Immer freier, immer liberaler wird diese Gesellschaft werden, immer emanzipierter. Dies war als junger Mensch meine feste Überzeugung. Und diese Zuversicht war eine Grundlage dafür, mich dafür auch selbst zu engagieren.
Selbst in übelsten Aids-Zeiten, als kurzzeitig die reale Gefahr bestand, dass Repression und Reaktion sich wieder durchsetzen, sich konkret gegen mich, gegen uns Schwule wenden, selbst nachdem diese Auseinandersetzung abgeschlossen war, blieb in mir immer die Überzeugung: die Gesellschaft wird sich weiterentwickeln. Zum Guten, Besseren, zum Freieren, zum Emanzipierten.
Schweigen bedeutet nichts sagen. Doch dieses ’nichts sagen‘, diese Sprachlosigkeit muss nicht sprachlos sein. Schweigen kann beredt sein. Beredtes Schweigen.
Schweigen im gemeinsamen Gespräch signalisiert ‚ich höre dir aufmerksam und interessiert zu‘.
gemeinsame Stille – gemeinsames Schweigen
Gemeinsam schweigen, am Fluss entlang spazieren, die Ruhe genießen, die Gedanken treiben lassen, und zugleich fühlen ‚ja, du bist da, wir sind zusammen‘ … gemeinsam schwiegen kann zugleich Gefühl größten Glücks (eher: Glückseeligkeit) beinhalten.
wohlwollendes Schweigen miteinander – weit anders als ‚gepflegte Langeweile‘, viel mehr Vertrautheit, die keiner Worte bedarf, nicht in diesem einen Moment.
„Schweigen ist die wesentliche Bedingung des Glücks.„
Heinrich Heine
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„Die Liebe ist vor allem ein Lauschen im Schweigen.„
Mein einfacheres Lebensmotto ist wie vegetatives Luftholen: Lebe lebendig, sei tapfer, gib dir Mühe! Dann kannst du gar nicht ganz falsch durch dieses Leben kommen. Sei menschlich zu deinen Kindern, zu deinen Liebsten, verrate deine Freunde nicht, stehe ihnen bei, wenn sie in Not sind, denn sonst verrätst du dich ja selber.
Wolf Biermann, Interview ‚Wolf Biermann über krieg‘, Süddeutsche Zeitung 29./30. Oktober 2022
Und stehe auch einem Volk bei, wenn es in Not ist wie jetzt die Ukraine in Putins Vernichtungskrieg. Der nicht mal Krieg genannt werden darf im russischen Riesenreich dieses Diktators. Dieser kleine Bloody-Wladimir ist der legitime Sohn aus der Ehe Stalin-Hitler.
Wolf Biermann, Interview ‚Wolf Biermann über krieg‘, Süddeutsche Zeitung 29./30. Oktober 2022
Stark sein, ja keine Schwäche zeigen. Perfekt sein, möglichst makellos. Nicht erlebbar machen dass ich nicht perfekt bin. Erst recht nicht hilflos wirken. Und wenn ich es doch bin, dann möglichst verbergen.
Doch ich bin nicht perfekt.
Liebe heißt auch verletzlich zu sein – genauer: sich selbst zu erlauben verletzlich zu sein. Sich verletzlich zeigen. Verletzbar sein durch den den man liebt.
„Verletzlichkeit ist zwar die Ursache von vielen Ängsten und Unsicherheiten. Doch scheinbar ist sie gleichzeitig auch der Geburtsort der Liebe, der Verbundenheit, der Freude, der Kreativität und des Glücks.“
Verletzlichkeit ermöglicht den anderen wirklich zu erfahren.
Liebe ist Verletzlichkeit.
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Der Mensch ist ein soziales Wesen. Damit steht er in eigener Abhängigkeit von anderen Menschen – die Verletzlichkeit mit sich bringt. Verletzlichkeit ist existentiell. Sie macht den Menschen mit aus (inhärente Verletzlichkeit). Eine Leben in Sozialität, aber ohne Verletzlichkeit ist letztlich undenkbar.
Verletzlichkeit kann auch durch äußere Einflüsse bedingt sein. Durch persönliche Begegnungen, soziale Faktoren, politische Ereignisse (situative Verletzlichkeit).
Was ist Verletzlichkeit? Von tiefsten Gefühlen sprechen, oder sie sichtbar werden zu lassen. So offen sein, dass ich auf Hilfe angewiesen bin in meiner Nacktheit.
Verletzlichkeit ist Voraussetzung für Nähe, für Intimität, für Liebe. Dem Gegenüber, dem Lover, dem Freund wirklich zu begegnen, das erfordert Offenheit – die Verletzlichkeit mit sich bringt. Verletzlichkeit ist die Schwester einer intensiven Begegnung, von Verbundenheit und Hingabe.
Gleichzeitig bedingt Verletzlichkeit, dass es ein ‚außen‘ gibt. Nach Judith Butler entsteht Verletzlichkeit geradezu erst als grundsätzlichen Gebundenheit des Selbst an das Andere.
Verletzlichkeit bedeutet auf ’neudeutsch‘, die ‚Komfortzone zu verlassen‘, das bekannte Terrain der Sicherheit aufzugeben.
Verletzlichkeit oder Empfindsamkeit ?
Ideengeschichtlich lässt sich Empfindsamkeit im Rokkoko verorten, das auch als ‚Epoche der Empfindsamkeit‘ bezeichnet wurde. Aus der Aufklärung (genauer: erst dem französischen ‚Zeitalter der Vernunft‘, danach dem deutschen ‚Zeitalter der Aufklärung‘) entstand unter Hinzufügen von Sentimentalität und Empfindsamkeit zu rationalem Denken und Vernunft [vgl. Kant / sapere aude!] etwas Neues.
Dass ein Mensch fühlt, und seine (subjektiven!) Gefühle, letztlich seine Seele zum Ausdruck bringt, ist nicht etwa ein Makel – sondern eine Bereicherung. Auch gegenüber äußerlichen Dogmen. Vernunft wird dabei nicht abgelehnt, sie ist (u.a.) ein Mittel Gefühle zu lenken und sich zu entwickeln.
Empfindsamkeit ist dabei nicht gedacht als Gegensatz, sondern als Ergänzung – keine Gegenbewegung, vielmehr eine Strömung innerhalb der Aufklärung. Beiden gemeinsam ist der Gedanke des Bürgers als selbstsicher und selbstbewusst, mit ethischen und moralischen Grundsätzen und natürlichem Menschsein.
Lessing schlägt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (bei Bodes Übersetzung eines Reiseberichts 1768) vor, das englische Wort sentimental mit empfindsam zu übersetzen. Wahrscheinlich die erste Verwendung, die Prägung des Wortes Empfindsamkeit.
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Karl Jaspers zufolge erfordert Selbstwerdung Kommunikation mit anderen Menschen. Das eigentliche Selbstwerden finde in einer Offenbarung sich selbst gegenüber und dann einem anderen Menschen gegenüber statt. Dieses Offenbarwerden könne nicht einzig isoliert mit sich selbst erfolgen. Dieses Offenbarwerden in Kommunkation mit einem anderen Menschen bezeichnet Jaspers als ‚liebenden Kampf‚.
Im Reich der Sinne des japanischen Regisseurs und Produzenten Nagisa Ōshima (31.3.1932 – 15.1.2013) gilt (fälschlicherwseise) als ‚pornographischer‘ ‚Skandal-Film‚. Der Film beruht auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1936 in Japan.
Kichizo (Tatsuya Fuji) besitzt ein Geisha-Haus. Abe Sada (Eiko Matsuda) arbeitet dort als Dienerin und Prostituierte. Was als leidenschaftliche Beziehung der beiden beginnt, wird tiefe Hingabe – in immer grenzenloserer sexueller Begierde und Obsession. Beide brechen sämtliche Tabus, bis hin zu Kichizos Tod.
Auf Kichizos Brust schreibt Sada mit seinem Blut am Schluss die Worte „Sada Kichi futari kiri“ (Sada und Kichi, beide miteinander vereint). Dies entspricht den Worten, die auf der Brust des ‚echten‘ Kichizo geschrieben waren, als ihn die Polizei am 19. Mai 1936 auffand.
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Im Reich der Sinne – „wenn man alles spüren will muss man bis zum Exzess gehen“. Dies ist kein pornographischer Film – eher ein Film darüber, wie zwei Menschen sich verändern, wenn sie sich immer tiefer an und ineinander binden.
Das Geschlechterrollen- Verständnis des Films liegt (1976 !) jenseits von männlich – weiblich, jenseits von stark – schwach. Beide begehren einander. Er fxxxt sie. Er schlägt sie. Sie verlässt ihn. Sie schlägt ihn. Sie würgt ihn. Beide einander miteinander. Wer foltert wen? Wer gerät mit wem in Ekstase? „Haben Sie denn überhaupt keinen Hunger?“ Der Film ist nicht queer (ein Wort das es damals noch nicht gab) – doch er geht 1976 unkonventionell mit althergebrachten Geschlechterrollen um.
„In einer Beziehung wie der unseren sollte die Liebe bestimmen was wir tun“
Ein sehr außergewöhnlicher Film – der immer wieder seiner Entdeckung harrt … und wert ist …
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Produktions-Notizten
Gedreht wurde der Film in den Daiei-Kyoto Studios (1942 – 1971) in Japan. Aufgrund der strengen Zensur-Vorschriften musste das unentwickelte Rohmaterial für die Entwicklung des Films nach Frankreich ausgeflogen werden.
Nach der Premiere auf der Berlinale 1976 ließ die Staatsanwaltschaft (die in Person eines Staatsanwalts und zweier Richter bei der Premiere anwesend war) den Film beschlagnahmen wegen des Verdachts auf Pornographie. Als Verteidiger des Films trat der Rechtsanwalt Horst von Hartlieb (1910 – 2004) auf, einer der Initiatoren der Freiwilligen SelbstkontrolleFSK. Am 17. März 1977 urteilte das Berliner Landgericht, der Film sei keine Pornographie. Erst 18 Monate später wurde er für die Kinos ohne Kürzungen zugelassen, freigegeben unter dem Prädikat ‚besonders wertvoll‘.
In Großbritannien wurde der Film erst 1989 für Aufführungen in Kinos klassifiziert. Davor konnte er nur in Filmclubs gezeigt werden, deutlich geschnitten.
Im Reich der Sinne – Folgen für Beteiligte
Die Darstellerin der weiblichen Hauptrolle Eiko Matsuda siedelte nach den Dreharbeiten nach Frankreich um – in Japan sah sie sich zu umfangreich feindlichen Reaktionen ausgesetzt. Der Darsteller der männlichen Rolle Tatsuya Fuji fand erst nach zwei Jahren ohne Engagement in Japan neue Rollen.
Regisseur Nagisa Ōshima wurde später wegen Obszönität angeklagt, aber nach vierjährigem Verfahren freigesprochen.
Nagisa Ōshima wurde auch bekannt mit dem Film (1983) Merry Christmas, Mr. Lawrence mit Musik von Ryuichi Sakamoto, sowie (1999) Gohatto (‚gegen das Gesetz‘; über Homosexualität in Japan zum Ende der Samurai-Zeit).
Im Reich der Sinne als Chart-Hit
Der originale Film- Titel Ai no korīda wurde 1980 unter dem Titel Ai No Corrida von Chaz Jankel auf seinem Debut-Album verwendet. 1981 coverte Quincy Jones den Titel auf seinem Album The Dude. Später tauchten immer wieder Cover-Versionen in den Dance-Charts auf – meist ohne dass der Bezug zum Film deutlich wurde.
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Im Reich der Sinne (D) – 愛のコリーダ Ai no korīda (J) – L’Empire des sens (F) – In the Realm of the Senses (USA, UK) RegieNagisa Ōshima DrehbuchNagisa Ōshima (nach einem Roman von Yukio Mishima) ProduktionNagisa Ōshima & Anatole Dauman (offiziell französische Produktion, Schnitt in Frankreich, um die japanische Zensur zu umgehen) Japan / Frankreich 1976 Uraufführung 27. Januar 1976 Berlin Berlinale Filmfestspiele Cannes 15. Mai 1976 (aufgrund er hohen Nachfrage mit insgesamt 13 Aufführungen, bis heute Cannes-Rekord) Uraufführung digital restaurierte Fassung Filmfestspiele Cannes 19. Mai 2017 Laufzeit 109 Minuten / 107 Minuten (Release 2000) / 94 Minuten (rekonstruierte Version)
„Der Mensch lebt umso entspannter, je mehr er Kontakt zu seinen Schattenseiten hat und diese annehmen kann.“ „Frei ist aber eher jemand, der von sich nicht verlangt, perfekt sein zu müssen.“ „Zu sich mit seinen Ängsten und Schwächen zu stehen, eröffnet den Weg zu einer echten Selbstsicherheit. Sie ist leiser als die mittels Dominanz-Getöse erzeugte, aber dafür tief und menschlich. Selbstakzeptanz statt Selbstoptimierung.“ Prof. Willi Butollo, Psychologe, Interview in der SZ 4.7.2019
Es war nur ein einfaches Festival. Nichts großes, nichts besondere, einfach nur ein großer Acker, eine Bühne, Bands aus der Region.
Und es war, von später aus betrachtet, ein wichtiger Schritt für mich.
Ende der 1970er Jahre gab es in der Region, in der ich aufwuchs, erste open-air Konzerte. Nicht Riesen-Festivals für Zehn- oder Hunderttausende Zuschauer, sondern kleine lokale, höchstens regionale Veranstaltungen. Von jungen Menschen aus der Region auf die Beine gestellt. Oft unter dem Titel ‚Umsonst und draußen‘. Ein Titel, der Programm war. Kein Eintritt, mehrere meist lokale Bands, die ohne oder zu niedrigen Gagen auftraten, ein Bauer der einen Acker oder (eher) ein Stoppelfeld zur Verfügung stellte, viele Menschen die sich freiwillig und ohne Entgelt engagierten, vergleichsweise geringe Kosten durch Bier- und Getränkeverkauf refinanziert.
Eine Grundidee war ‚von uns für uns‘. Immer wieder gab es kurze Durchsagen, es würden einige Leute zum Getränkeschleppen gesucht, oder für einen Bühnenabbau, zum Aufräumen. Meistens fanden sich schnell genügend.
Hier lernte ich ganz praktisch: wenn du etwas willst was es noch nicht gibt, oder etwas anders willst als es derzeit ist – dann bekomm‘ den Arsch hoch und werde selbst aktiv! Nicht warten, nicht lamentieren irgend jemand müsse doch mal … – nein, selbst aktiv werden.
umsonst und draussen Wardenburg 1980 – Fotos
umsonst und draussen
Mitte der 1970er Jahre beginnen Bands, gemeinsame Auftrittsmöglichkeiten zu suchen. Aus einem ersten Konzert entsteht bald eine Idee, die sich schnell verbreitet: umsonst und draußen.
Umsonst und draußen – Festivals unter freiem Himmel und bei freiem Eintritt. Ein Gegenentwurf zu kommerziellen Groß-Konzerten und -Festivals. Kultur soll frei zugänglich sein für jedermann und -frau. Weitgehend ohne kommerzielle Interessen. Im Vordergrund das Miteinander und Begegnen.
Sehr früh mit dabei und bald in Norddeutschland sehr bekannt: ‚umsonst und draussen Wardenburg‚ später ‚open air Wardenburg‘.
Wardenburg ist eine Gemeinde südlich von Oldenburg, nahe meinem Geburtsort Delmenhorst.
Im Umfeld dieser umsonst und draußen – Bewegung entstanden auch Schallplatten – in den Jahren 1975 bis 1978 (und vor wenigen Jahren auf CD wieder veröffentlicht).
Le vent nous portera – Ein kleiner Song von Noir Desir, 2010 gecovert von Sophie Hunger, wird nach und nach zu einem viel gecoverten Indie-Hit.
2001 bringen Noir Desir auf ihrem Album Des Visages Des Figures einen Song, der zu einem kleinen Hit wird. Klang Le vent nous portera 2001 bei Noir Desir noch fast ein wenig zwischen Blues-Rock und Reggae, interpretierte Sophie Hunger ihn 2010 eher chansonhaft. Zahlreiche weitere Cover-Versionen folgen.
Mag das Leben noch so kompliziert sein, noch so viele Irrwege parat haben, Verletzungen, Hingabe und Wunden, mühsam sein und manchmal aussichtslos scheinen, der Wind wird uns tragen.
Ein Lied über Unabhängigkeit, Zärtlichkeit, Freiheit und Spuren. Keine Angst vor dem Weg haben. Jegliche Wendung des Weges mitgehen, bis es gut ist. Denn der Wind wird uns tragen.
Le vent nous portera / Noir desir (2001)
Bereits in den 1980er Jahren entstand in Bordeaux die Rockband Noir Desir, getragen insbesondere von Frontman Bertrand Cantat(geb. 5.3.1964 in Pau) und Serge Teyssot-Gay (geb. 16.5.1963 in Saint-Étienne). Eine Gruppe mit einer sich durch die Alben ziehenden Geschichte sehr kritischer Texte, engagiert antifaschistisch, antirassistisch, Kapitalismus-kritisch, Globalisierungs-kritisch.
Noir desir gilt, so laut.de, „neben Mano Negra als wichtigster Vorreiter für den modernen französischen Rock“. Bald wurden sie eine der populärsten französischen Rock-Gruppen (mit zeitweise Anklängen von Punk).
2001 veröffentlicht Noir Desir das Album Des Visages Des Figures. Darauf als dritter Track Le vent nous portera. Eine leichte, fast gefällig in einem dem Reggae nahen Stil daher kommende Musik (aufgenommen mit Manu Chao (geb. 21.6.1961 Paris) als Gitarristen).
Das Lied erscheint bald als erste Single-Auskopplung aus dem Album, wird ein Independant-Hit und erreicht Chart-Plätze (Italien z.B. 4 Wochen Nr. 1). Das zugehörige unter der Regie des französischen Musikvideo-Regisseurs Alexandre Courtes entstandene Video wird 2001 als Music Video of the Year ausgezeichnet.
Von Noir Desir erschien am 24. Januar 2020 ein weiteres Album mit elf zuvor nicht veröffentlichten Chansons aus den jahren 1997 bis 2002.
Le vent nous portera / Sophie Hunger (2010)
Im Jahr 2010 covert die Schweizer Sängerin Sophie Hunger (i.e. Émilie Jeanne-Sophie Welti, * 31. März 1983 Bern) den Song Le vent nous portera auf ihrem selbst produzierten zweiten Studio-Album 1983 als siebten Track.
Eine Interpretation, fast im Stil einer Ballade. Mit milder Stimme zur Gitarre, einem nahezu zaghaft anmutenden, liebevollen Saxophon. Nicht Zerbrechlichkeit, aber doch respektvolle, fast zaghafte Annäherung auf liebevolle Weise. Hunger spielt den Song auch heute (2019) noch oft auf ihren Konzerten.
Hungers Chanson-Version wird im Jahr 2018 Titelsong der Arte- Miniserie Fiertés – Mut zur Liebe über drei Jahrzehnte gesellschaftlichen Kampf für die Rechte Homosexueller und gegen Aids.
weitere Cover-Versionen
Le vent nous portera wird im Laufe der Jahre ein Indie-Hit. Bertrand Cantat selbst singt dieses ‚kleine Chanson‘ weiterhin bei seinen Auftritten [Video 2018 in Lyon].
Im Laufe der Zeit wird der Song von zahlreichen Interpret_innen gecovert. Element of Crime singen ihn 2009 auf ihrem Album Fremde Federn (Track 17), eigentlich aufgenommen 2009 als Bonustrack des Albums „Immer da wo du bist bin ich nie“.
Der Indie-Rock-Chor Scala & Kolacny Brothers sind das Lied 2011 im Stil fast einer Happy Music mit Frauen-Chor und frühen Mickey-Comics [Video].
Einige weitere Beispiele: Das Jazz-Ensemble Mea Culpa aus Montreal interpretiert es neu [Video]. Ganz akustisch 2017 Cybèle Castoriadis und Orestis Kalampalikis [Video]. Ebenfalls akustisch 2010 Les Charbonniers de l’enfer [Video]. Oder ganz klein 2018 als jours hereux [Video].
Sterben und Tod finden im Bewusstsein unseres Alltags kaum einmal statt. Wir wollen gut aussehend sein, fit und gesund, und wenn schon älter werdend dann zumindest gepflegt und adrett.
Das Thema Tod hatte 2018 mehr Bedeutung in meinem täglichen Leben als in den Jahren zuvor. Nach Jahren der Aids-Krise, in denen in den schlimmsten Jahren Tod beinahe täglich auch mit Thema war, war es ruhiger geworden. Gelegentlich starben Verwandte, Bekannte, nur sehr selten jemand der mir sehr nahe war.
Im vergangenen Jahr ist mein Vater nach langer Krankheit gestorben. Diese Zeit hat bei mir auch dazu geführt, mich an mein eigenes Erleben des Todes eines geliebten Menschen zu erinnern.
Die Begegnung mit dem Tod ist eine radikale Erfahrung
Die Begegnung mit dem Tod ist eine radikale Erfahrung. Die Radikalität dieser Erfahrung wurde mir brutal bewusst bei der Einäscherung von Jean-Philippe, der 1990 an den Folgen von Aids starb.
Paris, Cimetière du Père-Lachaise, Trauerhalle. Der Sarg mit seinem Leichnam steht zu Beginn der Trauerfeier auf der Bühne. Doch schon während der Zeremonie, abgehalten seinem Wunsch entsprechend von Mönchen eines japanischen buddhistischen Ordens, entgleitet der Sarg sanft nach unten. Ein schwarzes Loch im Boden verschluckt ihn. Auf seltsame Weise sehen es alle, doch niemand scheint Notiz zu nehmen. Die Zeremonie geht ungerührt weiter.
Jean-Philippe wird im Verlauf der Trauerfeier zeitgleich eingeäschert. Wir sitzen oben in der Trauerhalle, nehmen Abscheid. Eine Etage tiefer wird sein Körper verbrannt.
Am Ende der Trauerfeier, angekündigt von einem dezenten Gong, tritt ein leer dreinblickender Krematoriums-Angestellter aus der Kulisse. Überbringt Jean-Philippes Mann die Urne, in einem neutralen Papp-Karton verpackt.
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Die Radikalität dieser Erfahrung war damals, 1990, im körperlichen Sinn ein KO-Schlag für mich. Irgendwie muss ich, in Tränen aufgelöst, nach draußen geflüchtet sein. Irgendwie. Nach langer Zeit der Suche fand mich Sylvain hinter Büschen auf einem Grab hockend, zitternd, in Tränen. „Ich weiß“, sagte er nur, zog mich hoch, nahm mich in den Arm. Bugsierte mich zu seinem Wagen, und zum Rest der Trauergesellschaft, die in Jean-Philippe und Syriacs Wohnung beisammen saß.
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Natürlich ist mir bewusst dass Jean-Philippe nicht mehr am Leben ist. Aber er ist weiterhin Teil meines Lebens. Nicht permanent, nicht einmal oft. Doch es gibt diese Momente in denen wir uns ganz nahe sind, auch so viele Jahre nach seinem Tod.
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Ich weiß nicht einmal ob es ein Grab gibt, noch ob es nicht bereits wieder eingeebnet wurde (Jean-Philippe starb 1990). Ich habe nur eine einzige Photographie von ihm in der Wohnung, an meiner ‚Wand der Freunde‘.
Eine Grabstätte als Ort der Erinnerung brauchte ich selbst für mich, für mein gedenken nie. Mein Gedenken findet in mir statt. In meinem Seelengarten.
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Roland Barthes spricht (in Die helle Kammer) von einem ‚Gerinnungsmoment‚ der Photographie. Doch in diesem Photo an meiner ‚Wand der Freunde‘ ist für mich nichts geronnen. Es ist einfach Erinnerung an einen schönen Urlaub zusammen. Nicht mehr, nicht weniger.
Wenn es so etwas wie einen Gerinnungsmoment gibt, dann ist es dieser eine Augenblick im Krankenhaus. Von diesem Moment habe ich kein Photo, benötige auch keines. Dieser Moment ist direkt in meiner Erinnerung.
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Wer sich für meine Zeit mit Jean-Philippe interessiert – ich habe darüber 2012 eine kleine siebenteilige Mini-Serie von Texten geschrieben, die hier zu finden sind: Jean-Philippe – Einige Tage mit dir
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