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Hamburg

Versorgungsheim Farmsen

Das Versorgungsheim Farmsen war in der Zeit des Nationalsozialismus ein Bestandteil der NS-Rassen- und Aussonderungspolitik. Viele der Bewohner, als ‚Asoziale‘ bezeichnet, wurden zwangssterilisiert, entmündigt, in Lager deportiert. Bisher wird kaum daran erinnert.

Das ‚Werk- und Armenhaus Barmbek‚ richtete 1903 eine Zweigstelle ein. Werk- und Arbeitshäuser hatten den Zweck, Obdachlose, Bettler, Prostituierte etc. durch Arbeit und reglementierten Tagesablauf zu einem ’normalen Leben‘ zu erziehen.

Die neu gegründete Niederlassung, das ‚Versorgungsheim Farmsen‚, war gelegen auf 1899 erworbenem Gelände auf dem Gebiet des damals zwar schon zu Hamburg gehörenden aber von preußischem Gebiet umgebenen Dorfes Farmsen. Hier wohnten und arbeiteten – meist nicht ganz freiwillig – Menschen mit Beeinträchtigungen. Farmsen war die größte Zweigstätte des Werk- und Armenhauses. Es war eine der größten Einrichtungen dieser Art in Deutschland.

1919 erfolgte eine Umbenennung des Werk- und Armenhauses in Versorgungsheim, ab 1920 unter der Ägide des Wohlfahrtsamtes. 1929 wurde es Teil der Hamburger ‚Staatlichen Wohlfahrtsanstalten‚ und gehörte zur Sozialbehörde.

früherer Wasserturm auf dem Gelände des ehemaligen Versorgungsheims Farmsen
früherer Wasserturm (mit ehem. Waschhaus) auf dem Gelände des ehemaligen Versorgungsheims Farmsen – Farmsen – Berne, Hamburg, Germany – hh oldmanCC BY 3.0

Direktor der Staatlichen Wohlfahrtsanstalten und Leiter des Versorgungsheims Farmsen war von 1926 bis 1950 [!] Georg Steigertahl (27.9.1885 Seesen – 3.5.1977 Hamburg), wichtigster Vertreter des Bewahrungsgedankens (staatliche Zwangsmaßnahme, Freiheitsentzug bis zu undefiniertem Zeitpunkt eines Lebens entsprechend den Normen der Gesellschaft).

„In Farmsen waren bis 1938 drei Prozent aller Entmündigungen in Deutschland durchgeführt worden.“

Michaela Freund-Wider: Frauen unter Kontrolle: Prostitution und ihre staatliche Bekämpfung in Hamburg vom Ende des Kaiserreichs bis zu den Anfängen der Bundesrepublik, Münster 2003 (S. 144)

Über die ‚verwahrten‘ Frauen berichtete Steigertahl 1929:

„Bei den bewahrten Frauen äußert sich die Psychopathie vorwiegend nach der sexuellen Seite hin. Bei einigen hätten wir gerne die künstliche Unfruchtbarmachung durchgeführt, die Ärzte hielten sich aber nicht für befugt dazu. …
So bestehen gegenwärtig für bewahrte Frauen: eine Station für alte Schwachsinnige und Psychopathen, die keinerlei Erziehungsmöglichkeiten bieten, – eine weitere Station für ältere, von denen noch manche vorübergehend oder dauernd den Weg in das freie Wirtschaftsleben findet, – eine Station für jüngere Mädchen, die kaum noch Hoffnungen bieten – und eine Station für jüngere, von denen die meisten zur Entlassung kommen.“

Georg Steigertahl, 1929, Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege / ‚Das Bewahrungsgesetz vom Standpunkt der Praxis‘

Das Versorgungsheim Farmsen in der NS-Zeit

Das Versorgungsheim Farmsen wurde während der NS-Zeit umgestaltet zu einer ‚Bewahranstalt für Asoziale‘ „in der Alte, Sieche, chronisch Kranke, Behinderte, Gefährdete und Bewahrungsfälle“ untergebracht wurden (Steigertahl 1936). Ziel war nun nicht mehr Wiedereingliederung, sondern dass die Anstalt sich möglichst selbst finanziert, aus der Arbeitskraft ihrer Bewohner*innen.

Umfunktioniert als geschlossenes Arbeitshaus wurde es auch zur Zwangs-Unterbringung genutzt. Arbeit sollte nicht bezahlt werden, da die Bewohner „einsichtslos und ohne Verständnis für den Zusammenhang
von Recht und Pflicht“
seien (Steigertahl 1933). Ein Verstoß gegen den Arbeitszwang konnte die Einweisung in ein KZ (z.B. Buchenwald) zur Folge haben.

Das Versorgungsheim Farmsen war in der NS-Zeit beteiligt an Sterilisation, Deportation, Aussonderung und Euthanasie. Es war mittelbar einbezogen in die ‚Mordaktion T4‚ durch Deportation von Hunderten Bewohnern in Anstalten, in denen sie ermordet wurden.

„Schließlich zog man auf Antrag von Steigertahl 1935 auch die Kompetenz für das Sterilisationsverfahren nach dem GeVeN an sich, so dass die Begutachtung zur Sterilisation nicht mehr im Allgemeinen Krankenhaus in Langenhorn, sondern im Versorgungsheim Farmsen direkt vorgenommen werden und die Gesamtzahl der von dort veranlassten Sterilisationen von 155 im Jahr 1934 auf 408 im Jahr 1936 gesteigert werden konnte.“

Matthias Willing: Das Bewahrungsgesetz (1918-1967): eine rechtshistorische Studie zur Geschichte der deutschen Fürsorge, Tübingen 2003

Allein bis 1930 wurden 800 männliche und 343 weibliche Bewohner*innen des Versorgungsheims Farmsen zwangssterilisiert. Zuständig für die ‚Begutachtung‘: der leitende Oberarzt Dr. Hans Buchta. Er war auch für die Entmündigungs-Gutachten zuständig, gemeinsam mit Dr. Käthe Petersen (Sozialverwaltung). Im Rahmen der Entmündigung fungierte Petersen für Frauen als ‚amtlicher Sammelpflegerin (Sammelpflegschaft) und Sammelvormund‘ (reichsweit einmalig nur in Hamburg). Buchta begleitete auch Transporte in Tötungsanstalten.

Mit der Auflösung der „Staats-Irrenanstalt Friedrichsberg“ 1935 wurden ‚für die Forschung interessante Fälle‘ in die neu gegründete Universitäts-Psychiatrie unter Prof. Bürger-Prinz verlegt, noch arbeitsfähige Personen hingegen in das Versorgungsheim Farmsen, und ‚hoffnungslos psychisch Kranke‘ in die Staatskrankenanstalt Langenhorn.

Zu den Opfergruppen gehören Alkoholkranke, Prostituierte, männliche und weibliche [vgl. Ingrid Liermann] Homosexuelle, Sicherheitsverwahrte, Jugendliche die nicht bei der ‚Hitlerjugend‘ mitmachen wollen, Jüdinnen und Juden, ‚Geistesschwache‘ und ‚Asoziale‘ [vgl. hier].

lesbische Frauen im Versorgungsheim Farmsen

„Jede Anstalt, die derart üble Elemente aufnimmt, die durch ihr Prostituiertendasein an hemmungslosen Geschlechtsverkehr gewöhnt sind, muß damit gerechnet werden, daß sich die Triebhaftigkeit und Hemmungslosigkeit dieser Menschen innerhalb der Anstalt in homosexuellen Beziehungen äußert. Es ist selbstverständlich, daß in Farmsen gegen derartige lesbische Freundschaften vorgegangen wird. … Gerade die Anstalt Farmsen hat das schwierigste und übelste Menschenmaterial als Insassen. Zum größten Teil sind die Frauen entmündigt … Lesbische Beziehungen der Insassen untereinander sind in der Anstalt wie Farmsen an der Tagesordnung und trotz schärfster Aufsicht und schweren Strafen nicht ganz zu unterbinden …“

Bericht der weiblichen Kriminalpolizei Hamburg vom 4. Juni 1941, zitiert nach Gottfried Lorenz: Töv, di schiet ik an: Beiträge zur Hamburger Schwulengeschichte, Münster 2013

Ingrid Sonja Liermann (18.4.1926 – 12.4.2010), 1950 Gründerin und bis 1997 Cheffin der Lesbenbar ‚Ika-Stuben‚ in Hamburg St. Pauli, lebte in der NS-Zeit in verschiedenen Jugendheimen, darunter auch im Versorgungsheim Farmsen.

schwule Männer im Versorgungsheim Farmsen

Am 12. September 2007 wurden vier Stolpersteine verlegt, die an wegen Homosexualität verfolgte männliche Bewohner des Versorgungsheimes erinnern:

  • Ludwig Döpking (10.4.1881 Hamburg – 3.10.1936 Hamburg)
  • Richard Elkeles (1906 – 12.3.1941 Hamburg)
  • Martin Lentfer (1875 – 3.1.1938 Hamburg, Selbstmord nach Verhör wegen §175))
  • Gustav Remi (4.6.1905 Hamburg – 11.3.1943 KZ Neuengamme; zeitweise Partner von Otto Giering der die NS-Zeit nach ‚freiwilliger Kastration‘ überlebte(pdf)

Bereits kurz nach der Verlegung wurden die Stolpersteine mit NS-Symbolen beschmiert.

Ein weiterer Stolperstein vor seinem letzten Wohnsitz in der Hamburger Neustadt erinnert an einen schwulen Mann, der im Versorgungsheim Farmsen gelebt hat, Kurt Dombeck (8.5.1890 Liegnitz – 28.4.1943 Neuengamme; entmündigt und zwangssterilisiert).

An Georg Jakob Peters (6. Juli 1872 Tating – 6. April 1944 Landesheilanstalt Weilmünster; seit 1906 wegen seiner Homosexualität kriminalisiert) erinnert ein Stolperstein in Hamburg Eppendorf. 1936 bis zu seiner Flucht 1938 nach Köln lebte er im Versorgungsheim Farmsen.

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Während des 2. Weltkriegs wurden Teile der Fläche für Flakstellungen genutzt.

Versorgungsheim Farmsen nach 1945

Nach 1945 kam es für die Bewohner*innen kaum zu Veränderungen. Steigertahl blieb zunächst Leiter des Versorgungsheims Farmsen wie auch der Staatlichen Wohlfahrtsanstalten. Seine Weiterbeschäftigung auch nach 1945 hatte er (eigenen Angaben in seiner Biographie 1974 zufolge) vor allem Sozialsenator Paul Nevermann zu verdanken (laut Schürmann 2018).

Die Praxis der Entmündigung der im Versorgungsheim Farmsen lebenden Menschen wurde nach 1945 zunächst unreflektiert fortgesetzt. Die Verabschiedung des Grundgesetzes erschwerte ab 1949 Entmündigung und Anstaltseinweisung.

1969 führte Hamburg als erstes Bundesland Heimbeiräte als Organ der Mitsprache der Bewohner*innen ein.

Dr. Käthe Petersen, in der NS-Zeit amtlicher Sammel-Vormund und zuständig für Zwangseinweisungen nach Entmündigung, war nach 1945 weiter in der Fürsorge tätig, machte Kariere und erhielt 1973 das Bundesverdienstkreuz.

Das bei der Sozialbehörde angesiedelte ‚Amt für Heime‘ wurde per 1. Januar 1991 aufgelöst. Der Landesbetrieb ‚Pflegen & Wohnen‘ wurde geschaffen. Ab 1. August 1997 wurde er umgewandelt in eine Anstalt öffentlichen Rechts (AÖR) mit der Stadt Hamburg als Eigentümer.

Per 1. November 2005 erfolgte die Privatisierung des Pflegebereichs, die endgültig abgeschlossen wurde per 1.1.2007. Die verbliebenen brerich werden ‚f&w fördern & wohnen‘ benannt und bleiben AÖR.

Nachfolgeunternehmen sind seitdem ‚Pflegen & Wohnen Hamburg‘ sowie ‚Fördern&Wohnen‘. Pflege&Wohnen ist inzwischen größter privater Anbieter stationärer Pflege in Hamburg, Farmsen ist einer von 13 Standorten des Unternehmens.

Gedenken an die Opfer des Versorgungsheims Farmsen

Eine staatliche Gedenkveranstaltung (Bezirksversammlung Wandsbek) fand erstmals am 27. Januar 2013 [!] statt.

Da bisher ein Gedenkort fehlte, pflanzte der ‚Zentralrat der Asozialen Deutschlands‘ ZAID 2015 ein Beet mit Klee auf dem Gelände des ehemaligen Versorgungsheims Farmsen.

Eine Gedenktafel (August-Krogmann-Str. 100) des Denkmalschutzamtes wuerde zwischenzeitlich demontiert. Sie trug den Text

Die Anlage mit Wohn-, Verwaltungs-, Wirtschafts- und Fabrikgebäuden entstand 1903 als Zweigstelle des „Werk- und Armenhauses“ Barmbek. Erweiterungen folgten 1912 und in den 1920er-Jahren. Hier wurden behinderte und hilfsbedürftige Menschen untergebracht und in Fabrik, Wäscherei, Haus- und Landwirtschaft beschäftigt. In der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945) wurden viele der eingewiesenen sogenannten asozialen Personen zwangssterilisiert, entmündigt oder deportiert.
Seit 1961 sind hier ein Pflegezentrum sowie sozialtherapeutische Einrichtungen für seelisch behinderte Menschen untergebracht.

Text der derzeit demontierten Gedenktafel

An der Adresse August-Krogmann-Str. 100 erinnern mehrere Stolpersteine an ehemalige Bewohner*innen des Versorgungsheimes Farmsen.

Ein Gedenk- und Lernort ist in Überlegung.

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Hamburg Homosexualitäten

Hans Bürger-Prinz (1897 – 1976)

Hans Bürger-Prinz wurde als Hans Bürger am 16. November 1897 in Weinheim geboren. Sein leiblicher Vater war der Oberpostsekretär Joseph Bürger.
1929 wurde Hans Bürger durch den Justitiar Gerhard Prinz adoptiert, dadurch entstand der Nachname Bürger-Prinz.

Nach dem Abitur in Köln studierte er in Bonn und Köln. Promotion und 1930 Habilitation erfolgten in Köln. 1936 zog Bürger-Prinz nach Hamburg, wo er am 1. April 1936 Nachfolger des 1934 entlassenen und im April 1939 nach KZ-Haft (KZ Sachsenhausen) in die USA emigrierten Hermann Josephy (1897 – 1960) zunächst kommissarischer Leiter der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik (bis 1942 Friedrichsberg, ab dann Universitäts-Krankenhaus Eppendorf UKE) wurde.

Nach kurzer (knapp 2 Jahre) Suspendierung 1945 bis 1947 setzte er seine Tätigkeit „als ordentlicher Professor und Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik“ ab 4. März 1947 fort. Am 1. Juli 1948 wurde er als ‚entlastet‘ klassifiziert.

Bürger-Prinz starb am 29. Januar 1976 in Hamburg. Er wurde auf dem Friedhof Hamburg-Blankenese beigesetzt.

Der Hamburger Psychiater spricht vor der 46. Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche und soziale Medizin in Kiel, 8. September 1967 – Magnussen, Friedrich (1914-1987) – Stadtarchiv Kiel – Lizenz CC BY-SA 3.0 de

Hans Bürger-Prinz in der NS-Zeit

Hans Bürger-Prinz wurde im April 1933 Mitglied der NSDAP, im Mai 1933 auch der SA, später auch weiterer NS-Organisationen.

Er fungierte seit 1938 ehrenamtlich Richter am Hamburger Erbgesundheitsgericht, das insbes. über Zwangssterilisationen entschied.

„Er war Richter bzw. Beisitzer an den Erbgesundheitsgerichten in Leipzig und Hamburg, die mit der Umsetzung des ‚Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ vom 14. Juli 1933 befasst waren. Er organisierte mit Ofterdinger [damals Gesundheitssenator; d.Verf.] die Selektion der Psychiatriepatienten in Hamburg in heilbare und unheilbare und unterstützte somit auch ohne Meldebogen die ‚Aktion T 4‘ an seiner Klinik.“

Hippius, Holdorff, Schliack 2006, S. 44

Die ‚Psychiatrische und Nervenklinik der Hansischen Universität‘, deren Leiter er seit 1936 war, spielte eine wesentliche Rolle bei der Durchführung der ‚Euthanasie-Morde‚ im Raum Hamburg: als ‚behandlungsunwürdig‘ erachtete Patient*innen wurden von hier nach Langenhorn verlegt, von wo sie in Tötungsanstalten deportiert wurden.

Die Vergasungsaktion (auch Mordaktion T4) versuchte Bürger-Prinz für seine Klinik zu nutzen. Angesichts zunehmenden Mangels an männlichen Kräften infolge des Kriegs schrieb er zwei Monate vor Ende der Aktion

„… wäre es der Klinik sehr erwünscht, Pflegepersonal zu erhalten, das infolge der in den Heil- und Pflegeanstalten durchgeführten … Maßnahmen des Reichsminister des Innern freigeworden ist oder noch frei wird. … Die Klinik beantragt daher, an die zuständigen Stellen heranzutreten, um besonders dem großen Mangel an männlichem Pflegepersonal abzuhelfen.
Der Direktor gez. Bürger-Prinz“.

Hans Bürger-Prinz, damals Direktor Psychiatrische und Nervenklinik der Hansischen Universität Hamburg Eppendorf, Juni 1941 [zitiert nach Dr. Dietrich Kuhlbrodt
Oberstaatsanwalt i.R., ‚Euthanasie als Verwaltungshandeln im Nationalsozialismus‘, in: Gedenkschrift zur Erinnerung an Kinderopfer in der NS-Zeit, Hamburg 1999

Über die Folgen seiner Tätigkeit als Psychiater des Wehrkreises X vermutet Roth

„Wir wissen nicht, wie viel Kriegsneurotiker von Bürger-Prinz an die Exekutionskommandos der Kriegsgerichte ausgeliefert wurden, ihre Zahl geht wahrscheinlich in die Dutzende.“

Karl Heinz Roth: Großhungern und Gehorchen. Das Universitätskrankenhaus Eppendorf, in: Angelika Ebbinghaus, Heidrun Kaupen-Haas, Karl Heinz Roth: Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, Hamburg 1984

Bürger-Prinz‘ Rolle während der NS-Zeit ist bis heute nicht abschließend untersucht und aufgearbeitet.

Seine Rolle während dieser Zeit, insbesondere im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Verbrechen, konnte bis heute nicht restlos geklärt werden.

Dr. Kai Sammet, UKE, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, UKE news Dezember 2006

Bürger-Prinz und Homosexualität

Eine undatierte ‚Aufstellung der HR‘ für den Wehrkreis X (Hamburg) führt den

„Stabsarzt Prof. Bürger-Prinz, Hamburg, Nervenklinik der Universität“

auf als

„vorzuschlagenden Gutachter für homosexuelle Delikte zwecks Unterscheidung zwischen einmaligen Handlungen und Anlagebedingtheit“

Quelle: Günter Grau, Homosexualität in der NS-Zeit

Hans Bürger-Prinz in der Bundesrepublik – Sexualforschung in NS-Denkmustern ?

Jan Feddersen bemerkt am 18. März 2000 in der taz

„In der jungen Bundesrepublik gaben vor allem zwei Mediziner den Ton im sexualwissenschaftlichen Diskurs an, Hans Bürger-Prinz und Hans Giese, beide tätig am Hamburger Institut für Sexualforschung. Sowohl Bürger-Prinz als auch Giese erhielten ihre antiliberale und im Übrigen an einem Blut-und-Boden-Bild orientierte Ausbildung während der Nazizeit. Durch ihr Wirken wurde der Paragraf 175 in seiner verschärften NS-Fassung in den Fünfzigerjahren beibehalten.“

Jan Feddersen 2000

Bürger-Prinz veröffentlichte 1963 gemeinsam mit Fritz Bauer, Hans Giese und Herbert Jäger ‚Sexualität und Verbrechen – Beiträge zur Strafrechtsreform‘.

‚Steven Milverton‘ bemerkt 2012 zu beiden

„Bürger-Prinz förderte die wissenschaftliche Karriere Gieses bereits in der Nazi-Zeit und verschaffte ihm später eine Professur in Hamburg. Zwar folge Giese Bürger-Prinz‘ Lehrmeinung nicht in allen Punkten, allerdings übernahm er von ihm die Auffassung, Homosexualität werde durch Verführung erworben. Der Historiker Bernd-Ulrich Hergemöller ist der Auffassung, dass diese beiden die deutsche Sexualforschung der Nachkriegszeit weitgehend im Sinne der Denkmuster der NS-Zeit beeinflussten.“

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Homosexualitäten

Carl-Heinz Rodenberg (1904 – 1995)

Carl-Heinz Rodenberg (Schreibweisen auch: Karl-Heinrich oder Karl-Heinz) wurde am 19.11.1904 in Heide geboren und starb 1995 im Odenwald. Carl-Heinz Rodenberg war ab 1943 wissenschaftlicher Leiter der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung – und damit eine der zentralen Figuren der Homosexuellen-Verfolgung in der NS-Zeit.

Carl-Heinz Rodenberg studierte Medizin und promovierte 1930 an der Universität Marburg (Dissertation). Im April 1932 trat er der NSDAP sowie der SA bei und wurde 1933 Mitarbeiter des ‚Rassenpolitischen Amtes‚ der NSDAP. Bei der SS erreichte er später den Rang des ‚Obersturmbannführer‘ (Offiziersrang, vergleichbar etwa einem heutigen Oberstleutnant).

Carl Heinz Rodenberg
Carl Heinz Rodenberg
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Politisches

“Ich habe meine Chance genutzt” – Ärzte in der NS-Zeit

2010 jährt sich zum 65. Mal die Befreiung vom Faschismus. Ein weniger bekanntes Kapitel im System der NS-Herrschaft und des Terrors ist die Beteiligung von Medizinern an Verfolgung und Vernichtung. Ihre zumindest ansatzweise juristische Aufarbeitung führte zu einem der wesentlichen Grundlagen des Schutzes von Patienteninteressen, dem Nürnberger Codex.

Ärzte spielten eine bedeutende Rolle im Verfolgungs- und Vernichtungs-Apparat der NS-Diktatur, so auch bei der Vernichtung von Juden, Roma und Sinti, psychisch Kranken oder der Verfolgung und Unterdrückung von Homosexuellen.
Die Bedeutung von Ärzten in der NS-Rasse- und Vernichtungspolitik wird durch Zitate wie dieses deutlich:

Ratten, Wanzen und Flöhe sind auch Naturerscheinungen, ebenso wie die Zigeuner und Juden. Sie sind daher gleichfalls gottgewollte Wesen, aber man kann sie ebensowenig durch rücksichtsvolle Behandlung bessern oder beim zusammenleben von uns fernhalten wie entartete Asoziale und unnormal ichsüchtige, kriminell-hemmungslose Menschen. Alles Leben ist Kampf. Wir müssen deshalb alle diese Schädlinge biologisch allmählich ausmerzen.

Dr. Kurt Hannemann, in “Ziel und Weg” Nr. 9 / 1939, Organ des Nationalsozialistischen Ärztebundes; zitiert nach Bastian / Homosexuelle im Dritten Reich

Zwei der bedeutendsten Ärzte bei der Verfolgung Homosexueller:
Dr. med. Carl-Heinz Rodenberg (Reichsicherheitshauptamt Amt III b 3 sowie ‘sexualpsychologischer Berater’ der Abteilung V; u.a. Gutachter bei der ‘Mordaktion T4‘ sowie ab 1943 ‘wissenschaftlicher Leiter’ der ‘Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung‘)

Carl Heinz Rodenberg
Carl Heinz Rodenberg

sowie der dänische Mediziner Dr. Carl Vaernet (bekannt und gefürchtet für seine Experimente an Homosexuellen in Buchenwald).(In der Gedenkstätte Buchenwald erinnert seit 2006 ein Gedenkstein an die homosexuellen NS-Opfer).

Carl Vaernet
Carl Vaernet

Eines der wichtigsten Zentren der NS-Ideologie im Medizin-Betrieb: die am 1. Juni 1935 eingeweihte “NS-Ärzteschule” (“Führerschule der deutschen Ärzteschaft”) in Alt Rehse, heute zur Stadt Penzlin in Mecklenburg-Vorpommern gehörend. Etwa 40.000 Ärzte und medizinisches Personal wurden hier in einem ehemaligen Rittergut von 1935 bis 1943 (ab 1941 überwiegend Reserve-Lazarett) entsprechend der NS-Ideologie medizinisch ‘weitergebildet’. Darunter auch Ärzte, die später in Konzentrationslager Menschenversuche vornahmen, Ärzte die in Behörden über “lebensunwertes Leben” urteilten, Ärzte die Menschen in die Vernichtung schickten.

Auf dem Gelände und in Gebäuden der ehemaligen “NS-Ärzteschule” befindet sich nach langem Leerstand seit 2006 der “Tollense Lebenspark”. Im Gutshaus Alt-Rehse erinnert die Ausstellung “Alt Rehse und der gebrochene Eid des Hippokrates” des ‘Vereins für die Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse e. V.’ an die Geschichte des Orts.

Dorfplatz in Penzlin-Alt Rehse September 2008 (Foto: wikimedia / GNU Lizenz)
Dorfplatz in Penzlin-Alt Rehse September 2008 (Foto: Bear62 / Lizenz cc by 2.0)

Village-Place Alt RehseBear62CC BY 3.0

Nach 1945 hatten viele Mediziner eine einfache Begründung für ihr kritikloses, teils bedingungs- und gnadenloses Engagement im und für das NS-System. Klar zum Ausdruck brachte dies zum Beispiel Karl Gebhardt, Oberster SS-Arzt, 1946 im Nürnberger Ärzte-Prozess [vgl. Memorium Nürnberger Prozesse] :

So hat mir… das Dritte Reich … auf ärztlichem Gebiet eine große Chance gegeben. Ich habe sie genutzt.

Gebhardt wurde in dem Prozess zum Tod verurteilt und hingerichtet. Viele Ärzte hingegen, die in KZs, Kliniken und Heilanstalten arbeiteten und gegen das Gebot der Menschlichkeit verstießen, an Verfolgung, Unterdrückung, Vernichtung beteiligt waren, wurden juristisch nicht belangt. Die meisten arbeiteten nach 1945 unbehelligt weiter, so auch Carl-Heinz Rodenberg und Carl Vaernet.

Der Nürnberger Ärzteprozess, in dem zwischen dem 9. Dezember 1946 und dem 20. August 1947 zumindest 20 KZ-Ärzte vor Gericht standen,  brachte einen bedeutenden Fortschritt, nicht nur juristisch, sondern auch für Patient/innenrechte: Dem Urteil des Nürnberger Ärzte-Prozesses voran gestellt war der “Nürnberger Codex” (“Stellungnahme des I. Amerikanischen Militärgerichtshofes über “zulässige medizinische Versuche”), der u.a. zu medizinischen Versuchen an Menschen festlegt:

„Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. Das heißt, dass die betreffende Person im juristischen Sinne fähig sein muss, ihre Einwilligung zu geben; dass sie in der Lage sein muss, unbeeinflusst durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen; dass sie das betreffende Gebiet in seinen Einzelheiten hinreichend kennen und verstehen muss, um eine verständige und informierte Entscheidung treffen zu können.“.

Der Nürnberger Kodex gehört seitdem zu den ethischen Grundlagen der Ausbildung von Medizinern – und ist eine der wesentlichen Grundlagen des Schutzes von Patienten.

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Der Tollense Lebenspark musste 2015 das Gelände nach einem Gerichturteil verlassen. Erneut müssen Investoren gesucht werden.

2017 hieß es, auf dem 2016 erworbenen Gelände sei ein Hotel mit Meditationszentrum in Planung. 2021 war von der Schaffung eines Luxushotels die Rede.

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weitere Informationen:
wikipedia: Liste von NS-Ärzten und Beteiligten an NS-Medizin
IPPNW Nürnberg – Erlangen Fürth: Nünberger Kodex 1997
Evelyn Hauenstein: Ärzte im Dritten Reich – Weiße Kittel mit braunen Kragen
Tollense Lebenspark: Die Geschichte des Tollense Lebensparks
ns-eugenik.de (dort -> Die Führerschule in Alt Rehse)
Politische Memoriale Mecklenburg-Vorpommern e.V.: Alt Rehse/ Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse

Peter Tatchell 05.05.2015: The Nazi doctor who experimented on gay people – and Britain helped to escape justice
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Berlin

Euthanasie Mordaktion T4 – der erste NS- Massenmord

Mordaktion T4 : ab April 1940 wurde in Berlin in der Tiergartenstrasse 4 die Vernichtungsaktion psychisch Kranker und Behinderter geleitet und gesteuert. Hier saßen die Schreibtischtäter der Verfolgung und Vernichtung, insbesondere der berüchtigten ‘Mordaktion T4′.

Mordaktion T4
Mordaktion T4
Mordaktion T4 - Gedenktafel
Mordaktion T4 – Gedenktafel

Für die ‚Euthanasie‘-Mordaktion hatte der NS-Staat sechs Tötungsanstalten eingerichtet:

  • Bernburg
  • Brandenburg
  • Grafeneck
  • Hadamar
  • Hartheim und
  • Pirna-Sonnenstein.
Mordaktion T4 - Gedenktafel
Mordaktion T4 – Gedenktafel

Der erste Transport fand am 18. Januar 1940 statt, 25 Patienten von der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar in die Tötungsanstalt Grafeneck.

Insgesamt wurden in der Mordaktion T4 über 70.000 Menschen ermordet. Nach öffentlichen Protesten wurde sie am 24. August 1941  formell unterbrochen (‚Euthanasiestopp‘), de facto jedoch fortgesetzt.

Wie auch bei anderen NS-Euthanasie-Programmen gab es nahezu keine Überlebenden der ‘Aktion T4‘.

Unter den Schreibtisch-Tätern der Aktion war auch (als Gutachter) Carl-Heinz Rodenberg, der später wissenschaftlicher Leiter der ‘Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung‘ wurde.

Kaum einer der Täter wurde nach 1945 strafrechtlich verfolgt. Der Leiter der Aktion, August-Dietrich Allers, wurde 1948 trotz Wissens um die Mordaktion T4 entnazifiziert und arbeitete als Anwalt. Er wurde 1968 / 1972 zu 8 Jahren Haft verurteilt, musste die Haftstrafe jedoch u.a. wegen Anrechnung der Untersuchungshaft nicht antreten. Der ‚Obergutachter‘ Werner Heyde konnte (ähnlich wie der Massenmörder Heinz Reinefarth) nach 1945 in Schleswig-Holsetin karriere machen.

Mordaktion T4 – Denkmal der grauen Busse 2008

Mordaktion T4 - 'Denkmal der grauen Busse'
Mordaktion T4 – ‚Denkmal der grauen Busse‘ 2008

Als vorläufiges Mahnmal für die Euthanasie-Opfer erinnerte 2008 das ‘Denkmal der grauen Busse‘:

Ein grauer Bus aus Beton in Originalgröße, ein Bus wie er typisch war für die Busse der Tarnorganisation ‘Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft’ (GEKRAT), ein Denkmal ‘mit einem Gang in der Mitte und der überlieferten Frage eines Patienten “wohin bringt ihr uns?”

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Mordaktion T4 – Gedenktafel Stralsund

Am Hauptbahnhof Stralsund wird mit einer Gedenktafel an 1.160 psychisch Kranke erinnert, die im Rahmen der Euthanasie-Mordaktion von hier aus abtransportiert und ermordet wurden:

Mordaktion T4 - Gedenktafel Stralsund Hauptbahnhof
Mordaktion T4 – Gedenktafel Stralsund Hauptbahnhof

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Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde 2015

Der Deutsche Bundestag beschloss im November 2011, einen „Gedenkort für die Opfer der NS-‚Euthanasie‘-Morde“ am historischen Ort der Planung dieser Verbrechen einzurichten. Realisiert wurde nach einem 2012 ausgelobten Wettbewerb der Entwurf der Architektin Ursula Wilms, des Künstlers Nikolaus Koliusis und des Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann. Am 2. September 2014 war die Eröffnung des Gedenkorts.

Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen 'Euthanasie'-Morde, Juni 2015
Mordaktion T4 – Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde, Juni 2015
Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen 'Euthanasie'-Morde, Juni 2015
sog. ‚Euthanasiemorde‘ – Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde, Juni 2015

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Ermordung psychisch Krankner und geistig Behinderter in Frankreich während der NS-Besatzung

Auch in Frankreich, unter der NS-Besatzung wie auch in Vichy-Frankreich, wurden psychisch Kranke und ‚geistig Behinderte‘ verfolgt und ermordet.

Präsident Hollande kündigte 2015 an, sie zu ehren.

Seit 10. Dezember 2016 erinnert eine Plakette auf der place du Trocadero in Paris:

« Ici, le 10 décembre 2016, la Nation a rendu hommage aux 300 000 victimes civiles de la seconde guerre mondiale en France. 45 000 d’entre elles, fragilisées par la maladie mentale ou le handicap et gravement négligées, sont mortes de dénutrition dans les établissements qui les accueillaient. Leur mémoire nous appelle à construire une société toujours plus respectueuse des droits humains, qui veille fraternellement sur chacun des siens. François Hollande, Président de la République. »

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Politisches

Diversität, Gene und Selbstverständnis – “Es ist normal, verschieden zu sein.“

“Genomforschung und das Selbstverständnis des Menschen” lautet der Titel eines Vortrags, in dem Wolfram Henn (Universität des Saarlands) sich am 15. Juli im Medizinhistorischen Museum der Charité Berlin (in dem noch bis 14.9.2008 die Ausstellung “Sex brennt” über Magnus Hirschfeld stattfindet) mit Diversität auseinander setzte.

Henn: "Genforschung und Selbstverständnis des Menschen"
Henn: „Genforschung und Selbstverständnis des Menschen“

Der Vortrag war Teil des Öffentlichkeits-Programms des Welt-Genetik-Kongresses, der vom 12. bis 17. Juli 2008 in Berlin stattfand.

Das Genom – biochemischer Bauplan, der unveränderlich unsere Leben bestimmt. Klar – oder?
Bisher galt es als selbstverständlich, dass das Genom unveränderlich ist, einen Menschen sein ganzes Leben lang typisch kennzeichnet. Doch – inzwischen streiten sich die Forscher ob der Frage “was ist ein Gen”. Das was als grundlegender Baustein des Lebens betrachtet wird, entzieht sich derzeit scheinbar einer einhelligen Definition. Ein Streit mit potenziell gravierenden Auswirkungen.

Das Genom stellt sich derzeit eher dar als ein komplexes Wechselspiel zwischen Körper und Seele, Krankheit, Umwelt, Entwicklung, Alter – das starre Bild vom immer gleich bleibenden Genom ist passé, das Genom ist kein ewig gleicher Code. Zwar ist der Mensch ein Produkt seiner Gene – aber auch das Genom unterliegt viel mehr als bisher gedacht einer ‘Schwankungsbreite’. Das Genom ist nicht der ‘Quellcode’ des Lebens; eine lebenslange genetische Identität, wie noch vor kurzem gedacht, scheint ein Irrglaube – vielmehr stellt sich das Genom als ein ständig verändernder Pool im Wechselspiel befindlicher Gene (Polymorphismus; genetische Variation).

Prof. Wolfram Henn
Prof. Wolfram Henn

Vor diesem Hintergrund aktueller Diskussionen in der Humangenetik fand der Vortrag von Prof. Dr. med. Wolfram Henn statt.
Henn ist Professor für Humangenetik und Ethik an der Universität des Saarlands. Zudem ist er Leiter der Genetischen Beratungsstelle sowie u.a. Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundes-Ärztekammer. Seit 2016 ist er Mitglied des Deutschen Ethikrats.
Im März 2007 wurde Prof. Henn als erster Humangenetiker mit dem ‘Moritz’ ausgezeichnet für sein besonderes Engagement für Patienten mit Down-Syndrom.
Henn ist u.a. Autor des Buches “Warum Frauen nicht schwach, Schwarze nicht dumm und Behinderte nicht arm sind – Der Mythos von den guten Genen“ (2004).

Henn illustrierte im Verlauf seines Vortrags recht plastisch einige gängige (Vor-)Urteile:

Wie steht es zum Beispiel mit der überlegenen Position des Menschen, der “Krone der Schöpfung“?
Vergleicht man die Chromosomenzahl, so steht der Mensch gut da: hat eine Taufliege 8 Chromosomen, der Hund 38 und der Rhesusaffe 42, so kommt der Mensch auf 46. Leider – der Schimpanse hat schon 48 Chromosomen, ein Rind 60 und ein Karpfen gar 104.
Aber auch bei der Zahl der Basenpaare der Gesamt-DNA ein widersprüchliches Ergebnis: einfache Viren weisen ca. 5.000 Basenpaare auf, Bakterien 1.000.000. Eine Reispflanze ca. 400.000.000, und der Mensch 3.300.000.000. Nur – schon ein simpler Grashüpfer kommt auf 18.000.000.000 Basenpaare, und ein Nacktfarn gar auf 250.000.000.000.
Schwierig also, aus nackten Daten der Genetik eine Überlegenheit des Menschen abzuleiten …

Abr immerhin – die ‘Krone der Schöpfung’ hat doch ein recht großes Gehirn?
Ja, stimmt. Aber was sagt das? Bismarcks Gehirn wog 1.807 Gramm, das von Ludwig II. 1.330, das von Marilyn Monroe 1.440, und das von Albert Einstein 1.230 Gramm. Aussage?
Nebenbei, ‘Flipper’ kommt auf 1.700 Gramm …

Und, wenn wir schon bei Überlegenheit sind, manche halten ja Menschen kaukasischer Abstammung (Caucasians, vulgo “Weiße”) für eine überlegene Ethnie (vulgo ‘Rasse’).
Die Erbinformation des Menschen zeigt, woher wir abstammen. Seit viele ‘Vorläufer’ des heutigen Menschen gefunden und untersucht sind, lässt sich recht leicht ein ‘evolutionärer Stammbaum’ des Menschen erstellen. Müsste sich hier dann nicht auch die genetische vermutete ‘Überlegenheit der weißen Rasse’ zeigen?
Vor ca. 38.500 Jahren trennte sich entwicklungsgeschichtlich der Weg der afrikanischen Menschen von denen sämtlicher nicht-afrikanischer Menschen (denn aus Afrika stammen alle ältesten Funde von Menschen, Afrika ist die Wiege der Gattung ‘homo sapiens’). Nun, leider zeigt dieser ‘molekulare Stammbaum’ des heutigen Menschen nicht etwa, dass die ‘kaukasische’ Ethnie eine überlegene genetische Vielfalt aufweist. Vielmehr – 90 Prozent der genetischen Vielfalt der Menschheit finden sich in Afrika, ein Kikuyu unterscheidet sich genetisch viel stärker von seinen Nachbarn Ibo oder San, als jeder weißhäutige Deutsche von Chinesen, Russen oder auch nur Franzosen. Nur ganze 10% der genetischen Vielfalt der Menschheit finden sich außerhalb Afrikas.

Prof. Wolfram Henn
Prof. Wolfram Henn

Wie steht es mit ‘genetischen Defekten‘? Schließlich, Gen-Tests beginnen immer mehr in die Praxis zu dringen, sei es zur Früherkennung, oder zum Risikoausschluss (medizinisch, aber leider auch z.B. bei Versicherungen).

Henn erwähnte als Beispiel den Umgang mit Trisomie 21 (‘Down-Syndrom’).
Im Rahmen der Schwangerschafts-Diagnostik können Frauen untersuchen lassen, ob der Fötus eine genetische Veränderung aufweist, die auf Trisonomie21 hinweist. Wird diese festgestellt, lassen die Frauen in 90% der Fälle einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Aber unter 20% der Frauen nutzen vor oder wenigstens nach der Diagnose die Möglichkeit einer genetischen Beratung.

Von denjenigen Frauen, die trotz des Untersuchungsergebnisses ‘Trisonomie 21′ ihr Kind zur Welt gebracht haben, berichten 40%, ihnen sei bereits vorgeworfen (!) worden, dass die Geburt des Kindes hätte verhindert werden können (im Vergleich zu 25% der Mütter, bei denen die Diagnose vor Geburt nicht bekannt war). Eine rein gesellschaftliche Bewertung … Zudem, Studien zeigen, dass die psychische Belastung der Mütter von Kindern mit ‘normalen’ Kindern oder von Kindern mit Down-Syndrom nahezu identisch ist (bis auf das Gefühl, mehr Alltagsprobleme zu haben).

Henn stellte ein weiteres Beispiel eines vermeintlichen ‘Gen-Defekts’ vor.
Ein bei einigen Menschen vorhandener Defekt auf dem CFTR-Gen führte dazu, dass Typhus diese nicht infizieren konnte. Während der großen Typhus-Epidemien erwies sich dieser ‘Defekt’ als bedeutender Überlebens-Vorteil. Heute allerdings wird festgestellt, dass Menschen mit genau diesem CFTR-Gendefekt ein erhöhtes Risiko für Mukoviszidose haben – ein Defekt, der einst ein Vorteil war, kann sich nun als nachteilhaft erweisen.
Am Rande erwähnte Henn einen ähnlich gelagerten Fall, ein Defekt am Gen für CCR5, der heute einen Überlebensvorteil hinsichtlich HIV darstellt (eine Infektion mit HIV ist mit einem CCR5-Defekt nur schwer möglich).

Gen-Defekte treten häufig auf, betonte Henn. Wichtig sei, sich des Unterschieds zwischen ihrem Auftreten und ihrer gesellschaftlichen Bewertung bewusst zu sein.
Am Wissen um Gen-Defekte könnten neben den Betroffenen (z.B. aus gesundheitlichen Gründen) auch ganz andere Kreise potenziell Interesse haben. Krankenversicherer könnten an Daten zu Gen-Defekten (sei es z.B. CCR5-Defekt oder Trisonomie 21) hohes Interesse hinsichtlich veränderter Krankenversicherungs-Beiträge haben. Rentenversicherer dürften sicher überlegen, ob auch Menschen mit einem sog. ‘Langlebigkeits-Gen’ die gleichen Rentenversicherungs-Beiträge wie ‘Normal-Sterbliche’ zahlen sollten.
Diese wenigen Beispiele zeigten schon deutlich, dass es dringend ein Gen-Diagnostik-Gesetz brauche, um Missbrauch zu vermeiden (ein entsprechender Referenten-Entwurf ‘Gendiagnostikgesetz’ befindet sich derzeit in Diskussion).

Henn zog zum Schluss seines Vortrags (der umfangreicher als hier dargestellt war) folgendes Fazit:

“1. Der Mensch ist wie alle Lebewesen den Gesetzen der Natur unterworfen.
2. Der Mensch schadet sich durch Missachtung anderer Lebewesen selbst.
3. Die Menschenwürde ist unabhängig von genetischen Eigenschaften.
4. Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind biologisch sinnvoll.
5. Jeder Mensch trägt genetische Defektanlagen.
6. Jeder Mensch muss damit rechnen, genetisch kranke Nachkommen zu haben.
7. ‘Gute’ oder ‘schlechte’ Gene gibt es nicht.
8. Eugenik kann keine ‘Erbgesundheit’ erzeugen.
9. Nur mit einer möglichst großen genetischen Vielfalt kann die Menschheit bestehen.
10. Unsterblichkeit ist weder erreichbar noch wünschenswert.”

Henns Schlusswort: ein Zitat von Richard von Weizsäcker (1993):

Es ist normal, verschieden zu sein.