23. Oktober 2011 – Tunesien steht vor einer entscheidenden Wahl. Nach dem Sturz Ben Alis und seines Polizeistaats ist die Bevölkerung Tunesiens aufgerufen, über das zukünftige politische Schicksal des Landes zu entscheiden. Dabei geht es nicht „nur“ um eine Wahl eines neuen Parlaments – vielmehr wird ein Organ gewählt, das innerhalb eines Jahres die neue Verfassung Tunesiens erarbeiten soll, die Grundlage für die weitere politische Zukunft des nordafrikanischen Staates.
Die politische Landschaft Tunesiens im Herbst 2011
Unterteilt man die politische Landschaft Tunesiens entlang der Frage, wie mit der Religion umzugehen sei, lassen sich grob zwei Lager unterscheiden: Laizisten, die Religion und Staat strikt trennen wollen, und Islam-Politiker, die islamische Religion und neue tunesische Verfassung und Politik mehr oder weniger eng verbinden wollen:
Klerikalistische Politiker
Zu den Verfechtern des Klerikalismus, einer Verbindung von Staat und islamischer Religion gehören einerseits die in Umfragen bisher äußerst erfolgreiche Partei En-Nahda (Wiedergeburt) des bis zum Sturz Ben Alis im Pariser Exil lebenden Rachid al-Ghanouchi (sowie zunehmend seiner Tochter), und andererseits die Salafisten (Salafismus – konservative sunnitische Islam-Strömung, die sich sehr an den Primär-Quellen des Islams orientiert und diese zu Maßstäben des alltäglichen Lebens erhebt).
Das Verhältnis beider – Salafisten und al-Ghanouchi – ist unklar: einerseits betont Ghanouchi wie meist lächelnd die Bedeutung der Mitte der Gesellschaft, schwört inzwischen längst der Gewalt ab und bezeichnet die Salafisten blumig als koalitions-unfähig („Wie kann es eine Koalition geben zwischen den Salafisten, die Wahlen für haram [Sünde oder verboten nach den Regeln des Islam] halten, und denen die kandidieren?“). Andererseits verspricht er (jüngst bei einem Besuch in Kairo) die Einführung des Kalifats (Herrschaft eines Kalifen als Vertreter des Gesandten Gottes [Mohammed], ‚Gottesstaat‘) oder verspricht vor Pariser Exilanten die Einführung der Scharia (islamisches Recht als oberste Rechtsquelle).
Laizistische Parteien
Vielschichtig ist das Lager der Laizisten: die vermutlich bedeutendste Partei dieses Lagers ist die Demokratische Fortschrittspartei PDP von Ahmed Nejib Chebbi (die schon unter Ben Ali vom System toleriert wurde, wenn auch wirkungslos war). Sie ist sozialdemokratisch orientiert, ähnlich wie die weiter links stehende Ettakatul. Hinzu kommt die Partei Afek Tounes (Wirtschafts-Liberalismus), sowie Pole, die ‚Modernen Demokraten‘.
Das Problem der Säkularen: ihre Uneinigkeit. Zwar marschierten in Tunesien jüngst (nachdem es nach der erstmaligen Ausstrahlung des Films ‚Persepolis‘ zu von Salafisten gesteuerten Demonstrationen und Ausschreitungen gekommen war) Tausende Tunesierinnen und Tunesier für Meinungsfreiheit. Ein Wahlbündnis für die entscheidende Wahl am 23. Oktober 2011 jedoch brachten die laizistisch orientierten Parteien nicht zustande.
Quo vadis Tunesien ?
Tunesien könnte Maßstäbe setzen an diesem Sonntag – und sich auf den Weg begeben zu einer Demokratie in einer islamischen Gesellschaft.
Doch – sind islamische Religion und Demokratie – wie Ghannouchi sagt – wirklich vereinbar? Oder ist gerade er – wie oft spekuliert wird – doppelzüngig, hat letztlich einen islamischen Staat und die Scharia als Ziel?
Finden die laizistisch orientierten Parteien zu Formen der zielführenden Zusammenarbeit, entwickeln eine demokratischen Vorstellungen gerecht werdende Verfassung als Basis für das ’neue Tunesien‘? Oder legt ihre Spaltung und Kooperations-Unfähigkeit den Grundstein für einen neuen Gottesstaat?
Wie wird sich die für nordafrikanische Staaten vergleichsweise große tunesische Mittelschicht entscheiden?
Sieben Millionen Tunesierinnen und Tunesier sind zur Wahl aufgerufen. Über 80 Parteien und 1.000 Listen kandidieren (ohne prozentuale Hürde) um die zu vergebenden 217 Sitze.
Islamisch geprägter Staat, gar radikalislamische Diktatur?
Oder laizistisch orientierte Demokratie?
Die Wähler Tunesiens sind aufgerufen eine Grundsatz-Entscheidung zu treffen – für den Weg ihres Staates in die Zukunft.
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Nachtrag
07.01.2014: die geplante neue Verfassung Tunesiens wird voraussichtlich Meinungsfreiheit garantieren: „Der Staat ist der Hüter der Religion. Es garantiert die Freiheit des Gewissens und der Glaubens-und Religionsfreiheit.“
24.01.2014: Die Volksvertreter haben sich geeinigt. Tunesien erhält eine neue Verfassung. Noch ist die Zustimmung der Nationalversammlung mit Zweidrittel-Mehrheit erforderlich.
27.01.2014: Die neue Verfassung wurde vom (Übergangs-) Parlament Tunesiens angenommen. Gleichheit und Meinungsfreiheit sind wesentliche Elememte.
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