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zero patience – ein politisches Aids Musical (1993)

Zuletzt aktualisiert am 30. November 2022 von Ulrich Würdemann

‚Zero Patience‘, einer der wohl bemerkenswertesten Aids-Filme mindestens der 1990er Jahre, hatte am 11. September 1993 sein offizielles Debut auf dem ‚Festival of Festivals‘ im kanadischen Toronto. Gelassenheit und Ironie, das zeigt das Aids-Musical ‚Zero Patience‘, war auch zu schlimmsten Zeiten der Aidskrise möglich.

Ist Geduld eine Tugend? Oder wollen wir Sünder in der Hölle sein? Und kann man über Aids ein Musical drehen, gar mitten in der Aidskrise Anfang der 1990er Jahre? Am Schluss des kanadischen Films ‚Zero Patience‚ mag man sich diese Frage vielleicht neu stellen.

5 – 4 – 3 – 2 – 1 – zero patience

Der Titel Zero Patience spielt bewusst mit der (besonders von Randy Shilts propagierten) ‚urban legend‚ des ‚patient zero‚ – jenes kanadischen Flugbegleiters, der als ‚Index-Patient‘ vermeintlich Auslöser der HIV-Epidemie in den USA sein sollte (siehe unten).

Zero Patience (1993, div. Medien)
Zero Patience (1993, div. Medien)

Zero Patience erzählt die Geschichte des nach Besuch eines Jungbrunnens aus der Zeit gefallenen, in Toronto lebenden Sexologen Richard Francis Burton. Burton hat eine Romanze mit dem Geist von Zero (der im Film nicht als Gaetan Dugas bezeichnet wird). Sowohl Zeros Mutter, sein Arzt aber auch frühere Kollegen weigern sich allerdings, Zero zum Dämonen zu stilisieren – so dass Burton sich gezwungen sieht der Dämonisierung nachzuhelfen …

Was ist real, was verschwindet? Wer und was ist begehrenswert, was „out“ ? Was verschwindet, was bleibt? Und – wie funktionieren Diskriminierung und Stigmatisierung? Wie wird Schuld konstruiert?

from the beginning Aids was … an epidemic of blame

heißt es im Film, und das dauert bis heute an, mag man / frau im Stillen denken.

„And he died. Lonely. Angry and alone, because we were just too scared.“
(Und er starb. Einsam. Wütend und allein, nur weil wir zu viel Angst hatten.“

Zero Patience ist übervoll an skrilen, burlesken, überdrehten, quirligen und doch oft hintergründigen Szenen  und Ideen. Zu sehen und lernen gibt es, was ein ‚charity fuck‚ ist, was contagious (ansteckend) bedeutet, wie man Schnarchen überlebt (I’ll survive – oder doch nicht?), immer wieder Spannendes über die afrikanische Meerkatze, Liebe und Mythen, sich unterhaltende Rosetten, was alles auf die Agenda von ACT UP muss, Medizin die umbringen kann, Safer Sex, Fakten und Manipulationen, Schlampen und schwulen Sex, Nachtarbeit und gute Freunde, gute Absichten und die Folgen, sechs oder sieben wichtige Worte  – und einiges über Schuld, Unschuld  und Spaß … und warum es auf was ankommt.

Zero Patience – ein (zudem höchst unterhaltsames) politisches Musical, und inzwischen längst auch ein aufschlussreiches Zeit-Dokument.

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zero patience – ein subversives politisches Musical

Filme wie ‚zero patience‚ oder Magazine wie die großartigen ‚diseased pariah news‚ zeigen, es war auch in den ‚dunklen Jahren der Aids-Krise‘, auch vor der Verfügbarkeit hochwirksamer Kombinationstherapien, auch vor EKAF-Statement und Nicht -Infektiosität möglich, Aids und das Leben mit HIV anders als weinerlich und mit wahlweise Schuld- oder Opferblick zu betrachten.

poz and proud“ oder „serofièr„, ‚positiven Stolz‚, hier kann man ihn erleben – und zwar 1993 (bemerkenswert, nebenbei, dass deutsche Begrifflichkeiten hierfür schwer fallen, sperrig wirken).

Lebensfreude, Sarkasmus und Ironie, Gelassenheit, all das war auch 1993 (immerhin weit vor den hochwirksamen Kombinationstherapien) und auch, gerade auch mit Aids möglich.

Wenn es selbst damals möglich war, warum fällt es dann heute immer noch so schwer?

Und das alles u.a. mit dem großartigen Michael Callen (1955 – 1993), den ich glücklicherweise kennenlernen durfte, ein selten sexy und spannender Mann, politisch, selbstbewusst, positiv – eine damals sehr seltene Kombination, die ich sehr mag. Ein Singer / Songwriter, Aids-Aktivist (siehe ‚How to have sex in an epidemic‚) und damals schon HIV-Langzeit-Überlebender, im Film zu sehen und hören unter dem Mikroskop – als Miss HIV herself.

Gaetan Dugas – Der Mythos vom Patient Zero

Gaetan Dugas hat vielen Menschen den Tod gebracht“ – der Arzt und ‚Journalist‘ Hans Halter formuliert 1987 anklagend und reisserisch. Ein kandischer Flugbegleiter habe, so wärmt Halter eine zuvor bereits von Randy Shilts aufgestellte Behauptung auf, HIV durch sein ausschweifendes Sexleben verbreitet und sei Auslöser der HIV-Epidemie in den USA.

Halters sexfeindlicher, diskriminierender und stigmatisierender Artikel trug massiv dazu bei, einen Mythos zu schaffen und zu verbreiten, den des ‚patient zero‚ (der Null- oder Index-Patient) bei dem die Epidemie in den USA ihren Ausganspunkt habe.

Der Mythos des ‚patient zero‚ ist längst widerlegt. Dennoch ist er weiterhin in den Köpfen, prägt Bilder und Vorurteile, ist Hintergrund von Stigmatisierung von Sexualität und Lebensstil schwuler Männer.

Und der so genannte Medizinjournalist Halter hat sich nie für seine haltlosen reisserischen, diskriminierenden und „an die Grenze der Hetze reichenden“ (DAH) Formulierungen in seinen  zahlreichen Artikeln über Aids entschuldigt.

In Zero Patience allerdings hat John Greyson auf seine Art eine würdige Form der Auseinandersetzung mit der urban legend des Patient Zero gefunden …

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Zero Patience

Musical-Film, Kanada 1993
Regie John Greyson
Darsteller u.a. John Robinson, Normand Fauteux, Dianne Heatherington, Richardo Keens-Douglas, Michael Callen
Uraufführung 11. September 1993 auf dem Toronto International Film Festival (TIFF; damals Toronto Festival of Festivals)
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Miss you, Michael

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Video: Michael Callen 1993 auf HBO im Interview

Von Ulrich Würdemann

einer der beiden 2mecs.
Schwulenbewegt, Aids- und Therapie-Aktivist. Von 2005 bis 2012 Herausgeber www.ondamaris.de Ulli ist Frankreich-Liebhaber & Bordeaux- / Lacanau-Fan.
Mehr unter 2mecs -> Ulli -> Biographisches

3 Antworten auf „zero patience – ein politisches Aids Musical (1993)“

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