Nürnberg hat seit 2013 einen Gedenkort für homosexuelle Opfer des Nationalsozialismus.
Der Ort nahe dem Sterntor und der Oper ist bewusst gewählt – hier befand sich bis 1945 eine Straßenbahn- Wartehalle, die auch ein beliebter Homosexuellen- Treffpunkt war.
Bereist 2013 war eine vom aus Nürnberg stammenden Bildhauer und Künstler Christof Popp gestaltete Stele aus Edelstahl errichtet worden.
Ein Gedenkstein erinnert zusätzlich an lesbische Frauen, die im Nationalsozialismus kriminalisiert und verfolgt wurden.
Im Juli 2019 wurde zudem der Platz in Magnus-Hirschfeld-Platz benannt.
„HIV? Ist doch kein Thema mehr!“ Ein Satz, der zunehmend zu hören ist. Wirksame Pillen, keine Infektiosität von Positiven bei effektiver Therapie, ein vergleichsweise ’normales‘ Leben von HIV-Positiven. Ja, die Realitäten des Lebens mit HIV haben sich für HIV-Positive wie auch für Ungetestete oder HIV-Negative verglichen mit Mitte der 80er bis Mitte der 90er sehr verändert. Aber: Ist HIV deswegen gleich wirklich „kein Thema mehr“?
Vor über 30 Jahren fing der Albtraum an, aus dem wir erst seit einigen Jahren wieder zu erwachen beginnen. Insbesondere in den ersten 15 bis 20 Jahren verwüstete die Aids-Krise schwules Leben, schwule Beziehungen und Infrastrukturen, wurde das Leben vieler Schwuler sowie männlicher und weiblicher Drogengebraucher, Hämophiler und Migranten traumatisiert. Statt optimistischer Zukunftsplanung wurden Sterben, Trauer und Gedenken notgedrungen unsere Themen.
Inzwischen hat sich die Realität des Lebens mit HIV im Vergleich zum „Jahrzehnt des Todes“ verändert. Wirksame Medikamente ermöglichen vielen ein weit „normaleres“ Leben, als noch vor 15 Jahren denkbar schien. Selbst eine Heilung scheint inzwischen denkbar. Aids-Organisationen feiern ihr 30-jähriges Bestehen, so auch die Deutsche AIDS-Hilfe in diesem Jahr. Aids ist in der Phase der geschichtlichen Aufarbeitung angekommen – Veranstaltungen befassen sich bereits rückblickend mit Aids und Aids-Aktivismus.
Aber trifft die These „HIV ist doch durch…“ wirklich zu? Oder geht sie mutig an der Wahrheit vorbei? Welche Perspektiven ergeben sich für die Zukunft? Werfen wir beispielhaft einen Blick auf vier Themen.
ACT UP in Deutschland – das hieß zahlreiche lokale und lokal agierende Gruppe, die sich regelmäßig unter einander abstimmten und Aktionen koordinierten.
Dies ist der zweite Teil der Mini-Serie Ullis ACT UP Erinnerungen. Im ersten Teil habe ich über die Entstehung von ACT UP in Deutschland geschrieben.
ACT UP in Deutschland
ACT UP – das waren (wie in den USA so auch in (West-) Deutschland) lokale, von einander unabhängige Gruppen, die aber obwohl unabhängig von einander, mit einander kooperierten und sich koordinierten. Die sowohl lokale Aktionen durchführten, als auch gemeinsame deutschlandweit koordinierte Aktionen.
ACT UP – Gruppen gab es m.W. (laut einer Adressenliste in meinem Kalender 1992) in folgenden Städten:
Im Februar 1992 nennt die Traueranzeige für den am 13.2.1992 verstorbenen Andreas Salmen für ACT UP in Deutschland sieben Gruppen : Berlin – Köln – Hamburg – Frankfurt – München – Dortmund – Nürnberg.
ACT UP in Deutschland – lokal und koordiniert
Die lokalen ACT UP Gruppen in Deutschland trafen sich regelmäßig, um Erfahrungen auszutauschen, Themen und Aktionen zu koordinieren oder gemeinsame bundesweite Aktionen zu planen. Oder ganz banal über die Finanzierung unserer Aktionen zu sprechen (und einige der dafür zentralen ACT UP T-Shirts zu planen, bestellen und auf die Gruppen zu verteilen).
Zahlreiche dieser ‚Bundesweiten ACT UP Treffen‘ fanden im Waldschlößchen statt (mindestens 4, für das 5. Treffen finde ich den Termin eines Vorbereitungstreffens, nicht jedoch des Treffens selbst), weitere bei einzelnen Gruppen als Gastgeber. Aus meinen Kalendern lassen sich folgende Bundesweite ACT UP Treffen ermitteln:
ACT UP bundesweites Treffen in Köln, 9. – 11. November 1990
2. Bundesweites ACT UP Treffen im Waldschlößchen, Treffen 15.-17.2.1991
ACT UP bundesweites Treffen in Frankfurt, 30. August -1. September 1991
3. Bundesweites ACT UP Treffen im Waldschlößchen, Treffen 14.-18.10.1991
ACT UP bundesweites Treffen in Berlin, 22. – 24. November 1991
ACT UP bundesweites Treffen der Arbeitsgruppe ‚Treatment‘ in Hamburg, 6. – 8. Dezember 1991
4. Bundesweites ACT UP Treffen im Waldschlößchen, 14.-16.2.1992
ACT UP bundesweites Treffen in Dortmund, 1. – 3. Mai 1992
‚Mourning and Militancy‘ (Teilnahme zahlreicher ACT UP Mitglieder), Waldschlößchen 29. – 31. Januar 1993
Immer wieder wurde auf den Treffen auch deutlich, dass ACT UP vielfältig ist, verschiedene Sichtweisen hat, keine festgefügte Gruppe mit einheitlicher Meinung und Ideologie ist (und auch der Begriff ‚Mitglieder‘ eigentlich nicht zutreffend ist, es gab keine Mitgliedschaft). So konnten wir uns wunderbar und zutiefst streiten. Ich erinnere mich an lange erregte Debatten u.a. mit Andreas Salmen, ob Schwule „sich doch immer noch verantwortungslos verhalten in der Aids-Krise“, und wie wir damit umgehen. Nein, wir hatten oft keine einheitliche Meinung – aber wir fanden oft zu gemeinsamen Aktionen. Auch das machte unsere (zeitweise) Stärke aus.
Die Treffen reichten über Koordination und Austausch weit hinaus. Wir absolvierten auf diesen Treffen z.B. Trainings zur Vorbereitung auf unsere Aktionen, Trainings die wir selbst organisierten und meist im ‚Waldschlößchen‘ durchführten. Zu denen wir uns Referentinnen selbst aus den USA einluden, wie z.B. ein Training, in dessen Mittelpunkt Gewaltfreiheit stand, sowohl ‚wie verhalte ich mich bei Aktionen gewaltfrei‘, als auch besonders ‚wie gehe ich damit um, wenn mir von außen bei Aktionen Gewalt begegnet?‘ (Paula, Training „non-violent action“, Waldschlößchen, ca. 1991) [Zu ‚gewaltfreier Aktion‘ siehe auch Beitrag über Gene Sharp: Die Macht-Frage].
Und Koordination bedeutete auch: wir erstellten zu nahezu allen größeren Aktionen vorab umfangreiche Dokumentationen. Dokumentationen, die eine breite Material-Sammlung umfassten, sowie eine Auswertung dieser Quellen, Analyse und daraus Entwicklung und Begründung unserer Forderungen. Diese Dokumentationen erweisen sich als bedeutendes Werkzeug, unsere Aktionen und Forderungen in die Medien zu bekommen, eine intensivere und tiefergehende Berichterstattung zu erreichen.
Über die (internen) Treffen hinaus waren ACT UP Mitglieder immer wieder auch auf den Bundesweiten Positiventreffen im Waldschlößchen präsent (ich selbst z.B. im April 1992) sowie auf Aids-Kongressen (wie z.B. der Welt-Aids-Konferenz 1992 in Amsterdam).
ACT UP – in Europa
Die Koordination unserer Aktivitäten ging über den deutschen Raum hinaus. ACT UP Gruppe waren auch in anderen europäischen Staaten entstanden, so u.a. in Frankreich (Paris), den Niederlanden (Amsterdam) und Belgien (Brüssel). Und trafen sich (u.a. kann ich mich an Treffen in Paris und Brüssel erinnern), um ihre Aktionen europaweit abzustimmen und soweit sinnvoll und möglich zu koordinieren.
Aus meinen Kalendern lassen sich folgende ACT UP Europa Treffen ermitteln:
ACT UP Europa Treffen in Brüssel, 21.4.1991
ACT UP Europa Treffen in Brüssel, 20. – 22.9.1991
ACT UP Europa Treffen in Paris, 10. – 12.1.1992
ACT UP Europa Treffen in Amsterdam, 10. – 12.4.1992
Neben ihren lokalen Aktionen und Themen führten die ACT UP Gruppen in Deutschland auch zahlreiche gemeinsame koordinierte Aktionen durch, unter anderem:
1993, nach der Welt-Aids-Konferenz in Berlin, war für ACT UP in Deutschland „die Luft im Wesentlichen raus„, wie Corinna Gekeler (u.a. ACT UP Amsterdam) 2012 bemerkte – doch dazu später mehr …
Diese kleine Mini-Serie bildet nur meine persönlichen Erinnerungen an meine ACT UP Zeit ab. Ich freue mich sehr über Anmerkungen, Korrekturen, Ergänzungen – ob per Kommentar oder persönlicher Nachricht!
Am 9. Februar 2003 starb Frank Rauenbusch (vormals Frank Schwarz) an den Folgen von Aids. Frank wurde am 1. August 1968 geboren. Frank war Weggefährte seit Zeiten von ACT UP. Er war später wesentlich am Entstehen der Email-Diskussionsliste „HIVTherapie“ und des ersten Internetauftritts der ‚HIV Nachrichten‚ beteiligt. In den HIV Nachrichten Nr. 66 März 2003 erinnerte ich so an ihn:
Frank Rauenbusch †
Am 9. Februar 2003 starb in Nürnberg Frank Rauenbusch geb. Schwarz an den Folgen von AIDS.
Frank bezeichnete sich selbst als „Computer – Freak“. Er war einer der ersten schwulen „Elektroniker“. Einer der ersten, die die Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation, von Mailboxen, Chat und später Internet sehr früh erkannten. Und diese (in ihren Anfängen ja sehr „hetero“-) Techniken für Schwule und später für Positive nutzbar machten. So gründete Frank u.a. das schwule Mailbox-System ManBox, das noch bis weit in die Zeiten des Internets weiterlebte www.manbox.com.
Ich lernte Frank kennen in, wie er einmal schrieb, „guten alten Tagen von ACT UP“. Frank war maßgeblich an ACT UP Nürnberg und bundesweiten ACT UP – Aktionen beteiligt, das „Highlight“ waren sicher die ACT UP Proteste im Dom zu Fulda.
Nach den ACT UP – Tagen arbeitet Frank überwiegend in Nürnberger Zusammenhängen, insbes. auch in der Nürnberger AIDS-Hilfe. Dort war er von 1991 bis 1994 im Vorstand, und organisierte unter anderem z.B. den regionalen Positiven-Ratgeber. Viele Positive kennen ihn auch von Positiventreffen (und z.B. seinen Workshops „Internet für Einsteiger“) oder seinen Besuchen auf den Münchner AIDS-Tagen.
Aber auch AIDS im Internet war ein Thema, bei dem Frank viel bewegte. Die HIV Nachrichten hätten sich ohne Frank anders entwickelt. Die erste Website der HIV Nachrichten war weitestgehend sein Produkt, mit auf seine Anregung entstanden und von ihm realisiert. Auch zum Start des AIDSfinders www.aidsfinder.org trug Frank mit seinen Internet- und Computerkenntnissen wesentlich bei. Und die Email-Diskussionsliste „HIVTherapie“ gründete Frank zusammen mit mir 1997. Inzwischen sind auf dieser Liste mehrere Hundert Positive Mitglied und diskutieren über Fragen ihrer HIV-Therapie.
Ich bin sehr traurig, einen langjährigen Wegbegleiter verloren zu haben. Franks Rat, seine Erfahrung, seine Kritik und konstruktiven Vorschläge werden mir sehr fehlen, noch mehr sein Lachen, sein Optimismus.
In Gedanken bin ich auch bei seinem langjährigen Freund und Mann und Franks Freunden und Familie.
2010 jährt sich zum 65. Mal die Befreiung vom Faschismus. Ein weniger bekanntes Kapitel im System der NS-Herrschaft und des Terrors ist die Beteiligung von Medizinern an Verfolgung und Vernichtung. Ihre zumindest ansatzweise juristische Aufarbeitung führte zu einem der wesentlichen Grundlagen des Schutzes von Patienteninteressen, dem Nürnberger Codex.
Ärzte spielten eine bedeutende Rolle im Verfolgungs- und Vernichtungs-Apparat der NS-Diktatur, so auch bei der Vernichtung von Juden, Roma und Sinti, psychisch Kranken oder der Verfolgung und Unterdrückung von Homosexuellen. Die Bedeutung von Ärzten in der NS-Rasse- und Vernichtungspolitik wird durch Zitate wie dieses deutlich:
“Ratten, Wanzen und Flöhe sind auch Naturerscheinungen, ebenso wie die Zigeuner und Juden. Sie sind daher gleichfalls gottgewollte Wesen, aber man kann sie ebensowenig durch rücksichtsvolle Behandlung bessern oder beim zusammenleben von uns fernhalten wie entartete Asoziale und unnormal ichsüchtige, kriminell-hemmungslose Menschen. Alles Leben ist Kampf. Wir müssen deshalb alle diese Schädlinge biologisch allmählich ausmerzen.”
Dr. Kurt Hannemann, in “Ziel und Weg” Nr. 9 / 1939, Organ des Nationalsozialistischen Ärztebundes; zitiert nach Bastian / Homosexuelle im Dritten Reich
Eines der wichtigsten Zentren der NS-Ideologie im Medizin-Betrieb: die am 1. Juni 1935 eingeweihte “NS-Ärzteschule” (“Führerschule der deutschen Ärzteschaft”) in Alt Rehse, heute zur Stadt Penzlin in Mecklenburg-Vorpommern gehörend. Etwa 40.000 Ärzte und medizinisches Personal wurden hier in einem ehemaligen Rittergut von 1935 bis 1943 (ab 1941 überwiegend Reserve-Lazarett) entsprechend der NS-Ideologie medizinisch ‘weitergebildet’. Darunter auch Ärzte, die später in Konzentrationslager Menschenversuche vornahmen, Ärzte die in Behörden über “lebensunwertes Leben” urteilten, Ärzte die Menschen in die Vernichtung schickten.
Auf dem Gelände und in Gebäuden der ehemaligen “NS-Ärzteschule” befindet sich nach langem Leerstand seit 2006 der “Tollense Lebenspark”. Im Gutshaus Alt-Rehse erinnert die Ausstellung “Alt Rehse und der gebrochene Eid des Hippokrates” des ‘Vereins für die Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse e. V.’ an die Geschichte des Orts.
Nach 1945 hatten viele Mediziner eine einfache Begründung für ihr kritikloses, teils bedingungs- und gnadenloses Engagement im und für das NS-System. Klar zum Ausdruck brachte dies zum Beispiel Karl Gebhardt, Oberster SS-Arzt, 1946 im Nürnberger Ärzte-Prozess [vgl. Memorium Nürnberger Prozesse] :
“So hat mir… das Dritte Reich … auf ärztlichem Gebiet eine große Chance gegeben. Ich habe sie genutzt.”
Gebhardt wurde in dem Prozess zum Tod verurteilt und hingerichtet. Viele Ärzte hingegen, die in KZs, Kliniken und Heilanstalten arbeiteten und gegen das Gebot der Menschlichkeit verstießen, an Verfolgung, Unterdrückung, Vernichtung beteiligt waren, wurden juristisch nicht belangt. Die meisten arbeiteten nach 1945 unbehelligt weiter, so auch Carl-Heinz Rodenberg und Carl Vaernet.
Der Nürnberger Ärzteprozess, in dem zwischen dem 9. Dezember 1946 und dem 20. August 1947 zumindest 20 KZ-Ärzte vor Gericht standen, brachte einen bedeutenden Fortschritt, nicht nur juristisch, sondern auch für Patient/innenrechte: Dem Urteil des Nürnberger Ärzte-Prozesses voran gestellt war der “Nürnberger Codex” (“Stellungnahme des I. Amerikanischen Militärgerichtshofes über “zulässige medizinische Versuche”), der u.a. zu medizinischen Versuchen an Menschen festlegt:
„Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. Das heißt, dass die betreffende Person im juristischen Sinne fähig sein muss, ihre Einwilligung zu geben; dass sie in der Lage sein muss, unbeeinflusst durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen; dass sie das betreffende Gebiet in seinen Einzelheiten hinreichend kennen und verstehen muss, um eine verständige und informierte Entscheidung treffen zu können.“.
Der Nürnberger Kodex gehört seitdem zu den ethischen Grundlagen der Ausbildung von Medizinern – und ist eine der wesentlichen Grundlagen des Schutzes von Patienten.
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Der Tollense Lebenspark musste 2015 das Gelände nach einem Gerichturteil verlassen. Erneut müssen Investoren gesucht werden.
2017 hieß es, auf dem 2016 erworbenen Gelände sei ein Hotel mit Meditationszentrum in Planung. 2021 war von der Schaffung eines Luxushotels die Rede.
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weitere Informationen: wikipedia: Liste von NS-Ärzten und Beteiligten an NS-Medizin IPPNW Nürnberg – Erlangen Fürth: Nünberger Kodex 1997 Evelyn Hauenstein: Ärzte im Dritten Reich – Weiße Kittel mit braunen Kragen Tollense Lebenspark: Die Geschichte des Tollense Lebensparks ns-eugenik.de (dort -> Die Führerschule in Alt Rehse) Politische Memoriale Mecklenburg-Vorpommern e.V.: Alt Rehse/ Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse
Im Konzentrationslager Buchenwald stellte der dänische KZ-Arzt Carl Vaernet Experimente mit Homosexuellen an. Nach 1945 wurde Værnet für seine Taten nicht zur Verantwortung gezogen.
Die Emslandlager (u.a. Esterwegen, Börgermoor und insbesondere Neusustrum) stehen für die Region, in der vermutlich die meisten Homosexuellen im Deutschen Reich inhaftiert waren (Hoffschild 1999). Buchenwald hingegen steht u.a. für eine besonders abscheuliche Form der Misshandlung Homosexueller in der NS-Zeit.
In Buchenwald war nur ein vergleichsweise geringer Anteil der Inhaftierten Homosexuelle (Statistiken sprechen von ca. 500 Homosexuellen unter den insgesamt ca. 240.000 Menschen, von denen ca. 56.000 umkamen). Aber Buchenwald hatte Carl Værnet. Den Arzt, der in Buchenwald Versuche mit Homosexuellen anstellte – der ihnen ‚künstliche Hormondrüsen‚ implantierte, um sie von ihrer Homosexualität zu ‚heilen‘.
Carl Vaernet und die ‚Hormontherapie‘
Carl Værnet wurde am 28. April 1893 als Carl Peter Jensen im kleinen Ort Løjenkær nahe Århus geboren. Er beendete sein Medizinstudium in Kopenhagen im Juni 1923 mit der Bewertung „cum laude“. Kurz zuvor, am 21. November 1921, hatte er die Änderung seines Namens von Jensen in Værnet beantragt (dänisch værne etwa schützen, verteidigen, wehren). Im November 1924 ließ Værnet sich als praktischer Arzt nieder. Er widmete sich u.a. der ‚Kurzwellentherapie‘, baute eine zunächst gut florierende Praxis auf.
Bereits in seiner medizinischen Ausbildung kam Værnet mit Hormonexperimenten in Kontakt. Am Kopenhagener Kommunehospital führte Dr. Knut Sand 1923 bei vier Homosexuellen Hodentransplantationen durch – mit dem Ziel, dass diese sich anschließend vom weiblichen Geschlecht angezogen fühlen sollten. Sand vertrat die Auffassung, Homosexualität könne durch eine gestörte Hormonbalance erklärt werden. Værnet interessierte sich schon bald für Fragen der Hormone, insbesondere der Hypophyse sowie der Keimdrüsen.
1932 lernte Værnet bei einer Reise nach Berlin u.a. auch Magnus Hirschfeld und dessen Institut für Sexualwissenschaften kennen. Später äußerte er, hier bei Hirschfeld sei die Grundlage zu seinem ‚Lebenswerk‘ künstliche Hormondrüse entstanden, und zur These Homosexualität könne durch zusätzliche Gabe von Testosteron geheilt werden.
Værnet begann 1934 mit eigenen Forschungsarbeiten, bis 1938 an Mäusen, und entwickelte eine ‚künstliche Drüse‘, eine Kapsel, die in der Leistengegend eingesetzt und kontinuierlich Hormon abgeben sollte.
Carl Vaernet und die Experimente an Homosexuellen im KZ Buchenwald
1941 wurde Værnet, inzwischen Mitglied der dänischen Nazi-Partei DNSAP, von ‚Reichsgesundheitsführer‘ Dr. Leonhard Conti nach Deutschland eingeladen. Im Sommer 1943 – Værnet war u.a. aufgrund von Ermittlungen wegen unberechtigter Abgabe von Morphium an eine Patientin unter Druck – verkaufte er seine Kopenhagener Klinik an die deutsche Wehrmacht. Mit Passierschein der deutschen Wehrmachtskommandantur reisten Værnet und Familie am 6. Oktober 1943 in einer deutschen Militärmaschine nach Berlin aus.
In Deutschland erhalte er, so hatte ihm der Reichsarzt SS Dr. Ernst Grawitz (General der Waffen-SS mit ständigem Kontakt zum Innenminister und ‚Reichsführer SS‘ Heinrich Himmler) versprochen, alle für seine Forschungen erforderliche Unterstützung.
„Dr. V. bitte ich absolut großzügig zu behandeln. Ich selbst möchte monatlich einen 3-4 Seiten langen Bericht, da ich mich für die Dinge sehr interessiere. Zu einem späteren Zeitpunkt möchte ich Vaernet dann auch einmal zu mir bitten.“
Geheimbefehl von Grawitz, 15.11.1943, zitiert nach Stümke / Homosexuelle in Deutschand sowie Günter Grau / Homosexualität in der NS-Zeit
Vaernet erhielt zudem die Zusicherung, dass ihm „in den Konzentrationslagern Häftlinge zur Verfügung gestellt werden“ (zitiert nach Stümke). Dafür verpflichtete er sich, der SS „die alleinige wirtschaftliche Nutzung im In- und Ausland im Lizenzweg zu überlassen„.
Bald schon konnte Værnet Himmler persönlich über seine ‚Forschungen‘ informieren und fand auch aufgrund seiner Hinweise auf die Möglichkeit einer Heilung von Homosexualität interessierte Zustimmung. Nach dem er eingewiligt hatte in den Rang eines ‚Sturmbannführers SS‘ und nach Abschluss eines Vertrages mit der SS konnte Værnet bald seine als ‚geheim‘ titulierte und von der SS großzügig honorierte Arbeit aufnehmen, in Berlin und ab November 1943 in Prag in Laboratorien die überwiegend der SS gehörten (Deutsche Heilmittel GmbH). 1944 wurde Værnet angeboten, Versuche zu Hormonausscheidungen und Hormongaben an verschiedenen Gruppen von (oft aufgrund von Paragraph 175 verfolgten) Homosexuellen zu machen. Im Konzentrationslager Buchenwald.
Zu diesem Zeitpunkt betrachtete Vaernet die Entwicklung seiner ‚künstlichen Hormondrüse‘ als technisch weitgehend abgeschlossen – konkrete Versuche zum Nachweis ihrer Wirksamkeit standen nun an. Die weltweiten Patentrechte an Værnets ‚künstlicher Hormondrüse‘ hielt eine am 5.5.1943 gegründete dänische Firma.
Værnet ergriff die Chance, die sich ihm bot. Versuche mit seiner künstlichen Drüse an KZ-Häftlingen, mit dem Ziel dass diese durch die Einpflanzung ’sexuell normal‘ werden – die Chance, auf die er gewartet hatte. Solche Versuche waren wohl nur in Konzentrationslagern möglich – und konnten dort auch ohne Zustimmung der Betroffenen problemlos erfolgen.
Mindestens viermal hielt sich Værnet 1944 in Buchenwald auf (erstmals am 26.7.1944). Dabei operierte er 17 Männer zwischen 23 und 60 Jahren, 7 ‚Sittlichkeitsverbrecher‘ sowie 10 Homosexuelle. Die erste Operations-Serie fand am 16.September 1944 statt, die zweite am 8. Dezember. Die Versuche sollten u.a. dazu dienen, die ‚Erhaltungsdosis‘ zu bestimmen, und die prinzipielle Wirksamkeit zu prüfen.
Den ‚Probanden‘ wurden subkutan im rechten unteren Bauchbereich unter örtlicher Betäubung eine ‚künstliche Drüse‘ implantiert, die von da an Testosteron abgeben sollte. In der Folgezeit sollte gemessen werden, ob sich sexuelles Verhalten und sexuelle Orientierung wie gewünscht verändern. Den Homosexuellen, an denen die Versuche durchgeführt wurden, wurde bei erfolgreichem Verlauf die Freilassung versprochen. Ein Versprechen, das in keinen einzigen Fall erfüllt wurde. Bei zwei der Operierten besteht eine mögliche Verbindung zwischen der Operation und ihrem baldigen Tod.
In Buchenwald arbeitete Værnet eng zusammen mit Dr. Schiedlausky, Standort-Arzt der Waffen-SS, sowie mit Dr. Erwin Ding. In Buchenwald wurden Homosexuelle häufig als Versuchspersonen für zahlreiche medizinische Experimente genutzt – u.a. auch für die berüchtigten Versuche Dr. Dings mit der tödlichen Infektionskrankheit Flecktyphus. Værnet selbst berichtete am 10. Februar 1945 Heinrich Himmler über seine Arbeiten und legte einen abschließenden Bericht vor (den er diesem widmete ‚in tiefster Bewunderung und unverbrüchlicher Treue‚). Von Grawitz erhielt er erneut finanzielle Mittel für die Fortsetzung seiner Arbeiten.
Carl Vaernet – nach 1945 nicht belangt
Nach 1945 wurde Værnet für seine Taten nicht zur Verantwortung gezogen. Im Rahmen der sog. ‚Ärzteprozesse‘ des Amerikanischen Militärtribunals in Nürnberg [vgl. Memorium Nürnberger Prozesse] wurden seine Versuche in Buchenwald zwar mehrfach angesprochen, er selbst jedoch nicht angeklagt.
Bekannt wurden Værnets Versuche in Buchenwald schon bald nach dem Krieg. Ernst Kogon, selbst dort als politischer Gefangener, schildert die Versuche in Buchenwald schon 1946 in seinem Buch „Der SS-Staat“. Und ab 1947 tauchten Berichte über Værnets Versuche in Buchenwald in der dänischen Presse auf.
Værnet war schon in den letzten Kriegsmonaten (im März 1945) nach Dänemark zurückgekehrt. Spätestens seit Ende 1945 arbeitet er wieder an seinem ‚Lebenswerk‘, der künstlichen Hormondrüse, trat in Kontakt mit Pharmaunternehmen (u.a. Schering und DuPont) und erhielt dänische und US-Patentrechte. Aufgrund zahlreicher Zeugenaussagen sowie Berichten des dänischen Widerstands ermittelte die dänische Polizei bald gegen ihn. Doch mit wenig Nachdruck, auch wenn Anfang 1946 schließlich die Anklageerhebung wegen ‚Landesverrats und anderer staatsgefährdender Tätigkeiten‘ erfolgte. Schlimmer noch, Værnet gelang (u.a. mit Unterstützung des argentinischen Legationsrats Pineyro) Ende 1946 die Flucht aus Dänemark. Über Schweden konnte er nach Brasilien und im Sommer 1947 weiter nach Argentinien gelangen. Dort arbeitet er schon bald wieder am Physiologischen Institut.
Carl Vaernet starb am 25. November 1965 und ist gemeinsam mit seiner Frau Gurli auf dem Británico-Friedhof in Buenos Aires begraben.
Erst im März 1998 brachten Peter Tatchel und die britische Schwulengruppe OutRage! Bewegung in die Causa Værnet. Sie richteten ein Schreiben an den damaligen dänischen Ministerpräsidenten Poul Nyrup Rasmussen, in dem sie in zahlreichen konkreten Fragen um Aufklärung über Flucht und (fehlende) Schritte der dänischen Regierung baten. Zwar reagierte das dänische Justizministerium erst eineinhalb Jahre später (am 6. Juli 1999), und mit der abschlägigen Mitteilung, man sei „nicht im Besitz irgendwelcher Informationen über Carl Værnet“. Dennoch wurden die Archive in Sachen Værnet geöffnet – und bildeten die Grundlage für das äußerst lesenswerte Buch von Davidsen-Nielsen (s.u.).
Værnets ‚Versuche‘ sind weit mehr als ’nur‘ gruselige Experimente an einer kleinen Zahl homosexueller Männer, die deren Schädigung bewusst mit einschlossen. Sie sind Ausdruck einer Haltung, Menschen von Homosexualität heilen zu wollen, zu müssen – und sie haben bewusst „Spekulationen der Nazi-Führung von einer ‚Endlösung‘ der Homosexuellenfrage befördert“ [Davidsen-Nielsen]. Værnets Versuche waren ebenso wie Sterilisationen und Kastrationen Teil einer (insbesondere auch in der Homophobie Himmlers zum Ausdruck kommenden) Terrorpolitik gegen Homosexuelle.
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