Die ACT UP Aktion im Dom zu Fulda war wohl die größte und erfolgreichste Aktion der deutschen ACT UP Gruppen. Hatte enorme Medien-Resonanz gebracht, und eine Strafanzeige – hatte aber auch enorm Kraft gekostet, Energien gebunden. Und die Frage aufgeworfen: wofür der ganze Aufwand? Die Sinnfrage (bzw. die Frage nach Verhältnis von Aufwand und Ertrag) stellte sich, nicht nur für mich.
Zweitens: der Fokus veränderte sich, Therapien und medizinische Fragen rückten mehr in den Mittelpunkt. Wann werden endlich wirksame und halbwegs verträgliche Medikamente verfügbar? Wie schnell können erfolgversprechende experimentelle Substanzen (auch vor ihrer zeitaufwendigen Zulassung) verfügbar gemacht werden? Warum dauern klinische Studien so lange, schließen viele Positive aus? Auch in Deutschland wandten sich Aktivisten (unter anderem, bei weitem nicht nur, auch aus schierer persönlicher Notwendigkeit heraus) dem Therapieaktivismus zu. Dies zeigte sich auch bei ACT UP: bereits im Dezember 1991 traf sich die Arbeitsgruppe ‘Treatment’ der deutschen ACT UP Gruppen erstmals in Hamburg.
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Gründe für das Ende von ACT UP in Deutschland
Dies waren m.E. nur die vordergründigen Faktoren einer schleichenden Erosion von ACT UP in Deutschland. Was führte zur dieser Erosion, dann zur Demobilisierung und Desintegration der deutschen ACT UP Gruppen?
Im wesentlichen sehe ich folgende Faktoren für das Ende von ACT UP in Deutschland Anfang der 1990er Jahre (siehe dazu ausführlicher meine 2008 formulierten Gedanken in ACT UP – Mythos oder Modell einer Bürgerrechts-Bewegung HIV-Positiver?):
- mit dem Tod von Andreas Salmen starb im Februar 1992 der ‚geistige Vater‘ von ACT UP in Deutschland, der zugleich Kristallisationspunkt und Motor vieler Aktionen und Aktivitäten war
- die Übernahme von Aktionen aus den USA: viele unserer großen überregionalen Aktionen waren direkt oder indirekt an Aktionen aus den USA angelehnt (wie Marlboro-Boykott oder Stoppt die Kirche), erwiesen sich mittelfristig als zu weit entfernt von der Lebenssituation vieler Positiver in Deutschland
- Veränderung der Situation: nachlassender Handlungsdruck. Zu Beginn von ACT UP gab es kein bzw. dann ein Medikament (AZT). Spätestens mit der Verfügbarkeit von Didanosin aber verbesserte sich langsam die Therapiesituation, und damit allmählich auch die (medizinisch) existentielle Situation vieler Positiver
- diese veränderte Situation führte auch zu einem Abwandern von Aktiven – die Frage der Verfügbarkeit von Medikamenten, der Gestaltung von Studien, der (Beschleunigung der) Zulassung hatte sich als so wichtig erwiesen, dass einige von uns (mich eingeschlossen) vom politischen Aids-Aktivismus bei ACT UP zum Therapie-Aktivismus wechselten
- Hinzu kam, dass Aidshilfe sich verändert hatte – nach dem ‚Aufstand der Positiven‘ und dem Ankommen der Auswirkungen in Aidshilfen vor Ort fanden Positive und Aids-Kranke in Aidshilfen oftmals ihre Interessen besser vertreten als vorher, eher in ihren Bedürfnissen wahrgenommen.
- mit der sich langsam verbessernden Situation wurde immer deutlicher, dass die eher vom Konsens geprägte Gesellschaft in Deutschland (im Gegensatz zu den USA oder z.B. Frankreich) eine langfristig eher ‚dürre‘ und wohl nicht ausreichende Basis für auf Provokation und Zuspitzung angelegte Aktionsgruppen wie ACT UP ist.
Anders als die (meisten) ACT UP Gruppen in Deutschland und Europa existierte ACT UP Paris noch viele Jahre – die Gruppe entging 2015 knapp der Zwnags-Liquidation.
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Ende oder Scheitern?
ACT UP: eine kurzzeitig sehr erfolgreiche Bewegung zerfällt [1] – und verschwindet doch nicht ganz. Es bleiben: ein Mythos – und viele Einzelpersonen, die sich nach ihrer Zeit bei ACT UP in anderen Zusammenhängen engagieren, sei es als Therapieaktivisten, als ‚Einzelkämpfer‘, in gemeinnützigen Vereinen in LDC, in Aidshilfen, in HIV-Pflegevereinen (wie in Berlin, Köln).
ACT UP war in Deutschland nie so bedeutend wie in den USA, nie so politisiert (besonders zum Leidwesen von Andreas), nie so grundlegend die Strukturen und Instanzen kritisierend, angreifend wie in den USA.
ACT UP hat andererseits in Deutschland viele Themen als erste überhaupt bewusst gemacht, auf die Agenda gehoben (wie die Frage der Geschwindigkeit von Arzneimittel-Zulassungen, oder die Idee der Beteiligung von Patienten an Studiendesigns). Zahlreiche ACT UP Aktivisten haben sich nach der Zeit bei ACT UP jahrelang erfolgreich in Aids-Bewegungen engagiert. Und ACT UP hat in Deutschland dazu beigetragen, Realitäten zu verändern. Dass die Teilnahme HIV-Positiver an Aids-Konferenzen wie dem Deutsch-Österreichischen Aids-Kongress heute selbstverständlich und durch eine Vereinbarung abgesichert ist – diese Selbstverständlichkeit zum Beispiel begann mit jahrelangen ACT UP-Aktionen für den Zugang zum Deutschen Aids-Kongress.
Das Ende von ACT UP in Deutschland ist nicht gleichbedeutend mit einem Scheitern von ACT UP in Deutschland. ACT UP war eine Phase des Aids-Aktivismus, an der sich viel festmachte – und die auf vielen anderen Ebenen weiter geführt wurde.
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[1] Hier ist anzumerken, dass die ACT UP Gruppen in Deutschland unterschiedlich lange existierten. Am längsten – bis Ende der 1990er Jahre – existierte ACT UP Frankfurt, wenn auch in den letzten Jahren weniger mit einem aktivistischen als mit einem karitativen Anspruch.
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DAH-Blog 24.03.2012: Die Kraft der Wut
Ulli Würdemann / ondamaris 21.12.2008: ACT UP – Mythos oder Modell einer Bürgerrechts-Bewegung HIV-Positiver?
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ACT UP Erinnerungen:
1. Entstehung von ACT UP
2. ACT UP in Deutschland
3. ACT UP Köln
4. ACT UP Deutschland und die USA
5. ACT UP Proteste im Dom zu Fulda
6. Das Ende von ACT UP in Deutschland
7. nach ACT UP – was bleibt?
Diese kleine Mini-Serie bildet nur meine persönlichen Erinnerungen an meine ACT UP Zeit ab. Ich freue mich sehr über Anmerkungen, Korrekturen, Ergänzungen – ob per Kommentar oder persönlicher Nachricht!
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