„Der Film zeigt die Erfolge, aber auch fatale Fehler und tödliche Niederlagen. Damals eine Geschichte vom Sterben, ist sie heute eine vom Überleben. Viele der ersten Aids-Kranken wurden zu Opfern fehlgeschlagener medizinischer Therapien. Aber auch Ärzte und Wissenschaftler scheitern bis heute an der Erforschung von Medikamenten. Aids ist eine Blaupause für den Umgang mit einer globalen Epidemie. Viele haben vergessen, was Aids bedeutet. Diese Dokumentation erzählt davon.“
40 Jahre Aids – Pressetext Arte TV
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40 Jahre Aids – Schweigen = Tod Dokumentation, 45 Minuten (für den Schulunterricht gibt es eine Schnittversion von 30 Minuten) Deutschland 2021 (WDR) Regie und Drehbuch: Jobst Knigge mit Dirk Ludigs, Sabine Weinmann, Ulrich Würdemann, Dietmar Schranz, Barbie Breakout u.a.
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40 Jahre Aids – Schweigen = Tod im Kino zu sehen: Klick Kino, Berlin Dienstag 29.11.2022, 20:00 – 23:00 Uhr in Anwesenheit des Regisseurs und von weiteren Protagonist*innen
40 Jahre Aids – die Aids-Krise wird längst auch zur Geschichte, die erzählt wird. Mit welchem Sprachgebrauch bei Aids ?
Bei der Beschreibung der Aids-Krise und ihrer Geschichte wird immer noch, auch 40 Jahre nach den ersten Berichten über Aids, auch auf eine militärische Metaphorik zurück gegriffen, auf Begriffe wie Krieg und Kampf. So spricht z.B. Rosa von Praunheim (schon 1990 wegen seiner moralinsauren Haltung z.B. in einer Aids-Trilogie Ziel von ACT UP Protesten) auch 2021 noch (als einzige der 10 interviewten Experten) in militärischer Metaphorik von „der Kampf ist noch nicht vorbei“ (in „Wir alle hatten Angst“, die 40-jährige Geschichte des HI-Virus, SZ Magazin Nr. 23 vom 11.6.2021).
Die Probleme dieser kriegerischen Metaphorik sind längst bekannt, Susan Sontag hat sie seziert. Ent- Militarisieren wir endlich unseren Sprachgebrauch bei Aids:
Krieg und Kampf – im Sprachgebrauch bei Aids auch nach 40 Jahren?
Beide Publikationen benutzten eine kühle sachliche Sprache – doch schon bald wurden die Berichte bildhafter. Bald wurde im Kontext von Aids von ‚Krieg‘ gesprochen, von ‚Invasion‘, von ‚Schlachten‘.
Und noch heute wird in Berichten über die Aids-Krise oft eine Sprache voll militärischer Metaphorik verwendet.
ACT UP und Therapieaktivismus – tatsächlich eine Schlacht um Medikamente?
Doch schon lange habe ich mich selbst erstaunt gefragt „Was war das für ein Jahr, das mich die Gleichsetzung von Aids und Krieg hinnehmen, vielleicht auch selbst sagen ließ?“ Und komme 2013 zu dem Schluss „‘Aids ist Krieg‘ – geht das? Nein. Die Formulierung ist nicht nur ‘ganz schön heftig’, sondern ziemlich daneben. Aus heutiger Sicht.“ Und deute sie im Nachhinein damals als „hilflosen Versuch, sich gegen Verharmlosung zu wehren, Schmerz und Angst auszudrücken„.
War Aids ein Krieg? Gab es einen Kampf, eine Schlacht um Medikamente?
Nein. Es war keine Schlacht um Medikamente. Es gab keinen Kampf, keine Feinde, keine Niederlagen und großen Siege, es ging nicht um Sieger und Verlierer.
Diese martialische Kriegs- Metaphorik halte ich für unangebracht und nicht zielführend . Sie hilft nicht zu verstehen was damals geschah. Sie scheint mir wie rhetorische Aufrüstung. Sie verhüllt Tatsachen, Probleme, Scheitern und kleinere Erfolge. Und bringt mit sich die Gefahr einer falschen Heroisierung, die die tatsächliche Situation verkennt.
Was wir brauchen sind Versuche die Geschichte von Aids und des Umgangs mit der Aids- Krise nüchtern, ehrlich und auch gefühlvoll darzustellen. Auch um daraus vielleicht lernen zu können.
Es war kein Krieg, es gab keine Schlacht. Es gab eine Seuche. Viele von uns erkrankten, viele starben. Wir erlebten Ignoranz und Gleichgültig. Es gab Interessen und Interessenkollisionen. Wir wollten leben und überleben. Dazu brauchten wir auch wirksame Medikamente. Darum ging es.
Sprachgebrauch bei Aids – Normalisierung auch in der Sprache
Eine Metapher (ein Wort oder Kombination von Wörtern mit bildhafter übertragener Bedeutung) ist ein attraktives Instrument. Sie ist bildhaft, kann einen Sachverhalt leichter verständlich machen. Damit beinhaltet sie jedoch auch die Gefahr zu stark zu vereinfachen.
Zudem: oft sind Metaphern mit einem Subtext versehen, mit versteckten Anspielungen oder Assoziationen. (Beispiel, ganz plump: Aids als ‚Strafe Gottes‘ darzustellen impliziert unausgesprochen ein Fehlverhalten, eine Schuld, die Notwendigkeit einer Sanktion, ein Stigma)
Gerade auch bei der Darstellung der Geschichte der Aids- Krise ist es wichtig mit Sprache bewusst umgehen. Nicht zu heroisieren (auch uns selbst, unser Engagement nicht). Sondern nüchtern, ehrlich und um Erkenntnis bemüht.
die Bedeutung der Sprache – Susan Sontag
Die 2004 verstorbene Publizistin und Essayistin Susan Sontag befasste sich 1989 in ‚Aids und seine Metaphern‘ (Aids and its metaphors) mit der Frage des Sprachgebrauchs bei Aids und seinen Hintergründen. Zuvor hatte sie sich bereits 1978 vor dem Hintergrund einer eigenen Krebs-Erkrankung in ihrem Buch ‚Krankheit als Metapher‘ (Illness as metaphor) damit auseinander gesetzt, wie Krankheit moralisch aufgeladen wird.
„disease is seen as an invasion of alien organisms, to which the body responds by its own military operations“ [‚Krankheit wird gesehen als Invasion fremder Organismen, auf die der Körper mit eigenen militärischen Operationen reagiert‘, Übers. UW]
Susan Sontag, Aids and its metaphors
Sie erkannte wie problematisch die Militarisierung der Sprache im Gesundheitsbereich ist. Welcher Zusammenhang mit einem ethischen Herangehen besteht – und mit der Gesellschaft in der wir leben.
„Indeed, the transformation of war-making into an occasion for mass ideological mobilization has made the notion of war useful as a metaphor for all sorts of ameliorative campaigns whose goals are cast as the defeat of an ‚enemy‘.“ [‚Die Verwandlung der Kriegsführung in eine Gelegenheit ideologischer Massen- Mobilisierung hat den Begriff des Krieges als Metapher für alle möglichen Arten von Verbesserungs-Kampagnen einsetzbar gemacht, die auf die Niederlage eines ‚Feindes‘ ausgerichtet sind.‘]
„Abuse of the military metaphor may be inevitable in a capitalist society, a society that increasingly restricts the scope and credibility of appeals to ethical principle, in which it is thought foolish not to subject one’s action to the calculus of self-interest and profitability.” [Womöglich ist der Missbrauch der militärischen Metapher unvermeidbar in einer kapitalistischen Gesellschaft, einer Gesellschaft die Umfang und Glaubwürdigkeit des Berufens auf ethische Prinzipien zunehmend einschränkt, und in der es für dumm gehalten wird, das eigene Handeln nicht an Eigennutz und Profit zu orientieren.]
Sontag zeigte auf, welche Reichweite diese Metaphorik hat – und über die Frage der Schuld welches Stigmatisierungs- Risiko:
„The metaphor implements the way particularly dreaded diseases are envisaged as alien ‚other‘, as enemies are in modern war, and the move from the demonization of the illness to the attribution of fault to the patient is an inevitable one, no matter if patients are thought of as victims. Victims suggest innocence. And innocenc, by the inexorable logic that governs all related terms, suggests guilt.“ [‚Die Metapher schafft eine Art und Weise, sich besonders gefürchtete Krankheiten als etwas fremdes ‚Anderes‘ vorzustellen, wie es Feinde im modernen Krieg sind, und der Übergang von einer Dämonisierung der Krankheit hin zu Schuldzuweisung an den Patienten ist unvermeidlich, egal ob Patienten als Opfer betrachtet werden. Opfer, das suggeriert Unschuld. Und Unschuld suggeriert, aufgrund der unerbittlichen Logik die alle verwandten Begriffe steuert, Schuld.‘]
Militär- Metaphorik im Sprachgebrauch bei Aids hat damit auch ihr eigenes Stigma-Vokabular im Gepäck. Und potenziell weitreichende Folgen: das Risiko von Repression statt Förderung des Gemeinwohls. Sontag hält sie für besonders ‚unappetitlich und entstellend‘:
„Not all metaphors applied to illnesses and their treatment are equally unsavory and distorting. The one I am most eager to see retired – more than ever since the emergence of AIDS – is the military metaphor. Its converse, the medical model of the public weal, is probably more dangerous and far-reaching in its consequences, since it not only provides a persuasive justification for authoritarian rule but implicitly suggests the necessity of state-sponsored repression and violence. But the effect of the military imagery on thinking about sickness and health is far from inconsequential. It overmobilizes, it overdescribes, and it powerfully contributes to the excommunicating and stigmatizing of the ill.“ [Nicht alle auf Krankheit und deren Behandlung angewendeten Metaphern sind gleichermaßen unappetitlich und entstellend. Am meisten – mehr denn je seit dem Aufkommen von AIDS – ersehne ich den Ruhestand für die militärische Metapher. Das Gegenteil, das medizinische Modell des Gemeinwohls, ist in seinen Folgen wahrscheinlich gefährlicher und weitreichender in seinen Konsequenzen, da es nicht nur eine überzeugende Rechtfertigung für autoritäre Herrschaft liefert, sondern implizit die Notwendigkeit staatlich geförderter Repression und Gewalt suggeriert. Aber die Wirkung militärischer Bilder auf das Denken über Krankheit und Gesundheit ist alles andere als belanglos. Sie übermobilisiert, übertreibt und trägt stark zur Ausschluß und Stigmatisierung der Kranken bei.“
Susan Sontag beschreibt als Ziel – übertragen auch im Sprachgebrauch bei Aids -schon damals
„To regard cancer as if it were just a disease – a very serious one, but just a disease. Not a curse, not a punishment, not an embarrasssement. Without ‚meaning‘.“ [‚Krebs so zu betrachten, als wäre es nur eine Krankheit – eine sehr ernste, aber nur eine Krankheit. Kein Fluch, keine Strafe, keine Peinlichkeit. Ohne ‚Bedeutung‘.‘]
Krankheit nicht moralisch deuten, nicht überhöhen – sondern als Krankheit sehen, ernst aber ohne eigene ‚Bedeutung‘. Gleiches gilt für das Engagement dagegen – weder Krieg noch Kampf, sondern Engagement und Ringen um gute Lösungen und Ergebnisse – weil wir überleben wollten.
Und wohin mit der Militär-Metaphorik?
„About the metaphor, the military one, I would say, if I may paraphrase Lucretius: Give it back to the war-makers.“ [‚Über die Metapher, die militärische, würde ich sagen, wenn ich Lukrez paraphrasieren darf: Gebt sie den Kriegstreibern zurück.‘]
Dem ist nichts hinzuzufügen, auch 2021 nicht.
Lasst uns bei der Beschreibung der Aids-Krise und ihrer Geschichte nüchtern berichten und gefühlvoll erzählen. Aber ohne Miliär- Metaphorik.
‚Zero Patience‘, einer der wohl bemerkenswertesten Aids-Filme mindestens der 1990er Jahre, hatte am 11. September 1993 sein offizielles Debut auf dem ‚Festival of Festivals‘ im kanadischen Toronto. Gelassenheit und Ironie, das zeigt das Aids-Musical ‚Zero Patience‘, war auch zu schlimmsten Zeiten der Aidskrise möglich.
Ist Geduld eine Tugend? Oder wollen wir Sünder in der Hölle sein? Und kann man über Aids ein Musical drehen, gar mitten in der Aidskrise Anfang der 1990er Jahre? Am Schluss des kanadischen Films ‚Zero Patience‚ mag man sich diese Frage vielleicht neu stellen.
5 – 4 – 3 – 2 – 1 – zero patience
Der Titel Zero Patience spielt bewusst mit der (besonders von Randy Shilts propagierten) ‚urban legend‚ des ‚patient zero‚ – jenes kanadischen Flugbegleiters, der als ‚Index-Patient‘ vermeintlich Auslöser der HIV-Epidemie in den USA sein sollte (siehe unten).
Martin Dannecker hat Aids (genauer: die psychischen Reaktionen darauf) 1990 als „das kollektive Trauma der Schwulen“ beschrieben. Inzwischen hat Aids und damit das Gesicht der Aids-Krise sich wesentlich verändert. Das einstige „kollektive Trauma der schwulen“ – existiert es noch? Und wenn nicht – welche Folgen hat es? Versuche einer Annäherung. Heute Teil 1 – Trauma Aids – Dimensionen:
Trauma Aids – Dimensionen
Das Trauma Aids hat mehrere Facetten. Auf einige möchte ich etwas eingehen, teils auch persönlich eingefärbt.
Aids verwüstete unsere Jugend. Eben noch stolze und selbstbewusste junge schwule Männer, mussten wir uns ziemlich unvermittelt mit einer Welle an eine Welle an Stigmatisierung Homosexueller auseinander setzen: Homophobie, Gleichsetzung mit Krankheit, Sex- und Lustfeindlichkeit, Ablehnung und pauschale Kategorisierung als Risiko.
1995 / 96 erkrankte ich schwer, war mehrere Male im Krankenhaus. In der Mini-Serie „zweimal Rita und zurück“ erzähle ich aus dieser Zeit. Die PcP hatte ich überstanden, die nächste Lungenentzündung folgte wenige Wochen später. Bescherte mir zusätzlich eine lebensbedrohliche Antibiotika-Allergie, Absturz in tiefste Aussichtslosigkeit. Aber das vermeintliche Ende fand nicht statt – Teil 5: „Wie es (doch) weiterging …„ (Übersicht über alle Teile der Mini-Serie siehe Ende des Textes):
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Auch wenn es im Mai 1996 nach Ende aussah – es ging doch weiter. Ganz kurz erzählt: Aus dem Klösterchen entlassen, wechselte ich meinen Arzt. Ein neues Medikament, ein Proteasehemmer der ‚besser‘ sein sollte als derjenige, den ich erfolglos ‚versucht‘ hatte, war in klinischen Studien, und wurde nach ersten guten Ergebnissen ungewohnt schnell am 13. März 1996 in den USA zugelassen. Die Zulassung in Europa erfolgte zwar erst sieben Monate später, am 4. Oktober 1996 (pdf) – über Import konnte ich das neue Medikament allerdings schon jetzt bekommen und startete im Juni 1996 einen weiteren Therapie-Versuch. Mit neuen bürokratischen Hürden, meine Krankenversicherung weigerte sich zunächst, die Kosten zu übernehmen (was gemeinsam mit Tex Weber (1993 einer der Gründer von ‚Projekt Information‘, 1998 verstorben), der exakt das gleiche Problem hatte, geklärt werden konnte).
1995 / 96 erkrankte ich schwer, war mehrere Male im Krankenhaus. In der Mini-Serie „zweimal Rita und zurück“ erzähle ich aus dieser Zeit. Der vermeintliche Husten, der sich als lebensbedrohliche PcP entpuppte, war auskuriert. Doch lange hielt die vermeintliche Gesundung nicht an – Teil 4: „Absturz im Mai„ (Übersicht über alle Teile der Mini-Serie siehe Ende des Textes):
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Keine drei Monate später bin ich erneut im Krankenhaus, wieder im Klösterchen – und wieder mit einer Lungenentzündung.
Immerhin, schnell wird klar, diesmal ist’s nicht die gefürchtete PcP wie vor kurzem im Dezember / Januar, sondern ’nur‘ eine bakterielle Pneumonie. ‚Nur‘ – wenn’s so einfach wäre. Ich bekomme sofort Antibiotika – die aber nichts bewirken. Mir geht es nicht besser. Im Gegenteil, ich baue täglich weiter ab, bekomme schlechter Luft, habe keine Energie.
Dass mein Zustand schlecht ist, zeigen ganz nüchtern auch die Laborwerte. 31 Helferzellen sind es jetzt noch, und die Viruslast hat eine ungeahnte Rekordhöhe von 3,2 Millionen erreicht (was den Arzt, der solch einen Wert bisher noch nicht erlebt hat, zu einer Kontroll-Messung veranlasst – die nahezu den gleichen Wert ergibt).
„Ist das mein wunderbares Leben? Perspektiven der Überlebenden der Aids-Generation“ war der Titel einer Panel-Diskussion in New York, die Situation, Lebensgefühl und Perspektiven von Schwulen über 40 thematisierte, die die Aids-Krise ‘überlebt’ haben (‚ Aids-Überlebende ‚). Nun ist ein erstes zusammenfassendes Video über die Diskussion online verfügbar.
Das gut zehnminütige Video gibt einen guten Einblick in ein über 3 Stunden dauerndes Forum, das am 9. Mai 2013 im Baruch College in New York City stattfand. Teilnehmer der Podiums-Diskussion waren Jesus Aguais, Dr. L. Jeannine Bookhardt-Murray, Dr. Mark Brennan-Ing, Jim Eigo, Joe Jervis und Peter Staley (Kurz-Biographien hier). Moderiert wurde die Diskussion von Dr. Perry N. Halkitis.
Schock, Alptraum, Unverständnis, Ignoranz – mit vielfältigen Gefühlen beschrieben Panel-Diskutanten und Zuhörer ihre Wahrnehmungen und Gefühle, ihre Lebenssituationen als ‚ Aids-Überlebende ‚. Oft mit im Spiel: Erschütterung und Hilflosigkeit angesichts von Desinteresse und Unverständnis ihres Umfeldes.
“Für Schwule über 40 ist es als seien wir aus einem Krieg zurückgekehrt, einem Krieg der den meisten weit weit weg und entfernt war, selbst als er stattfand.“
Peter Staley, langjähriger ACT UP Aktivist und Mitgründer der Treatment Action Group TAG, fragt,
„was sagt das alles über uns selbst? Wie geht es uns heute? Wie gehen wir selbst mit einander um? Gibt es überhaupt eine Community, die sich um uns Gedanken macht?„
Jesús Aguais berichtete zur Situation bei Migranten über bemerkenswerterweise nahezu identische Ergebnisse aus Befragungen in New York und in Lateinamerika:
„Das höchste Ausmaß an Isolation: Meine letzte Frage lautete, was wissen Sie über Menschen wie Sie selbst, vor 1996 HIV-positiv getestet? Und 100 Prozent der Befragten sagten: absolut nichts. Darüber sprechen wir nicht.„
Gegen Ende des Videos fragt Peter Staley nüchtern:
„Viele von uns sehen, wie unsere landesweiten Schwulengruppen, ebenso wie unsere großen Stiftungen, all dieses viele ’schwule Geld‘ [gay money], wie sie sich alle ausschließlich auf den Wohlfühl-Kampf für die Homo-Ehe konzentrieren. So wertvoll dieser Kampf auch ist, stellen wir uns nicht selbst eine Falle mit dieser Konzentration auf nur ein einziges Thema? Schweigen mag nicht weiterhin in einem Ausmaß wie früher Tod bedeuten [Staley spielt an auf den ACT UP Slogan SILENCE = DEATH, SCHWEIGEN = TOD], aber es ist weiterhin Triebfeder eines alarmierenden Anstiegs von HIV-Infektionen bei jungen Schwulen, besonders bei den offensichtlich besonders leicht zu ignorierenden jungen schwulen Farbigen.„
Durch das ganze Video ziehen sich als (sehr unter die Haut gehender) ‚roter Faden‘ Tagebuch-Auszüge, die Joe Jervis (dem Autor des nicht nur in den USA beliebten Blogs Joe.My.God) als Selbst-Therapie schrieb, über einen Bekannten der an Aids erkrankte.
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In Kürze soll auf YouTube ein umfangreicheres Video über die Veranstaltung online verfügbar sein.
Die Medius Working Group wurde gegründet in Erinnerung an Spencer Cox (1968 – 2012), der als Aids- / ACT UP – und Therapie-Aktivist sowie Mitbegründer der Treatment Action Group TAG einer der Vorkämpfer dr Vertretung der Interessen HIV-Positiver insbesondere in klinischen Studien und Aids-Forschung war.
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Medius Working Group: „Is this my beautiful life“ Trailer (11:35 min.)
Warum bekommen wir so etwas , solch ein Podium, solch ein öffentliches Reflektieren nicht hin? Wo ist unsere Nachdenklichkeit? Wo ist unsere Wut? Unsere gemeinsame Stimme?
Michelangelo Signorile, Aids-Aktivist und in den USA sehr bekannter Rundfunk-Moderator, stellt die Frage der Aids Veteranen, befasst sich in einem sehr lesenswerten Artikel mit dem Lebensgefühl von Schwulen über 40, die die Aids-Krise ‚überlebt‘ haben.
Ein mir wesentlich erscheinender Passus:
„Für Schwule über 40 ist es als seien wir aus einem Krieg zurückgekehrt, einem Krieg der den meisten weit weit weg und entfernt war, selbst als er stattfand – anders als die aktuellen Kriege der vergangenen zehn Jahre. Alle unter uns, die diese Phase von Aids mitmachten, haben heute mit Trauer und der Schuld der Überlebenden zu kämpfen. Manche kämpfen gar mit tieferen Narben und etwas das Posttraumatischen Belastungsstörungen nahe kommt. Vieles vermengt sich mit anderen Themen, wie der Frage des Älterwerdens. Aber, wie John Voelkers jüngst bemerkte, anders als für die Veteranen anderer Kriege gibt es für die Überlebenden des Aids-Kriegs keine Unterstützungsstrukturen, ganz zu schweigen von massenhafter Trauer wie bei Kriegsopfern oder anderen Denkmalen, Trauer über all die Tausenden die an Aids gestorben sind.“ [freie Übersetzung, UW]
Michelangelo Signoriles Artikel basiert auf seinem Beitrag für ein Symposium unter dem Titel „Ist das mein schönes Leben? Perspektiven von Überlebenden der Aids-Generation“ („Is this my beautiful life? Perspectives from survivors of the Aids generation“)
Viele von Signoriles Gedanken sagen mir einiges. Das Gefühl eines gepflegten (manchmal auch gelangweilten, seltener auch ruppigen) Desinteresses, das einem begegnet wenn man endlich doch einmal darüber sprechen mag, was für Verwüstungen Schmerzen Narben Aids im eigenen, in meinem Leben hinterlassen hat, und wie ich damit (oder auch nicht) klar komme. Die Gefühle stiller Bestürzung, wenn ich sehe wie (in welcher Form, an welchen Orten, zu welchen Zeiten, mit welcher Resonanz usw.) bei uns der an Aids Verstorbenen gedacht wird. Das Gefühl der Schuld des Überlebens (über das ich schon vor einigen Jahren kurz geschrieben habe). Usw usw. ‚Opa erzählt vom Krieg‘, nennen wir auf Positiventreffen schmunzelnd die Programm-Ecke, in der „altes Aids“ biographisch erzählt wird. Wenige bemerken, was alles in dieser ‚lustigen‘ Formulierung stecken mag. Auch wenn der begriff Aids veteranen befremdlich klingen mag … Die Aufarbeitung der ersten Aids-Jahre, wie sie in den USA nun beginnt (siehe das genannte Symposium), ist in Europa und Deutschland noch weitgehend unerforschtes Territorium …
„Puh, ganz schön heftig„, kommentiert Steven. „AIDS ist kein Spiel, AIDS ist Krieg „, hatten wir ein Plakat kommentiert, auf dem heiter lächelnde Personen an Spielregeln erinnert wurden.
Was war das für ein Jahr, das mich die Gleichsetzung von Aids und Krieg hinnehmen, vielleicht auch selbst sagen ließ?
Ich versuche ein Jahr in Erinnerungen und Gedanken zu rekonstruieren.
1990 – es war nur ein Jahr …
Versuche 1990 zu erinnern
1. Januar. Das Neue Jahr beginnt für uns in Paris. Bei Jean-Philippe, den ich einige Monate zuvor kennen gelernt habe, und seinem Mann. Genauer, in einem Haus in einer der Pariser Vorstädte, bei seiner Mutter, eine kleine Feier, mehr ein Essen mit anschließender Party unter Freunden.
Immerhin ein kleiner Fortschritt: In den USA wird am 29. Januar 1990 Fluconazol (unter dem Handelsnamen Diflucan®) für die Verwendung gegen zwei bei AIDS häufigen Erkrankungen (Kryptokokken-Meningitis, Candidiasis) zugelassen. Heute kann man die Bedeutung dieser Zulassung nur noch schwerlich ermessen – welcher HIV-Positive erkrankt heute noch an Kryptokokken-Meningitis? Früher war ‚Krypto‘ einer der großen Schrecken vieler HIV-Positiver und Aids-Kranker. Ein kleiner Hefepilz, der nur zu schnell lebensbedrohliche Erkrankung und Tod bringen konnte. Und damals als sicheres Zeichen galt ‚jetzt geht’s los, spätestens jetzt wird’s schlimm.‘. Kryoto Toxo PcP, Vokabeln des Aids-Schreckens.
28. Februar. Eigentlich sollte ich feiern heute. Mir ist nicht zum Feiern. Jean-Claude Letist ist tot. Jean Claude, der Weggefährte in Zeiten von glf und SCHULZ, Begleiter auf so mancher Reise oder nächtlichen Exkursionen. Es ist Aschermittwoch.
Anfang März, kurz nach Jean-Claudes Tod. Der nahezu-Monopol-Verleger Kölner Tageszeitungen macht Schwierigkeiten. Die Formulierung „Ein beispielgebendes schwules Leben ist zu Ende gegangen“, mit der wir Jean-Claude in der Traueranzeige würdigen wollen, wird vom Kölner Stadtanzeiger nicht akzeptiert. Das Wort ’schwul‘ komme auf keinen Fall in eine Traueranzeige, das habe da gar nichts zu suchen. Nach Protesten bieten sie an „ein bewusstes Leben ging zuende“, wollen sich, als wir so gar nicht nachgeben, einlassen auf „ein bewusstes homosexuelles Leben ging zuende“. Dass es genau darum geht, ‚homosexuell‘ oder ’schwul‘, verstehen sie nicht. Nach dem ersten Entsetzen über das Verhalten der Verlagsleitung organisieren wir ein Sit-In vor dem Verlagsgebäude (das damals noch mitten in der Kölner Innenstadt ist). Nach erneuten Gesprächen, wenn ich mich recht erinnere bis hoch zu Herrn Dumont, wird der ursprügliche Text der Traueranzeige akzeptiert. „Machen wir eine Aggsion„, Gutemiene, wir haben’s geschafft. Dieses eine letzte Mal für dich. [vgl. hierzu Stonewall Momente: Traueranzeige Jean Claude Letist – homosexuell oder schwul ? (Video)]
9. – 11. März 1990. Die zweite ‚Schwule Zukunftswerkstatt schwule Utopien‘ (war schon das ‚Schwule Netzwerk‘ Veranstalter? meine Erinnerungen sind hier lückenhaft), Fortsetzung der ersten vom November ’89. Zehn Schwule versuchen an zwei Wochenenden gemeinsam Utopien für ein ‚wärmers Köln‘ zu finden. Mein Tagebuch vermerkt die Hoffnung dass „etwas Neues entstanden ist, eine neue Kraft, etwas ändern zu wollen, eine Vorstellung, wie es sein könnte, Menschen, mit denen zusammen ich Schritte dahin machen kann.„ Wenige Tage später wird ‚ACT UP Köln – wärmer leben‚ geboren, die Kölner ACT UP Gruppe. Die Gruppe, die schnell auf zehn Mitstreiter wächst (Bernhard, wo bist du?), trifft sich mindestens wöchentlich, um zu diskutieren, Aktionen zu planen.
Am 17. April führen ACT UP Berlin und die Positiven Aktionsfront Frankfurt eine Belagerung des Büros von Bristol-Myers Squibb durch, um gegen das Design geplanter ddI-Studien zu protestieren und Änderungen zu erreichen. ddI – zu dieser Zeit die grosse Hoffnung vieler Positiver. Endlich eine neue Substanz, die verspricht gegen HIV zu wirken. Und zwar auch dann, wenn das eh gefürchtete AZT nicht mehr funktioniert. Leider brauchen die Studien enorm viel Zeit, während Positive sterben, weil wirksame Medikamente fehlen. Und nicht nicht einmal an Studien teilnehmen dürfen. Sie sind schon zu krank, würden die Ergebnisse ‚versauen‘. Forschung kann tödlich zynisch sein.
14. Juli. Französischer Nationalfeiertag. Gerne waren wir früher zu diesem Anlass in Paris. Was für Feiern, Nächte haben wir durchtanzt, die tollen schwulen Feten am ‚quai de la tournelle‘. Dieses Jahr ist alles anders. Tristesse, Hoffnunglosigkeit, Traurigkeit. Mein Tagebuch vermerkt lakonisch „Mit der Metro zur Clinique Henner. Je näher ich der Klinik komme, desto größer wird meine Eile, meine Angst, etwas könnte passiert sein, er könnte gestorben sein.“ Jean-Philippe ist in der Klinik, wieder einmal. Am 17. Juli ‚feiern‘ wir seinen Geburtstag. 26 wird er.
Ich bin viel in Paris in diesen Monaten. Wie es mir geht? Mein Tagebuch vermerkt „Sehnsucht. Kälte und Einsamkeit in der Großstadt. Paris, geliebte Stadt, Stadt der emotionalen Abstürze„. Einem Bekannten schreibe ich aus Paris: „Es ist nicht leicht, jetzt hier am Bett von Jean-Philippe zu sitzen. Sein Zustand ist sehr schlecht (was er selbst auch weiß); laut seiner Mutter hat der Arzt nicht mehr sehr viel Hoffnung, daß er die Klinik noch einmal lebend verläßt. Er hat stark abgenommen, immer noch hoch Fieber, kann kaum Essen (wegen des Pilzbefalls in der Speiseröhre), die Toxoplasmose führt zu zeitweiligen Gedächtnisstörungen. Gottseidank ist sein Freund heute Morgen aus Biarritz zurückgekommen, so daß wir abwechselnd jeweils möglichst lange bei Jean-Philippe sein können.„
Und doch – es gibt auch Ausbrüche. Nächte im geliebten ‚Broad‘, unserer damaligen Pariser Lieblings-Disco, den ein oder anderen jungen Mann kennen gelernt (salut, Thierry!). Und häufiger zu Treffen von ACT UP Paris. Aktionen mit gemacht, Diskussionen, Anregungen für unsere Gruppe.
26. Juli. „Gründung Pflegeverein„, ist im Kalender notiert. HIV-Positive, die erkranken, stehen vor grossen Problemen. Schwul, HIV, Aids – viele Pflegedienste scheuen vor uns zurück. Ausreden wie ‚fehlende Qualifikation für so spezielle Fragen‚ sind häufiger als die ehrliche Antwort ‚wir haben Angst‚ oder ‚wir wollen mit solchen Leuten wie Ihnen nichts zu tun haben‚. Streng katholisch ausgerichtete Pflegedienste, ihre Moral, ihre gelebten Wertvorstellungen, ihr Verständnis von Sozialarbeit und Barmherzigkeit empfindet nicht gerade jeder emanzipierte schwule Mann als Lösung. ‚Dann machen wir es eben selbst‚. SchwIPS wird gegründet, die ‚Schwule Initiative für Pflege und Soziales‘. Sie wird einige Jahre lang der beduetendste Aids-Spezialpflegedienst im Kölner Raum sein.
August. ACT UP Gruppen in Deutschland beginnen gemeinsam den ‚Marlboro Boykott‘ zu organisieren, eine die Brüder und Schwestern in den USA (wo wegen Jesse Helms‚ Kunst-feindlicher Politik auch viele Künstler mit Aktionen mitmachen, z.B. ‚Helmsboro‘) unterstützende Aktion. Sie wendet sich gegen den offen massiv antihomosexuellen Jesse Helms, US-Politiker der äußeren Rechten, der u.a. für das Einreiseverbot für HIV-Positive in die USA maßgeblich verantwortlich ist. Dank breiter Unterstützung in schwulen Szenen sowie großer medialer Wahrnehmung ist die Aktion so erfolgreich, dass der Hersteller (der Jesse Helms mit Spenden sehr großzügig unterstützt) sich zu Gesprächen mit ACT UP Deutschland genötigt sieht. Problematisches Resultat der über einjährigen Aktionen: der Hersteller zahlt schließlich hohe Spenden an Aidshilfe-Organisationen.
Ende August. Urlaubstage in Frankreich. Zunächst eine Woche in Arès am Atlantik, danach durch die Landes, Toulouse und durch die französischen Pyrenäen. Macht Spaß, steile Pässe und enge Serpentinen fahren mit meinem spritzigen Renault 11 Turbo. Testosteronspielereien. Auf dem Rückweg einige Tage in Paris. Denkwürdiges Essen mit Jean-Philippe und Syriac.
Vom 27. bis 30. September findet in Frankfurt am Main die erste Bundespositivenversammlung (einschließlich Demonstration am 30.9.) statt. Sie steht unter dem Motto ‘Keine Rechenschaft für Leidenschaft – positiv in den Herbst’. Aktivistisch formulieren die Teilnehmer „So unterschiedlich wir auch leben mögen, wir lassen uns nicht auseinanderdividieren, gerade nicht in dem zentralen Punkt: Unser Leben – und sei es auch zeitlich noch so begrenzt – wollen wir selbst bestimmen und in allem, was unser Leben von außen beeinflusst, wollen wir selbstbewusst und selbstverständlich mitentscheiden …„. Ich bin nicht dabei bei der ersten BPV. ‚Keine Rechenschaft für Leidenschaft‚, klasse Titel, klasse Kombination. Bringt es auf den Punkt. ‚Positiv in den Herbst‚ hingegen, einmal mehr mag ich dieses ‚positiv-Wortspiel‘ nicht. Schaudern lässt mich dieser Untertitel, so wie das Jahr bisher war.
2. Oktober. Jean-Philippe ist tot. 10. Oktober. Trauerfeier für Jean-Philippe, Einäscherung, auf dem Père Lachaise in Paris.
Leere. Absturz. Ende.
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November. Der 3. Deutscher Aids-Kongress findet in Hamburg statt. Menschen mit HIV und Aids teilnehmen lassen? Oder zumindest ihre Organisationen wie die Aids-Hilfe? Kein Interesse seitens der Veranstalter (‚kein Interesse‘ ist höflich formuliert. War da eher Abscheu, Widerwille, ihre Ablehnung uns gegenüber auch nur begründen zu müssen?). Vom Präsidenten des Kongresses ist gleichtönig immer wieder zu hören, dies sei ein wissenschaftlicher Kongress, nichts für Laien. Sie wollen über uns reden, nicht mit uns. Mit medienwirksamen Aktionen verschaffen sich die deutschen ACT UP Gruppen und Aids-Hilfe-Aktive Zutritt. Zum ersten Mal sind wir drin, im Kongress. Dabei statt außen vor. Hier, bei einer Aktion auf diesem Kongress, benutzen wir die Formulierung ‚Aids ist Krieg‚.
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Versuche 1990 zu durchdenken
‚Aids ist Krieg‚ – geht das? Nein. Die Formulierung ist nicht nur ‚ganz schön heftig‘, sondern ziemlich daneben. Aus heutiger Sicht.
Die Jahre wie 1990 eines war haben mir viel genommen und wenig gegeben. Verwüstungen Narben Schmerzen hinterlassen die ich heute noch spüre.
Krankheit Angst Entsetzen Sterben Verzweiflung waren in meinem Freundes- und Bekanntenkreis, unter Weggefährten und in Szenen in denen ich mich bewegte, in einem Ausmaß das unvorstellbar scheint und schien, und manchens mal nicht aushaltbar war. Und doch, es war kein Krieg.
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„Wenn ich meine Kalender von damals durchsehe, von den dort eingetragenen Freunden lebt kaum noch jemand“ – mit Bildern wie diesen versuchen wir ‚Überlebenden‘ (auch ich) gelegentlich zu illustrieren, welche Verwüstungen in unserem Freundes- und Bekanntenkreis Aids angerichtet hat. Nein, ich erliege dieser Versuchung heute nicht, um das Jahr 1990 zu erfassen. Kein statistisches Kräftemessen, kein ‚Schwanzvergleich des Leids‘. Den Schmerz dieser Jahre können Zahlen nicht erfassen.
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Eine noch stärkere Metapher als ‚Aids ist Krieg‚ benutzten einige (nicht wenige) US- Aids-Aktivisten: „AIDS is the gay holocaust“ [1], Aids als Holocaust der Schwulen.
Wir bemühen uns – nicht eben grundlos – mit Sprache bewusst umzugehen. In den USA sind starke Metaphern sehr beliebt, gelegentlich auch wenig reflektiert oder über das Ziel hinausschiessend. Aids, die Auswirkungen von Aids auf schwule Szenen gleichzusetzen mit dem Holocaust, nie konnte dich dieses Bild gut finden, geschweige denn akzeptieren. Und doch, so sehr ich damals protestierte, auf den Holocaust, den organisierten Mord an Millionen jüdischer Mitbürger als singuläres Ereignis verwies, ich konnte das dieser Metapher zugrunde liegende Gefühl verstehen.
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Jack Fritscher, Herausgeber des legendären ‚Drummer‘, eines 1975 bis 1999 erschienenen Schwulen-Magazins, bezeichnete die Jahre zwischen 1984 und 1995 als „the Decade of Death“ – das Jahrzehnt des Todes. Klingt ein wenig nach ‚drama queen‘ – trifft aber den Nerv, bringt dieses damalige Gefühl ‚rings um uns herum sterben sie, unsere Zukunft, unsere Kultur, unsere Szenen krepieren‘ auf den Punkt.
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Die Situation damals, Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, ist Menschen die sie nicht mit erlebt haben, heute nur noch schwer vermittelbar. Es gibt einige Bücher und Filme, die Stimmungen der Zeit recht gut einfangen (empfehlenswert m.E.: ‚Les Temoins‘ / ‚Die Zeugen‘ von André Téchiné). Aber dieses vielschichtig dunkle bedrückende Gefühl ‚hier stirbt eine ganze, meine ganze Szene weg, und niemand tut etwas, es gibt keinen Ausweg‘, dieses Gefühl ist heute kaum übermittelbar.
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Nein, Aids war hierzulande nie gleich Krieg. Die Formulierung ‚Aids ist Krieg‚ wirkt auf mich heute eher wie der hilflose Versuch, sich gegen Verharmlosung zu wehren. Den Schmerz und die Angst auszudrücken, dass eine ganze Szene zu sterben schien.
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Anmerkungen: Über meine Zeit mit dem in diesem Text mehrfach erwähnte Jean-Philippe habe ich in einer Mini-Serie erzählt: 1989 / 90: Einige Tage mit dir – Jean-Philippe [1] Zu ‚Aids is the gay holocaust‘: Aids als schwulen Holocaust zu betrachten war in schwulen Szenen der USA (besonders New Yorks) Anfang der 1980er Jahre ein weit verbreiteter und diskutierter Gedanke (siehe z.B. ‚Aids and the holocaust‘, Leserbrief des US-Schriftstellers William F. Hoffman, New York Times 23.10.1988). Larry Kramer verwandte die Formulierung von Aids als ‚gay holocaust gerne und oft, erstmals öffentlich meines Wissens 1985 in ‚The Normal Heart‘. Die Sammlung seiner frühen Aids-Texte aus der Zeit bei ACT UP und im GMHC wurde unter dem Titel „Reports from the Holocaust: The Story of an AIDS Activist“ 1989 und erneut 1994 veröffentlicht. Kramer hielt die Verwendung des Begriffs Holocaust im Zusammenhang mit Aids besonders für zutreffend wegen des Unvermögens der US-Regierung zu einer schnellen und ausreichenden Reaktion auf die Aids-Krise – es betraf ja ’nur Schwule‘, und später Arme und Menschen ohne politischen Einfluss. Nachlässigkeit, Desinteresse und Apathie in der US-Regierung sei, so Kramer, mit verantwortlich für die hohe Zahl von Aids-Toten, und rechtfertige die Verwendung des Begriffes ‚Holocaust‘. Die Verwendung des Begriffes ‚Holocaust‘ im Kontext von Aids wurde auch in den USA viel diskutiert und besonders Kramer dafür heftig kritisiert.
Aids hat in den vergangenen 30 Jahren Schwule, das Leben von Schwulen und den schwulen Sex beeinträchtigt, unterdrückt, dämonisiert. Seit einigen Jahren allerdings verliert der alte Dämon Aids bei uns an Kraft. Immer weniger Menschen sterben in Deutschland an den Folgen von Aids. HIV-Positive, die erfolgreiche Therapien machen, sind so gut wie nicht infektiös. Die ‚Kombi‘ ist hinsichtlich des Schutzes vor HIV-Übertragung wirksamer als die Benutzung von Kondomen.
Dies spricht sich langsam herum. Mit Positiven unter erfolgreicher Therapie Sex zu haben wird attraktiver – auch der vermeintlichen Sicherheit wegen. Jake Sobo (Pseudonym) schreibt in seinem Blog von der ’schwer zu schluckenden Wahrheit, dass es … sicherer ist mit HIV-Positiven mit einer Viruslast unter der Nachweisgrenze zu ficken, als mit Typen, die denken sie seien HIV-negativ‘ („The hard-to-swallow truth is that, for guys with a lot of partners (like me), fucking poz guys with undetectable viral loads is actually safer than fucking raw with guys who think they’re negative“). Und selbst auf Gayromeo sind inzwischen Hinweise der Art zu finden „Suche Positiven unter der Nachweisgrenze“ oder „Ekaf-Sex bevorzugt“.
Lustvoller Sex, Sex ohne die Kondom- und anderen Scheren im Kopf, Sex ohne Sorgen wird für viele Schwule, ob HIV-positiv oder nicht, wieder möglich. HIV-Positive sind keine Parias mehr. Von der einstigen Panik wegen der ganz konkreten Todesbedrohung hin zu einem entspannten Management einer chronischen Erkrankung haben wir einiges unserer bunten Federn lassen und an Veränderungen akzeptieren müssen.
HIV-positive schwule Männer schlucken Pillen – und schluckten Kröten…
Nie wusste der Staat mehr über Schwule, über schwules Begehren, über schwulen Sex als in den vergangenen Jahren. Unzählige Befragungen, Meinungsbilder, Verhaltensanalysen. Kartonweise Fragebögen, Megabytes an Auswertungen – über schwulen Sex, schwules Leben.
Nie konnten Staat und Gesellschaft – auch auf Basis dieser Erforschungen des Schwulseins – leichter, und ohne die Sanktionierung per Strafandrohung, schwulen Sex, schwules Leben regulieren, Kontrollinstanzen etablieren.
Ist es purer Zufall, dass viele Orte schwuler Begegnungen, und gerade diejenigen, die nicht-kommerziell waren, und ferner von Normierung, dass Orte wie Klappen und Parks kaum noch existieren? Hingegen diejenigen (i.d.R. kommerziellen) Orte florieren, die auch für Reglementierung, auch für Prävention zugänglich sind?
Statt wie früher Strafandrohungen gibt es für’s schwule Leben heute Regeln und Normen. Du sollst beim Sex Kondome benutzen! Du sollst auf deine Gesundheit achten! Du sollst nicht Bareback Sex machen! Du sollst wissen was du tust! Du sollst dich nicht hemmungslos deinen Lüsten hingeben!
Bewusst gesetzte Normen, die regulierend in unsere Leben als Schwule eingreifen. Sexualität ist hierfür ein mächtiges Thema, das den Zugang zum Individuum erlaubt, Kontrolle ermöglicht. Öffentliches Gesundheitswesen, Public Health – Sexualität wird Angelegenheit von Staat und Gesellschaft. Schwule Sexualität, die früher kaum jemanden interessierte, wird dies vor allem seit, durch Aids. Statt Repression: Thematisierung, Regulierung und Disziplinierung von Sexualitäten (‚Bio-Macht‘, siehe auch Foucault / Dispositive der Macht).
Diese Kontrollinstanzen, diese Reglementierungen – sie stammen nicht nur von außen. Auch von innen, innerhalb unserer Szenen, durch uns funktionieren sie sehr wirksam. „Sät die Prävention die Samen, aus denen die Community Moralinsäure herstellt?“, fragte letztens ein Freund – eine lohnenswerte Frage!
Jahrzehntelang war Aids der Master – Jetzt können wir den Käfig öffnen
Medizinisch betrachtet sind wir ein sehr weites Stück voran gekommen auf dem Weg, die Aids-Krise in den Griff zu bekommen, HIV den Zahn des Schreckens zu ziehen.
Regulierung und Selbst-Regulierung, die einst notwendig, vielleicht überlebensnotwendig war, sind es vielleicht heute so nicht mehr.
Ist es nun an der Zeit, die Aids-Krise auch (schwulen-)politisch zu besiegen? Die Dominanz, die das Thema HIV / Aids für viele von uns hat, einst haben musste, zurück zu drängen? Uns wieder mehr den originär ’schwulen‘ Themen zuzuwenden?
Wir haben als Teil einer kleinen sexuellen Minderheit das Potential einer großen Freiheit. Einer großen Freiheit, jenseits einer heteronormativen Mehrheit zu experimentieren. Einer Freiheit, unsere Formen des Zusammenlebens, unsere Selbst-Definition(en) selbst zu gestalten, statt konformistisch Schubladen und Kategorien der Hetero-Gesellschaft zu übernehmen, zu kopieren und nachzuleben. Welche Form(en) von Beziehung(en) wollen wir leben? Welche Formen von Sex, sexuellem Umgang mit einander wollen wir wie pflegen? Wie gehen wir – gerade auch in größerem Lebensalter – fürsorglich mit einander um?
HIV ist längst nicht mehr der alles dominierende Dämon schwulen Lebens. Die Erfolge von Prävention und Medizin geben neue Freiräume – Freiräume, die wir nutzen sollten. Nutzen wir die Erfahrungen, die wir in Zeiten der Aids-Krise machten (z.B. jene zum Umgang mit Krisen, mit Stigmatisierung) – für neue Freiräume. Mehr Mut, mehr Experimente! Entdecken wir die Lust zu experimentieren, uns zu gestalten, wieder neu!
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(Text verfasst als ‚Standpunkt‘ für queer.de zum Welt-Aids-Tag 2012, dort erschienen am 1.12.2012)
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